Zeh | Alles auf dem Rasen | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 304 Seiten

Zeh Alles auf dem Rasen

Kein Roman
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-641-24269-5
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Kein Roman

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

ISBN: 978-3-641-24269-5
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Pointiert, humorvoll, hintergründig …

Gibt es eine Demokratie ohne Nebenwirkungen? Finden sich auf dem Europäischen Markt noch Tabus made in Germany? Warum langweilt uns die Pornographie? Kann man schreiben lernen, hat die Literatur noch etwas zu erzählen, und worin liegt der psychologische Nutzen von Altpapier? Juli Zeh, eine der spannendsten und erfolgreichsten Autorinnen ihrer Generation meldet sich mit intelligenten, provokanten und amüsanten Essays zu Wort.

Ausgezeichnet mit dem Per-Olov-Enquist-Preis.
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Autoren/Hrsg.


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Das Prinzip Gregor

Früher gab es Gregor. Auf die Frage, was er an seinem Studium der Betriebswirtschaft gut finde, pflegte er zu antworten: Ich will eine goldene Kreditkarte mit meinem Namen darauf und einen Porsche 911 mit einer blonden Frau auf dem Beifahrersitz.

Das Prinzip Gregor war in der kleinen Universitätsstadt stark verbreitet. Seine Anhänger waren notorisch gut gekleidet und schon vor Markttauglichkeit des ersten Mobiltelephons in der Lage, jedes Kaffeehaus in das Büro einer Unternehmensberatung zu verwandeln, indem sie sich einfach nur hinsetzten. Es war nicht schwierig, Gregor unerträglich zu finden. Ein materialistischer Mensch in einer materialistischen Welt, ohne Begeisterung, ohne Ideen und Werte. Wenigstens machte er kein Hehl aus seinem umfassenden Desinteresse gegenüber Dingen, deren monetärer Gegenwert im Unklaren liegt.

Zum Prinzip Gregor gehörte auch Füsser. Er war die andere Seite, ohne die keine Medaille existieren kann. Füsser wusste nicht, ob er sein Philosophiestudium der Wissenschaft zuliebe in Tübingen beginnen sollte oder wegen des Biers in Köln. Seine Bücher bewahrte er in Haufen auf dem Boden auf, weil er in Regalen nichts wiederfand. Füssers Freunde waren zu dick oder zu dünn und mochten Geld, wenn es in einen Zigarettenautomaten passte. Das geisteswissenschaftliche Studium betrachteten sie als perfekte Vorbereitung auf die Arbeitslosigkeit. Man lernte von Anfang an, mit freier Zeiteinteilung, innerer Leere und sozialer Degradierung zurechtzukommen.

Gregor und Füsser begegneten sich nie, weil der eine aufstand, wenn der andere zu Bett ging; die Natur hatte ihnen unterschiedliche Lebensräume geschaffen. Trotzdem ähnelten sie sich wie die entgegengesetzten Enden einer Fahnenstange. Beide begehrten auf unterschiedliche Weise dieselbe Sache: Gregor die Anwesenheit, Füsser die Abwesenheit von möglichst viel Geld.

Nina und Nele waren mit beiden befreundet. Sie studierten Jura, weil man damit »alles Mögliche« machen kann, und Geld war ihnen egal, solange die Rotweinbestände gut gefüllt und Secondhandläden samstags bis sechzehn Uhr geöffnet waren. Aus purem Interesse lernten Nina und Nele drei Sprachen, belegten Doppel-, Zweit- und Aufbaustudiengänge, absolvierten Praktika in den globalen Machtzentren der Welt und sprachen auf Partys über die Osterweiterung der EU. Meisterhaft täuschten sie sich selbst und ihre Eltern darüber hinweg, dass die Paradeausbildung nicht auf eine Berufswahl hinauslief.

Nina und Nele fanden Gregor und Füsser rührend: Angehörige einer Gattung, die noch nicht weiß, dass sie vom Aussterben bedroht ist. Sie selbst nämlich waren Prophetinnen eines neuen Zeitalters. Sie konnten mit oder ohne viel Geld leben, weil sie sich selbst und ihre Umgebung über andere Dinge definierten. Ihre Lieblingssätze lauteten: Geld macht nicht glücklich. Zweitens: Glück macht nicht satt. Drittens: Denkt an unsere Worte.

Ein paar Dinge hatten sie alle gemeinsam. Sie sollten es im Leben besser haben als ihre Eltern und wurden gleichzeitig wegen Anspruchsdenken und Wohlstandskindertum verunglimpft. Sie waren hochintelligent, überdurchschnittlich begabt, körperlich bei Kräften, kurz: Musterbeispiele künftiger Leistungsträger, Hoffnungsschimmer einer gerade wiedervereinigten Republik. Orientierungslosigkeit hatte man ihnen schon nachgesagt, bevor sie auf die Welt kamen.

Oft markiert ein unscheinbares Ereignis die Sollbruchstelle im System. Die Jahrtausendwende war schon vorbei, und Gregor, Füsser, Nina und Nele hatten sich in alle Winde zerstreut, als der Reissack umfiel. Nicht in China, sondern auf einer der Gartenpartys, von denen die Elterngeneration nicht genug bekommt, seit die Kinder aus dem Haus sind.

Auf einem dieser Feste im Sommer 2002 stellte sich durch Zufall heraus, dass erstens der gesamte mitgebrachte Wein und Sekt von ALDI stammte und zweitens alle Anwesenden inklusive der Gastgeberin dies längst an den Etiketten erkannt hatten. Plötzlich erzählten die Mütter von Gregor, Füsser, Nina und Nele einander, wie sie drei Jahrzehnte lang beim ALDI-Einkauf hinter dem Gebäude geparkt, die Einkäufe in mitgebrachte Edeka-Tüten verpackt und für den Fall, dass ihnen ein Bekannter begegnete, den immer gleichen Satz bereitgehalten hatten: ALDI füllt teure Markenprodukte in billige Verpackungen – da wäre es doch idiotisch, mehr Geld auszugeben.

Die Erleichterung war groß, das ausbrechende Gelächter laut und lang. Es läutete eine Zeitenwende ein.

Zwei, drei Jahre später rief Gregor bei mir an. Er hatte meinen Namen im Internet gefunden und wollte erzählen, was er so macht. Nach seinen beiden Prädikatsexamen war er in die Hauptstadt gezogen und arbeitete bei Whoever & Whoever Incorporated.

»Wie schön!«, rief ich und freute mich ehrlich für ihn, »wie geht’s dem Porsche?«

»Weiß nicht«, sagte Gregor langsam, »plötzlich wollte ich doch keinen haben.«

Außerdem überlegte er, zum Jahresende zu kündigen. Und schwieg. Auch mir fiel nichts mehr ein. Als ich das Gespräch beendete, klang mir etwas in den Ohren. Es war das Echo eines langen Gelächters.

Kaum lag der Hörer auf der Gabel, nahm ich ihn wieder ab und begann eine Bestandsaufnahme. Ich rief Freunde an und deren Freunde, Bekannte und deren Bekannte, und stellte ihnen eine Frage: Braucht ihr Geld?

Die Ähnlichkeit der Antworten war verblüffend: Nö. Ein bisschen. Wenn ich was brauche, geh ich arbeiten. Nur für Unabhängigkeit, Freiheit und Selbstbestimmtheit. Alles Wichtige ist unkäuflich. Meine Egoprobleme löse ich beim Sport. Verzicht schafft Freiraum. Nur eine Befragte antwortete: Ich habe mir einen hohen Lebensstandard erarbeitet und will ihn behalten. Sie kommt aus Russland.

»Freunde«, rief ich in die unendlichen Weiten des Telephonnetzes, »wir befinden uns in einer Wirtschaftsrezession. Wie wäre es, wenn ihr euch zusammenreißt, jede Menge Geld verdient und es wieder unter die Leute bringt?«

Keine Antwort. Jemand gähnte, ein anderer lachte.

»Herzchen«, fragte Nina, »fährst du eigentlich immer noch diesen schicken, sechzehn Jahre alten VW Polo?«

Wieso, das ist ein super Auto, 250000 km gelaufen und noch über ein Jahr TÜV.

Nach zwanzig Anrufen und einem Blick in den Spiegel wusste ich Bescheid. Wir sparen nicht, wir geben bloß kein Geld aus. Kreditkarten-Gregor ist die Galionsfigur einer sinkenden Handelsflotte. Die Besatzung hat sich ein Floß gebaut und treibt zu den Blockhütten an den Ufern einer Inselgruppe.

Was man weder mit autoritärer noch mit antiautoritärer Erziehung vermitteln kann, ist Existenzangst. Nach den Ergebnissen der Shell-Studie vom August diesen Jahres schaut die junge Generation trotz Börsenkrach, Pleitewelle, Massenarbeitslosigkeit und Terror optimistischer denn je in die Zukunft. Jeder in seine eigene, versteht sich. Nach wie vor fehlt es am ideellen Überbau – der wohlvertraute Werteverlust bleibt unausgebügelt. Trotzdem wäre der übliche Schluss auf frei flottierenden Egoismus und ich-bezogenes Meistbegünstigungsprinzip voreilig. Soziales Engagement ist den Befragten wichtig, viel wichtiger als politisches. Überschüssiges Geld würden sie lieber an eine private Hilfsorganisation abtreten als ans Finanzamt. Als »Gewinner« bezeichnet die Studie das Lager der »pragmatischen Idealisten«, während die »robusten Materialisten« auf der Verliererseite stehen. Nicht umgekehrt? Nein, so rum. Freundschaften, Liebe, Unabhängigkeit und Freizeit stehen als Ein-Mann-Werte hoch im Kurs. Und kosten nichts. Die junge Generation, als Vorbote einer künftigen Gesellschaft gern mikroskopiert, wendet sich entgegen der Prognosen nicht einem immer oberflächlicheren, konsumorientierten und sinnentleerten Dasein zu.

Das müsste all jene freuen, die in der Konsumversessenheit den ewig bevorstehenden Untergang des Abendlandes heraufdämmern sahen. Weniger froh wird sein, wer Konsum als notwendige Voraussetzung der Marktwirtschaft begreift. Das Nachkriegsmotto »Wer essen will, muss auch arbeiten« hat schon seit längerem an Durchschlagkraft verloren. Nun gerät auch ein zweites, ungeschriebenes Gesetz in Vergessenheit: Wer arbeiten will, muss auch essen. Und zwar etwas Teures. Oder anders: Ohne Konsumenten keine Investoren und keine Jobs.

Wie immer, wenn ich nicht weiterweiß, rufe ich meinen Freund F. an.

»F.«, sage ich, »seit ich dich kenne, schläfst du auf einer alten Matratze. Deine Kleider hängen auf einem fahrbaren Gestell, das Geschirr stapelst du auf der Fensterbank. Warum kaufst du nicht Bett, Schrank und Küchenregal?«

»Was!«, ruft F. entsetzt. »Modernität ist Mobilität, heutzutage braucht man Luftwurzeln. Eigentum verpflichtet, und zwar zum Möbelschleppen beim nächsten Umzug.«

Damit gebe ich mich nicht zufrieden. Wer viel verdient, kann sich ein Umzugsunternehmen leisten.

»Stimmt«, gibt F. zu. »Aber große Summen für nichts auszugeben, hat etwas Unappetitliches.«

Deshalb trinkt F. auch keinen Cappuccino bei Mitropa. Nicht aus Geldmangel. Sondern aus Prinzip.

»Geldausgeben«, sage ich, »war mal ein nettes Hobby. Ist es dermaßen in Verruf geraten, bloß weil ein paar Konsumextremisten es eine Weile übertrieben haben? Stellen wir jetzt eine neue Kollektion auf dem Laufsteg der Weltanschauungen vor: die Neo-Askese? Was ist mit dem Prinzip Gregor passiert?«

Wer viel fragt, wird von F. mit einer Theorie bestraft. Es ist ganz einfach: Unsere Gesellschaft fällt sukzessive vom Glauben ab. Der Tod Gottes liegt lang zurück, auch die Trauerzeit ist vorbei. Der sogenannten Politikverdrossenheit sehen wir mit schreckgeweiteten Augen entgegen, während sie längst eingetreten ist und uns...


Zeh, Juli
Juli Zeh, 1974 in Bonn geboren, Jurastudium in Passau und Leipzig, Promotion im Europa- und Völkerrecht. Längere Aufenthalte in New York und Krakau. Schon ihr Debütroman »Adler und Engel« (2001) wurde zu einem Welterfolg, inzwischen sind ihre Romane in 35 Sprachen übersetzt. Juli Zeh wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Thomas-Mann-Preis (2013) und dem Heinrich-Böll-Preis (2019). Im Jahr 2018 erhielt sie das Bundesverdienstkreuz und wurde zur Richterin am Verfassungsgericht des Landes Brandenburg gewählt. Ihr Roman »Über Menschen« war das meistverkaufte belletristische Hardcover des Jahres 2021. Zuletzt erschien bei Luchterhand der zusammen mit Simon Urban verfasste Bestseller »Zwischen Welten«.



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