E-Book, Deutsch, Band 2, 168 Seiten, Format (B × H): 155 mm x 230 mm
Reformation und Aufklärung: Impulse für den Gottesdienst
E-Book, Deutsch, Band 2, 168 Seiten, Format (B × H): 155 mm x 230 mm
Reihe: Veröffentlichungen des Bundes für Freies Christentum
ISBN: 978-3-374-05636-1
Verlag: Evangelische Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Im Fokus des vorliegenden Bandes steht der Gottesdienst. Hier gilt es, nicht nur Impulse der Reformation, sondern auch der Aufklärung fruchtbar zu machen. Ist es doch ein wesentliches Anliegen des liberalen Protestantismus, die Inhalte des christlichen Glaubens gerade auch aufgeklärten Menschen nahezubringen.
Mit Beiträgen von Alf Christophersen, Jan Hermelink, Isabel Klaus, Wolfgang Pfüller, Andreas Rössler, Dorothea Zager, Werner Zager und Ingo Zöllich.
[Here We stand – can We Do Also Otherwise? Reformation and Enlightenment: Impulses for Worship Service]
The Reformation challenges the Protestant church to understand itself as a church which is always in need for ongoing renewal and is also able to do so. Thus, it is part of being a Protestant Christian to critically examine the own faith and thinking, talking and acting, in view of its accordance with the Gospel and the challenges of the present time.
The focus of this volume is on the worship service. Here, it is a matter of making fruitful not only impulses of the Reformation but also of the Enlightenment. It is a fundamental concern of liberal Protestantism to provide also enlightened people with an understanding of Christian faith.
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Andreas Rössler
DIE RELIGION DER WAHRHEITSLIEBE
Reformation und Aufklärung im Protestantismus
1. »Religion der Freiheit« Was ist das besondere Anliegen des reformatorischen Christentums innerhalb der Weltchristenheit? Eine solche Frage kann entsprechend auch für die römisch-katholische Kirche und die Ostkirchen gestellt werden. Bei den »besonderen Anliegen« der jeweiligen Zweige der christlichen Ökumene kann es sich nur um Schwerpunkte handeln, nicht aber um Alleinstellungsmerkmale. Ein solches »besonderes Anliegen« ist nur idealtypisch zu verstehen und damit normativ. Es kann nicht empirisch ermittelt werden als der Durchschnittswert aus dem, was die Mitglieder der betreffenden Konfessionsfamilie meinen und glauben. Hilfreich sind aber herausragende Dokumente aus der jeweiligen Geschichte dieser Konfessionsfamilie und vor allem Ereignisse, die als beispielhaft angesehen werden können. Zwischen Protestantismus im engeren und im weiteren Sinn ist zu unterscheiden. Protestantismus im engeren Sinn meint die reformatorischen Konfessionsfamilien und Kirchen. Protestantismus im weiteren Sinn meint die »protestantisch« gesonnenen Christen in allen Kirchen. Dementsprechend kann man auch zwischen Katholizismus im engeren und im weiteren Sinn unterscheiden. So finden sich auch in den reformatorischen Kirchen Mitglieder, die eher »katholisch« als »protestantisch« denken. Ein besonderes Anliegen des reformatorischen Christentums ist die »Freiheit«. So wurde der Protestantismus auch schon als die »Religion der Freiheit« bezeichnet, etwa bei JÜRGEN MOLTMANN mit Berufung auf GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL.1 Der Reformator PHILIPP MELANCHTHON stellt fest: »Christentum heißt Freiheit.«2 In der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 heißt es in Artikel 2: Durch Jesus Christus »widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen«, und in Artikel 6 ist die Rede von der »Botschaft von der freien Gnade Gottes«.3 »Protestantismus – das ist der Traum einer Religion für freie Geister«: So beschließt ULRICH BARTH sein Buch Aufgeklärter Protestantismus.4 Der Systematische Theologe JÖRG LAUSTER schließt sich dem an:5 Der Protestantismus »gründet in der Freiheit, aus und von etwas zu leben, was größer ist als der Mensch und darum auch größer als Lehren, Moralvorstellungen, religiöse Bräuche und die Grenzen der Kirchen«.6 Damit skizziert er insbesondere die Sicht des liberalen Protestantismus bzw. Kulturprotestantismus.7 Im Reformationsjubiläum 2017 spielte die Freiheit als Merkmal des reformatorischen Christentums eine besondere Rolle.8 Man kann hier auf zwei paulinische Kernworte zurückgreifen: »Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!« (Gal 5,1). »Der Herr ist der Geist; wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit« (2Kor 3,17). Diese Freiheit ist nicht beliebig und willkürlich. Sie ist verwurzelt in der Bindung an den in Christus offenbaren Gott. Die Freiheit, zu der uns Christus befreit, macht uns auch frei von dem Gefesseltsein an uns selbst, an eigene Eitelkeit, Wünsche und Triebe. Sie löst uns ferner aus der nicht zu hinterfragenden Autorität einer eigenmächtig agierenden, dem Wort Gottes keineswegs immer gehorsamen Kirche. Und sie macht uns fähig zum Wirken in der Welt im Sinn der Liebe. In seiner Freiheitsschrift von 1520 fasst MARTIN LUTHER (1483–1546) so zusammen: »Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.«9 2. »Religion der Wahrheitsliebe« Der Protestantismus ist die »Religion der Freiheit« – aber auch die »Religion der Wahrheitsliebe«: In der Wahrheitsliebe ist Freiheit inbegriffen, denn ohne innere Freiheit ist Liebe zur Wahrheit, ist ernsthafte Wahrheitssuche nicht möglich, und erst recht dann nicht, wenn die Wahrheit, auf die man sich ausrichtet, unbequem werden könnte. Man muss sich die Wahrheit leisten können. Wieso aber nicht einfacher formuliert »Religion der Wahrheit« oder »Religion der Wahrhaftigkeit«? »Religion der Wahrheit« klingt zu sehr nach einem Absolutheitsanspruch, so als wolle man die Wahrheit für sich pachten. »Religion der Wahrhaftigkeit« klingt bescheidener, könnte aber doch noch zum Missverständnis führen, man beanspruche, wahrhaftiger, intellektuell redlicher zu sein als andere. »Wahrhaftigkeit« und »Wahrheitsliebe«10 meinen zwar dasselbe. Aber bei »Liebe zur Wahrheit« oder »Wahrheitsliebe« wird weniger der Anspruch erhoben, dass man tatsächlich wahrhaftig ist, als dass man es nach Kräften sein will. An prominenter Stelle in der Geschichte des Protestantismus ist von der »Liebe zur Wahrheit« die Rede. In den Einleitungssätzen zu seinen 95 Thesen vom 31. Oktober 1517, die zugleich Einladungssätze zu einer Disputation über den Ablass sind, redet MARTIN LUTHER im allerersten Satz von der »Liebe zur Wahrheit«: »Aus Liebe zur Wahrheit und in dem Bestreben, diese zu ergründen«, soll in Wittenberg unter Vorsitz Professor Luthers über die folgenden 95 Thesen diskutiert werden.11 »Liebe zur Wahrheit« schließt das Bemühen ein, die Wahrheit immer besser zu verstehen und sie so gut es geht ans Licht zu bringen: ins Licht der Erkenntnis und ans Licht der Öffentlichkeit. Bei der »Religion der Wahrheitsliebe« wird nicht gesagt, eben diese Religion verfüge über die volle Wahrheit. Aber hier, in dieser Religion, sei ein Ort, wo leidenschaftlich die bleibende, endgültige, alles Vorfindliche, Irdische umgreifende und tragende Wahrheit gesucht werde, und zwar ergebnisoffen. Es werde um die Wahrheit gerungen, und man sei bereit, für die erkannte Wahrheit auch Opfer zu bringen. In einer solchen Religion ist Raum für den Glauben im Sinn des Vertrauens zu Gott wie auch für den ehrlichen, ernsthaften Zweifel.12 Zur »Wahrheitsliebe« gehört das Ja zu einem freien, möglichst unvoreingenommenen Suchen nach Wahrheit, aber auch die Leidenschaft für die Wahrheit. So kommt zur intellektuellen, geistigen, auch eine emotionale Komponente. Das existenzielle Element ist die Treue zur einmal erkannten Wahrheit, nicht zuletzt wenn es sich um die Wahrheit vom Ganzen, vom Daseinssinn handelt. Der neuzeitliche Protestantismus ist von der Reformation und von der Aufklärung bestimmt. In der Reformation steht die Wahrheit im Mittelpunkt, wie sie in Jesus Christus begegnet und in den biblischen Schriften dokumentiert ist. Es gilt, diese uns vorgegebene Wahrheit entgegenzunehmen und davon das eigene Leben bestimmen zu lassen. In der Aufklärung dagegen liegt der Akzent auf der Suche nach der Wahrheit in der Haltung der Wahrhaftigkeit bzw. der Wahrheitsliebe. Paradebeispiel dafür ist der Philosoph und Schriftsteller GOTTHOLD EPHRAIM LESSING (1729–1781). Für ihn ist neben und zusammen mit der Ethik die Wahrheitsfrage das ureigene Thema der Religion. Er unterscheidet aber zwei Haltungen der unbedingten Wahrheit gegenüber: den Wahrheitsbesitz und die Wahrheitssuche. Er selbst entscheidet sich für die Wahrheitssuche.13 Die immer größere Wahrheit sei für den Menschen sowieso nicht zugänglich. Lessing schreibt in seiner Duplik von 1778: »Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgend ein Mensch ist oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz. – Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: ›Wähle!‹ ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: ›Vater, gib! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!‹«14 Diese berühmt gewordenen Sätze sind ein Ausdruck religiöser Toleranz. So schreibt Lessing um dieselbe Zeit in einem Brief: »Jeder sage, was ihm Wahrheit dünkt, und die Wahrheit selbst sei Gott empfohlen.«15 Gott bleibt für die vergänglichen, begrenzten Menschen unbegreiflich. Das lässt noch offen, wie viel Spuren der Wahrheit einzelne Menschen entdeckt und begriffen haben. Die Wahrheitsliebe kann für Lessing nicht an formalen Autoritäten Halt machen. So stellt er in seinen gegen Hauptpastor JOHANN MELCHIOR GOEZE in Hamburg gerichteten Axiomata von 1778 die These auf: »Die Religion ist nicht wahr, weil die Evangelisten und Apostel sie lehrten, sondern sie lehrten sie, weil sie wahr ist.«16 LESSINGS Entscheidung für die »Wahrheitssuche« gegen den »Wahrheitsbesitz« bedeutet keinen prinzipiellen Agnostizismus,...