Zapperi Zucker | Ein Tag in Bozen | Buch | 978-3-943810-07-3 | sack.de

Buch, Deutsch, 224 Seiten, PB, Format (B × H): 130 mm x 210 mm, Gewicht: 250 g

Zapperi Zucker

Ein Tag in Bozen

Auf den Spuren einer verlorenen Generation
Erscheinungsjahr 2014
ISBN: 978-3-943810-07-3
Verlag: VoG - Verlag ohne Geld

Auf den Spuren einer verlorenen Generation

Buch, Deutsch, 224 Seiten, PB, Format (B × H): 130 mm x 210 mm, Gewicht: 250 g

ISBN: 978-3-943810-07-3
Verlag: VoG - Verlag ohne Geld


Vier Erzählungen und eine Biografie – eine etwas ungewöhnliche Zusammenstellung, doch geht die Biografie aus einer der Erzählungen hervor. Alle vier Erzählungen aber sind mehr oder weniger mit dem zweiten Weltkrieg verbunden, entweder in den Erinnerungen der Nachkriegsgeneration oder als handfeste Gegenwart, wie in der ersten Erzählung, in der eine Wiener Jüdin in Gossensaß Unterschlupf sucht. Das italienische Original dieser Erzählung erhielt 2013 den ersten Preis für unveröffentlichte Arbeiten des internationalen Literaturwettbewerbs "Il Molinello".

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Zielgruppe


An Geschichte interessierte Leser, insbesondere was die Auswirkungen des zweiten Weltkrieges betrifft. Die spannungsreiche Kombination Südtirol - Deutschland - Österreich steht dabei im Vordergrund.

Weitere Infos & Material


Die französische Gouvernante 11
Ein Tag in Bozen 84
Eine kleine minimalistische Geschichte 130
Ein Spaziergang 154
Auf den Spuren einer verlorenen Generation 181
Fragmente einer Biografie


Die französische Gouvernante
Am 4. Dezember 1938 traf Louise Raffelsberger mit dem Zug am kleinen Bahnhof von Gossensaß2 ein. Sie war der einzige Fahrgast, der ausstieg.
Von mittlerer Statur, schlank, ziemlich mager gar, war sie ganz nach der neuesten Pariser Mode, aber zu leicht gekleidet: durchsichtige Strümpfe, weit ausgeschnittene Schuhe mit hohen Absätzen, ungeeignet für diese schneebedeckten Straßen und um den Hals eine sogenannte Boa aus Straußenfedern oder von wer weiß welch exotischem Vogel. Aus den Federn ragte ein kleiner Kopf mit schwarzem, kurzem Haar und nacktem Hals, zwei Schmalzlocken, wie auf die Wangen gepinselt, so perfekt waren sie, und glatte, glänzende, halblange Stirnfransen. Ein winziges Hütchen hielt sich, die Gesetze der Schwerkraft herausfordernd, auf wundersame Weise auf diesem kapriziösen Kopf.
Die Augen reichlich geschminkt, den Mund auf ein rot gefärbtes Herzchen reduziert, tiefstes dunkelrot, was an Vampire denken ließ, schien sie, von einem anderen Planeten kommend, in diesem Bergnest auf die Erde gefallen zu sein. „Kann es sein, dass das alles echt ist?“, fragte sich in der Tat der Bahnhofsbeamte. „Schade, denn sie scheint mir ein schönes Frauenzimmer zu sein, eine, die einem Mann den Kopf zu verdrehen weiß. Vorher aber sollte sie sich das Gesicht waschen.“
Die junge Frau hatte inzwischen ihre große Leinentasche auf den Boden gestellt und sah sich erwartungsvoll um. Der Zug war sofort weitergefahren, und, halb erfroren, rührte sie sich nicht von der Stelle.
Der Bahnhofsbeamte näherte sich: 'Warten sie auf jemanden?', fragte er, von den kalten Augen der Frau eingeschüchtert, die ihn von Kopf bis Fuß musterte.
'Monsieur Pichler. Je lui écrit… il n’est pas ici. Vous le connaissais?'
Ihre Stimme war ziemlich gereizt, wie von einem kurz vor einem Nervenzusammenbruch stehenden Menschen. Sie sprach ein eigenartiges Französisch mit breitem wienerischen Akzent.
Der Mann, obwohl des Französischen nicht mächtig, begriff und lächelte: 'Gewiss kenne ich ihn. Wer kennt ihn hier nicht?'
In diesem Augenblick kam gerade Herr Pichler daher, atemlos wegen der Eile.
'Excusez-moi Mademoiselle. je suis en retard …'
Die Frau reichte ihm mit ausgesuchter Eleganz, mit Mühe eine gewisse Ungeduld verbergend, ihre kleine, in schwarzes Leder gekleidete Hand. Der Bahnhofsbeamte verfolgte aufmerksam die ganze Szene, fasziniert, ganz in die Betrachtung des Händchens versunken, das so schutzbedürftig aussah. Wie alt mochte dieses derart graziöse Persönchen denn sein? Kaum älter als dreißig, obwohl sie jünger aussieht, dachte er, während Herr Pichler sich tief hinunterbeugte, um das nervöse Pfötchen zu küssen, das heißt, es kaum mit den Lippen zu streifen. Eine wahrhaft vornehme Geste, die niemand besser als Herr Pichler hätte vorführen können, auch das bemerkte der Bahnhofsbeamte, und er überlegte lange, wie man sich so verbeugen und gleichzeitig die Hand mit derartiger Eleganz reichen konnte. Er kam zum Schluss, dass es großer Übung bedurfte.
Sowie die beiden den Bahnhof verlassen hatten, versuchte er dieselbe Geste vor seinem Schreibtisch nachzuahmen, und es fehlte nicht viel, und er hätte sich den Kopf an der Tischkante angeschlagen. Zu tief, kommentierte er, auf das richtige Maß kommt es an.
So begann die Geschichte der Französin in Gossensaß, so wurde sie in der Tat im Dorf genannt, zuerst wegen ihres exotischen, in diesem Bergdorf völlig unangebrachten Aussehens, und später, weil man erfuhr, dass sie direkt aus Paris gekommen war. Die Frau, die im Hause Pichler diente, hatte die Nachricht wenige Stunden später im Dorf eilig verbreitet.
Mademoiselle Louise war die neue Gouvernante.
Herr Pichler war darauf erpicht eine Französin für seine drei verwaisten Kinder zu haben, und niemand begriff den Grund dafür. Gewiss, die Frau sprach französisch, zumindest sagte man das, doch war sie österreichischer Herkunft. Daran zweifelte niemand. Mademoiselle Louise sprach französisch mit dem Herrn und mit den Kindern – oder besser gesagt, nur mit dem jüngsten, noch kindlichen Sohn, da die beiden älteren in Brixen studierten und nur in den Ferien nach Hause kamen –, während sie mit dem Personal immer in perfektem Wiener Jargon sprach.

Herr Pichler, Eigentümer des halben Dorfes und verschiedener Liegenschaften in der Umgebung, war viel gereist, vornehmlich in Frankreich, genau genommen an der Côte d'Azur, wo er auch einen Gutteil des Vermögens seiner Frau durchgebracht hatte. Und das wussten alle.
An Frankreich liebte er nicht nur die Sprache. An jenem Land liebte er alles: die Küche, die Spielsäle, und ganz besonders die Frauen.
Ungefähr zwanzig Jahre vorher hatte er eine Österreicherin, eine Baroness geheiratet, Tochter ziemlich reicher Leute, mit einer Mitgift, die den Appetit vieler junger Männer angeregt hatte: eine erkleckliche Summe Bargeld zuzüglich großer Ländereien, hauptsächlich in Südtirol, und eine wunderschöne Villa in Gossensaß, die den Namen des Berges trug, der dieses Tal beherrscht, und die der Vater der Frau bereits Anfang des Jahrhunderts hatte errichten lassen. Wie viele Österreicher der höheren Gesellschaft, verbrachte auch die Familie des Barons die meiste Zeit des Jahres zwischen Wien und Innsbruck, aber sie überquerte die Alpen gerne, um zumindest die drei Sommermonate in Südtirol zu verbringen.
In Folge des Baus der Brenner-Bahnlinie in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts und der Entdeckung einer Thermalquelle, war Gossensaß ein kleines Fremdenverkehrszentrum von einer gewissen Bedeutung geworden, das vor allem von Künstlern der Spätromantik wie Ibsen, Schnitzler, Hugo von Hoffmannsthal und anderen besucht wurde, die in diesen Bergen Eingebung und Ruhe suchten, weit weg vom stürmischen Leben in den Großstädten.

Dort trieb sich auch Franz Pichler herum, ein schöner junger Mann, mehr als eins neunzig groß, braunes Haar, ziemlich markante männliche Gesichtszüge und mit einem athletischen Körper, der nie unbeachtet blieb. Seine einzige Beschäftigung, zumindest momentan, war die, den richtigen Augenblick abzupassen, der seinem Leben eine Wende geben konnte. Er teilte die allgemeine Ansicht, dass er mit diesem Körper, den ihm die Mutter Natur geschenkt hatte, eine große Karriere ohne jegliche berufliche Voraussetzung machen müsse, wenn ihn nur jemand entdecken würde. Für ihn war eine Lösung so gut wie jede andere, da er außer dem athletischen Körper keinerlei Anlagen für irgendeine Arbeit mitzubringen schien.
In diesen Sohn hatte die Mutter, eine Frau mit strengsten Grundsätzen, ganz Herd und Kirche, ihre ganzen Hoffnungen gesetzt: für ihn hatte sie kein Leben als Bauer, wie das seines Vaters und all seiner Ahnen vorgesehen, die dazu verdammt gewesen waren, die Erde zu bearbeiten und auf einem bescheidenen Bauernhof zu verkümmern, den sie in der Gegend von Sterzing besaßen und der ihnen nicht mehr als das Überleben sicherte. Nur das nicht; für den Sohn stellte sie sich eine äußerst brillante Karriere, mindestens als Offizier der österreichischen Armee vor.
Der Knabe hatte über die vier vom Gesetz vorgeschriebenen Klassen hinaus die Schule besucht, gewiss nicht wegen einer besonderen Neigung und auch nicht auf seinen besonderen Wunsch hin. Die Mutter hatte ihn in der Tat gezwungen, das Studium fortzusetzen, ob er wollte oder nicht, auch wenn sie dafür die kirchliche Autorität hintergehen musste. Am bischöflichen Priesterseminar in Brixen hatte sie nicht gezögert zu erklären, dass sie eine gewisse religiöse Berufung am eigenen Sohn beobachtet habe. Doch nach Erreichen des höheren Schulabschlusses, als er das Gelübde ablegen sollte, täuschte er eine dramatische spirituelle Krise vor, die ihn zum Verzicht auf das Klosterleben „zwang“. Zur großen Erleichterung aller, muss hier angefügt werden. Die frühe Berufung von Knaben, war ein allseits bekannter Vorwand, der den weniger Begüterten den Besuch einer höheren Schule ermöglichte.
Franz war ziemlich oberflächlich, ein eingebildeter Geck, anmaßend, jedenfalls nicht aus dem Stoff, den sich die Mutter gewünscht hätte: ehrgeizig ja, das war sie auch, nicht aber eitel. Sie hatte ihn einige Male vor dem Spiegel angetroffen, in Pose, wie er mit kritischem Blick seine Gesten begutachtete, die Art aufrecht zu stehen, die Hand zu reichen, eine Verbeugung zu machen. Er schien sich auf eine Rolle vorzubereiten, die er in seinem zukünftigen Leben zu spielen gedachte, ganz wie ein Schauspieler. Gleich nach der Kindheit, als er heranzuwachsen begann, hatte er begriffen, dass sein Gesicht sein Trumpf war, seine Haltung, seine Statur und seine unvergleichliche Art sich zu verbeugen.
„Von wem hat er das alles gelernt?“, hatte seine Mutter sich bekreuzigend gefragt. Aber sie hatte nicht gewagt mit ihrem Mann und noch weniger mit dem Pfarrer darüber zu sprechen.
Dem jungen Mann war es über den Kontakt zu einigen durchreisenden Künstlern gelungen, in der Villa des Barons Einlass zu finden, mehr oder weniger mit dem geheimen Wunsch, die Tochter zu erobern, und wenn nicht diese, so doch eine der anderen reichen Vertreterinnen der Gesellschaftsschicht, der anzugehören er sich wünschte.

Gerade ein Jahr vor dem Ausbruch des Krieges, im Monat August des Jahres 1913, hatte er sich der Tochter des Barons, einer romantischen, einfältigen Sechzehnjährigen geoffenbart, die den Augenblick nicht erwarten konnte, endlich ihre große Liebesgeschichte zu erleben, ganz wie in den Jungmädchenromanen, mit denen sie die Stunden ihrer Langeweile füllte. Doch das Beste passierte gleich darauf, das heißt, als der Vater sich weigerte den jungen Anwärter zu empfangen: die Einbildung, Hauptdarstellerin in einem dieser Romane, mit einem richtigen Gefühlskonflikt zu sein, war milde ausgedrückt, mitreißend.
Der Baron hatte andere Pläne mit ihr. Er kannte in Wien einen Mann reiferen Alters, Ministerialbeamter einer gewissen Bedeutung, der ein ausgesprochenes Interesse an dem Mädchen bekundet hatte. Nichts Besseres konnte es für seine einzige, exaltierte Tochter geben, ständig mit dem Kopf in den Wolken.
Die Mutter hingegen war sofort eingenommen von jenem bezaubernden jungen Mann, hatte seine gesellschaftliche Begabung bemerkt, sein elegantes Auftreten und die tadellose Art, die Uniform zu tragen.
Der Baron war völlig aus dem Häuschen. Der Gemahlin, die zugunsten dieser Beziehung zu intervenieren versucht hatte, hatte er erklärt, dass die Anmaßung und auch die unverschämte Forderung eines jungen Mannes, dessen Herkunft man nicht kenne, klare Zeichen der Zeit seien, der Beweis für den Verfall einer Kultur und einer Gesellschaft, die nicht auf das neue Jahrhundert vorbereitet seien, unfähig, sich mit den Traditionen, der Geschichte, der großartigen Vergangenheit des eigenen Landes zu identifizieren. Nie würde er gestatten, dass sich sein edles Blut mit dem eines Plebejers vermische, eines sozialen Emporkömmlings, der nur daran interessiert sei, Karriere in der höheren Gesellschaft zu machen.
Er starb, bevor die beiden heirateten, ein Jahr nach dem Ausbruch des Großen Krieges; er schaffte es nicht einmal mehr, diesen Anwärter zu fragen, welchem Beruf er nachgehe, sofern er einen habe, wie er seinen Lebensunterhalt bestreite, und wie er gedenke, seine zukünftige Familie zu ernähren. Der junge Mann reiste ab, um das Armeekorps zu erreichen, dem er zugeteilt worden war, angetan mit seiner funkelnden Uniform, die nicht nur seine Mutter – äußerst stolz darauf, einen derartigen Grenadier auf die Welt gebracht zu haben – so sehr beeindruckt hatte, dass sie ihn liebevoll betrachtete, sondern auch ganz Sterzing: als er vorbeikam, eilten alle Mädchen an die Fenster, um ihn zu sehen.

Er hatte mehr Glück als viele andere, denn bei Kriegsende kehrte er gesund und unversehrt heim, und eilte sofort nach Innsbruck, noch bevor er sich zu Hause blicken ließ. Die zahlreichen Liebesbriefe des Mädchens hatten ihm, jetzt da der Vater tot war, die Gewissheit vermittelt, vorbehaltlos in ihrer Familie aufgenommen zu werden. Fünf größtenteils an der italienischen Front verbrachte Jahre in den Bergen, in einer dauernden Wiederholung von Vormarsch und Rückzug, mit jenen süßlichen Liebesbriefen in der Tasche, geschrieben von einer, die von der Liebe träumte, ohne sie zu kennen. Er war ihrer so überdrüssig, dass er sie einige Tage mit sich herumtrug, ohne sie zu öffnen, gelangweilt von den unbedeutenden Alltagsgeschichten, die die Tage des Mädchens ausfüllten, weit weg von der Realität, die er zu leben gezwungen war, den Tod immer in der Nähe, und die Gewissheit einer Niederlage vor Augen, deren Ausmaß noch niemand vorhersehen konnte.
Hatte er bisher nach einem sozialen Aufstieg nur als Bestätigung gewisser, eher eingebildeter als realer Rechte seinerseits getrachtet, so hatte diese Gesellschaft, die ihm so erstrebenswert erschienen war, nun jede Attraktivität für ihn verloren. Alles was zählte, war das Geld und nichts sonst. Wenn er je einen romantischen Traum gehabt hatte, dann hatte ihm der Zusammenbruch des Regimes an das er immer geglaubt und mit dem er sich identifiziert hatte, jede Illusion genommen, jeden Wunsch nach Revanche an der Gesellschaft. Nun wollte er einzig sein materielles Wohlbefinden sichern, ohne irgendein Risiko, möglicherweise ohne in die aktuellen politischen Umwälzungen verwickelt zu werden. Man hörte in der Tat von einem Anschluss Südtirols an Italien, und noch bevor das geschah, gelang es ihm das Mädchen zu heiraten.
Wie er befürchtet hatte, lag die Villa und alle umliegenden Besitzungen bald auf italienischem Territorium, gerade knapp hinter der Brennergrenze. Entschlossen sich in Gossensaß niederzulassen, beeilte sich Herr Pichler die italienische Staatsbürgerschaft zu beantragen, um möglichen Konflikten mit der neuen Autorität vorzubeugen.
Es kamen drei Söhne zur Welt: Franz 1920 und Joseph 1921, während Toni zehn Jahre später, 1931, zur Welt kam. Andere Kinder, zwischen 1920 und 1931 geboren, starben bald, von den nicht zu Ende gebrachten Schwangerschaften ganz zu schweigen.
Niemand konnte jemals sagen, ob es eine glückliche Ehe gewesen war, aber die Menschen im Ort betrachteten sie, ausgehend von der engen Abfolge der Schwangerschaften, als solche.
Herr Pichler entdeckte auf eigene Faust, dass die Welt jenseits der Berge, jenseits der Alpen, eine sehr weite war, bedeutend interessanter, als das Leben, das sich in diesem kleinen Landnest abspielte, das mittlerweile nicht mehr Ziel hochkarätiger Touristen wie früher war. Auch hier hatte der Große Krieg seine Schatten geworfen, und das neue faschistische Regime betrachtete gewisse Persönlichkeiten des kulturellen Lebens jenseits der Alpen mit ziemlich argwöhnischem Auge. Gelangweilt und vor allem genervt von den Auseinandersetzungen mit der Familie, begann er unter Nutzung der materiellen Möglichkeiten, die ihm zur Verfügung standen, viel zu reisen. Alleine. Und das bereitete vor allem der Schwiegermutter Sorgen. Weniger der Gemahlin, die völlig in der Erziehung der Söhne und der Verwaltung, der vom Vater hinterlassenen Erbschaft aufging. Der Mann hätte ihr, inzwischen wusste sie es, nur weitere Schwangerschaften aufgehalst, und sie, eingedenk ihrer angegriffenen Gesundheit, wartete beinahe mit Ungeduld darauf, dass er sich wieder auf Reisen begebe, um mindestens weitere sechs Monate Ruhe zu haben. Bei alledem hatte sie nicht die Kraft und vielleicht auch nicht die nötige Erfahrung, das beträchtliche Familienvermögen zu wahren, entmutigt auch von den häufigen Reisen ihres Mannes und seiner Gleichgültigkeit dem Dorfleben gegenüber. Ziemlich bald hatte sie das Desinteresse des Ehemannes nicht nur für den Besitz, sondern auch für sie selbst bemerkt. Sie wollte es nicht einmal ihrer Mutter gestehen, die mindestens zwei Mal im Jahr für einige Monate zu Besuch kam. In jenen Tagen war es nicht einfach, von den zuständigen Ämtern eine Genehmigung zu erhalten, nach Italien ein- und nach Österreich auszureisen: das neue faschistische Regime sah die engen Beziehungen zwischen den Südtirolern, jetzt Altoatesini genannt, und ihren ehemaligen Landsleuten, den Österreichern, nicht gerne. Sie hatte auch akzeptieren müssen, dass die Söhne die ausschließlich italienische Schule besuchten – in Gossensaß gab es keine andere –, dass sie ihre Muttersprache verlernten (auch wenn sie zu Hause immer deutsch sprachen, auf die Gefahr hin, dass sie angezeigt würden, da es auch im Privaten absolut verboten war), und dass sie die Balilla-Uniform anzogen, eine für sie völlig inakzeptable Angelegenheit. Im Übrigen führte sie ein ziemlich zurückgezogenes und einzelgängerisches Leben, spärliche Kontakte zu einigen Familien des kleinen Dorfes aufrecht erhaltend, während die Persönlichkeiten aus der Welt der Kunst, die ungarischen Freunde, die österreichischen Adeligen, die zu anderen Zeiten die Villa belebten, von der Erdoberfläche verschwunden schienen.
Mit kaum mehr als vierzig Jahren wurde sie von einer Grippe überrascht, die sich innerhalb weniger Tage zu einer akuten Lungenentzündung auswuchs, alles in Abwesenheit des Gatten, der wieder einmal in Frankreich weilte. Herr Pichler, durch ein Telegramm informiert, begab sich sofort auf die Heimreise, konnte aber nur mehr dem Begräbnis beiwohnen.
Er weinte während der ganzen Zeremonie, dabei von allen Dorfbewohnern bewundert, und weit mehr noch von der Schwiegermutter, die sich die ganze Zeit fragte, von woher diese Tränen wohl kommen mochten: war es möglich, dass er ihre Tochter dermaßen geliebt hatte? Nun rührte sie das Spektakel dieses großen Leids mehr als der Tod der eigenen Tochter, während die drei Knaben, verstört durch die Vorfälle, nicht wussten, wie sie sich verhalten sollten.
Sowie das Begräbnis zu Ende war, sagte die alte Baronin, dass sie nach Innsbruck zurückkehren wolle. Sie befürchtete in der Tat, dass sie der Schwiegersohn mit dem ganzen Haushalt und der Erziehung der Söhne betrauen wolle: in ihrem Alter, sagte sie, bedürfe sie der Ruhe, und die Buben seien in einem besonders lebhaften Alter. Solle er sich um sie kümmern, vielleicht mit Hilfe eines Hauslehrers.

In Folge einer Verfügung der italienischen Regierung, war die Schule mit deutscher Unterrichtssprache vor rund zehn Jahren abgeschafft worden, eine Maßnahme, die innerhalb kürzester Zeit alle ehemaligen einheimischen Lehrer in die Arbeitslosigkeit trieb, die dann durch andere, italienischer Herkunft, ersetzt wurden, um den Italienisierungsprozess der ganzen Region, so hieß es, zu beschleunigen. Die beiden größeren Jungen hatten das Problem umgangen, indem sie im bischöflichen Knabenseminar Vinzentinum in Brixen studierten, die einzige Anstalt, an der der Unterricht in deutscher Sprache erlaubt war, allerdings mit Abschlussexamen in italienischer Sprache, während Toni, der noch die Grundschule besuchte, in Gossensaß geblieben war. Ein deutscher Hauslehrer hätte ihm den Besuch der Katakombenschule erspart, einer Geheimschule, die im Pfarrhaus oder Privathäusern überall in ganz Südtirol abgehalten wurde, damit die Kinder in ihrer Muttersprache Lesen und Schreiben lernen konnten. Aber nein, für Herrn Pichler war das die große Gelegenheit: endlich konnte er seinen Traum verwirklichen und in seinem Haus französisch sprechen! Deshalb also gab er, weniger als ein Jahr nach dem Tod der Gattin, eine Anzeige in einer großen französischen Zeitung auf: „Südtiroler Gutsbesitzer sucht französische Gouvernante für seine drei mütterlicherseits verwaisten Söhne“, gefolgt von den notwendigen Informationen.

Vier Lebens-Geschichten und Fragmente einer Biografie, das der neue Erzählband der aus Sizilien stammenden und in München sowie Südtirol lebenden Schriftstellerin und Sängerin Ada Zapperi Zucker. Die zweite der vier Erzählungen „Ein Tag in Bozen“ gibt dem Ganzen einen sprechenden Titel und lässt erahnen, dass die Autorin den Plot in Südtirol spielen lässt, einem Landstrich, den sie besser kennt als viele dort Lebenden und Schreibenden. Das beweist nicht zuletzt die erfolgreiche Sammlung früher Erzählungen unter dem Titel „Die Katakombenschule“ von 2012.
„Auf den Spuren einer verlorenen Generation“ liest man da im Untertitel und glaubt, man müsse sich mit Geschichte auseinandersetzen oder von einem historisch nachvollziehbaren Generationenkonflikt ergreifen lassen; nein, das ist es nicht, was uns Ada Zapperi Zucker, die für jedes Buch, das sie, auf italienisch oder in deutscher Übersetzung vorlegt, einen renommierten Literaturpreis erhalten hat, in ihren neuen Erzählungen mitteilen will. Es sind, wie so oft in ihrer Prosa, außerordentlich plastisch gestaltete Lebensbilder von Protagonist/innen, deren Schicksale uns ergreifen und daran erinnern, dass sie gar nicht so historisch angelegt sind.
Bei näherem Lesen indes entströmt den Texten vor unserem lesenden Auge der Zauber höchst subtiler Prosa: „Am 4. Dezember 1938 traf Louise Raffelsberger mit dem Zug am kleinen Bahnhof von Gossensaß ein. Sie war der einzige Fahrgast, der ausstieg“, das der Beginn der ersten Geschichte „Die französische Gouvernante“ und die Autorin weiter: „Von mittlerer Statur, schlank, ziemlich mager gar, war sie ganz nach der neuesten Pariser Mode, aber zu leicht gekleidet: durchsichtige Strümpfe, weit ausgeschnittene Schuhe mit hohen Absätzen, ungeeignet für diese schneebedeckten Straßen und um den Hals eine sogenannte Boa aus Straußenfedern oder von wer weiß welch exotischem Vogel. Aus den Federn ragte ein kleiner Kopf mit schwarzem, kurzem Haar und nacktem Hals, zwei Schmalzlocken, wie auf die Wangen gepinselt, so perfekt waren sie, und glatte, glänzende, halblange Stirnfransen. Ein winziges Hütchen hielt sich, die Gesetze der Schwerkraft herausfordernd, auf wundersame Weise auf diesem kapriziösen Kopf.“ Diese Präsentation zu Beginn der einleitenden Geschichte „Die französische Gouvernante“ eröffnet uns die Welt der Protagonistin, die, dem Hauch Pariser Parfüms entflohen, dem kleinen Eisacktaler Ort Gossensaß ein wenig vom alten Glanz der Grand-Hotels-Saison des Fin de siècle zurückgibt.
Literarisch gesehen, erinnern uns die Anfänge in Zapperis Erzählprosa stets auch an die großen Romanschriftsteller/innen des 19. Jahrhunderts. Welche Zartheit und zugleich Bestimmtheit Ada Zapperis Figuren innewohnen, bestätigen etwa die Prosamedaillons der Protagonistinnen in den beiden ersten Erzählungen: vom Schicksal benachteiligte Wesen, die wie Louise oder Miranda aus der Zwischenkriegszeit und dem Terror des Zweiten Weltkrieges und des Antisemitismus getroffen oder zumindest bleibend beschädigt sind. Die Eine zwangsweise als Kindermädchen im Hause eines recht groben, aber pittoresken Herrn Pichler, „Eigentümer des halben Dorfes und verschiedener Liegenschaften in der Umgebung“ und die Andere die aus der Toskana stammende hochgebildete Miranda, die ihrem auf abenteuerliche Weise im Rückzugsgefecht der deutschen Wehrmacht durch Italien geliebten Mann Heinrich nah sein möchte, aber unweigerlich an eine Wand von Vergangenheitsflucht, Unverständnis und Intoleranz stößt.
Louise und Miranda, zwei grundverschiedene Frauen, stammen nur scheinbar aus einer anderen Welt, lassen uns aber teilhaben am Jetzt und zugleich an ihrer Geschichte. Gerade in den historisch aufgearbeiteten Zeitläuften von Ada Zapperis Figuren entsteht das, was Geschichte erlebbar macht: Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen oder die Wahrnehmung, es sei gerade Alles vor unserer Haustür geschehen.
Die dritte Erzählung ist „Eine kleine minimalistische Geschichte“: „'Heute. Ohne gestern. Gibt es eine Heute ohne gestern?', frage ich mich. 'Es kann ein Heute ohne morgen geben. Niemals aber ohne gestern.'“, so die philosophische Fragestellung am Beginn dieser Erzählung, die nur im Titel eine „minimalistische“ ist, ja, es geht um „Minimalismus“, aber nicht in literarischer Hinsicht, sondern um eine Haltung, die gesellschaftlich und kulturell wirksam wird. An sich ergäbe diese Erzählung die Handlung für einen ganzen Roman!
Dann „Ein Spaziergang“ auf der Karlspromenade in Brixen, bei der altehrwürdigen Kirche Maria am Sand. Auch hier geht es um Erinnerung: „'Die Zeit, die Wechselfälle des Lebens haben sie die Macht, den Charakter eines Menschen zu verändern, die sogenannten besonderen Merkmale?', überlegte Frida. Der einzige Unterschied war, dass er damals vorneweg ging, der Schritt dessen, der führen will, der den Weg kennt, überzeugt, dass es nur diesen Weg zu begehen gibt, während er sich alle zwei, drei Worte umdrehte, um ihre Reaktion zu sehen, aber auch um sich zu vergewissern, dass sie ihm noch folgte, dass der Wind mit seinen Worten nicht auch die junge Frau mitgenommen hatte.“ Eigentlich glaubt man beim ersten Lesen, die typische Südtiroler story vor sich zu haben, und doch entspinnt sich im zweiten Teil die tiefe Erkenntnis eines menschlichen Scheiterns, das überall stattfinden kann. Die abschließenden „Fragmente einer Biografie“ des österreichischen „Filmgraphikers“ und Werbefilmers Hans Albala steht unter dem Titel „Auf den Spuren einer verlorenen Generation“ und überrascht zunächst, denn eine Biografie erwartet man am Ende eines Erzählbandes nicht. Und doch entpuppen sich diese „biografischen Fragmente“ wie ein Roman in nuce, der nur noch geschrieben werden muss, also doch noch eine Erzählung am Ende der Erzählsammlung „Ein Tag in Bozen“, die folgende Widmung trägt: „Dieses Buch möchte an einige Menschen erinnern, denen auf Grund ihrer Rassenzugehörigkeit das Recht zu leben verweigert wurde. In memoriam Hans Albala“.
Ferruccio Delle Cave*


Zapperi Zucker, Ada
Ada Zapperi Zucker ist in Catania geboren und hat in Rom Klavier und Gesang studiert und dieses Studium an der Musikhochschule Wien beendet. Gleichzeitig hat sie für das „Dizionario Biografico degli italiani dell’Istituto Treccani”, für die „Enciclopedia dello Spettacolo” und die „Enciclopedia Universo De Agostini” gearbeitet und für diese Enzyklopädien viele Biographien von Musikern und Sängern verfasst. Als Opernsängerin war sie hauptsächlich außerhalb Italiens tätig, derzeit unterrichtet sie Gesang in Deutschland und in Südtirol und lebt seit vielen Jahren in München.

Durch eine Lehrtätigkeit am Bildungszentrum in Bozen kam sie mit Südtirol in näheren Kontakt. Als geborene Italienerin, aber durch ihre Ehe auch mit der österreichischen Kultur vertraut, hat dieses Land ihr immer schon waches Interesse für Politik und Geschichte besonders stimuliert. Die vielen Geschichten, die sie von ihren Südtiroler Gesangsschülern erzählt bekam, führten 2007 zu einem ersten Erzählband „La scuola delle catacombe”, der inzwischen auch auf deutsch unter dem Titel „Die Katakombenschule” erschienen ist und sich zu einem Longseller entwickelt hat.
Weitere Bücher folgten, vielfach mit Südtiroler Schwerpunkt, viele davon wurden in Italien mit Preisen ausgezeichnet. In dem 2015 erschienene Buch „La Cucchiara” wendet sie sich ihrem sizilianischen Ursprung zu, auch diese sizilianische Familien Saga in Form von Erzählungen hat schon einen ersten Preis erhalten und zwar bei dem renommierten internationalen Literaturwettbewerb „San Domenichino, città di Massa”.



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