Yuknavitch | Das Lied der Kämpferin | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 352 Seiten

Yuknavitch Das Lied der Kämpferin

Roman
Erscheinungsjahr 2021
ISBN: 978-3-641-22903-0
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 352 Seiten

ISBN: 978-3-641-22903-0
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



In einer nicht allzu fernen Zukunft ist die Erde ein düsterer Ort, heimgesucht von mörderischen Kriegen, zerstört von den Menschen selbst und gewaltigen Naturkatastrophen. Einigen wenigen ist es gelungen, sich auf eine Raumstation zu retten, um von hier aus die letzten Reserven der Erde zu Plündern. Herrscher dieser neuen, trostlosen Welt ist ein ebenso tyrannischer wie blutrünstiger Sektenführer. Doch eine Gruppe junger Rebellen lehnt sich auf gegen das eiserne Regime, angespornt von der charismatischen Mädchen-Kriegerin Joan, die über ganz eigene Kräfte verfügt und deren Geschichte das Schicksal zukünftiger Generationen bestimmen wird.

Lidia Yuknavitch zählt zu den herausragenden neuen weiblichen Stimmen der amerikanischen Literatur. Sie ist preisgekrönte Autorin mehrerer Romane, Kurzgeschichten und des gefeierten Memoirs »In Wasser geschrieben«. Zu ihren Fans zählen u.a. Rebecca Solnit und Roxane Gay. Ihr TED-Talk »The Beauty of Beeing a Misfit« wurde mehr als 2 Millionen Mal angeschaut. Lidia Yuknavitch lehrt an der University of Oregon Kreatives Schreiben, Literaturwissenschaft und Womens Studies. Sie ist eine hervorragende Schwimmerin.
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KAPITEL 2 Als meine Tür ohne Vorwarnung aufspringt, rutscht die Spinne auf dem Farn über das Netz. Ich ziehe hastig ein azurblaues Seidengewand um mein nächtliches Werk. Mein Körper brennt und juckt unter dem Stoff. Ich höre sein Geschrei, bevor ich ihn sehe.


»Christ! Komm sofort her du volles Taubenei. Komm her und gib mir einen Kuss. Ich glaube, heute habe ich mich selbst übertroffen.«

Egal wie oft er mich »Christ« statt »Christine« nennt, es bringt mich zum Lächeln. Bei jedem Treffen mit ihm spaltet sich mein Geist, eine Hälfte schießt in die Vergangenheit zurück, die andere steckt zitternd in der Gegenwart.

Was ist eine Liebesgeschichte?

Jedes Mal, wenn ich ihn sehe, und das ist jeden Morgen und jeden Tag und jede Nacht, denke ich an all die Liebesgeschichten, die niemals erzählt werden. Die zerbrochenen Liebesgeschichten, die kaputten, die, die nicht in die alten Tropen passen. Passte irgendein reales Leben jemals in einen Tropus? Ein immer wiederkehrender Flashback sticht auf meinen Körper ein. Wie innig ich mit vierzehn auf der Erde in ihn verliebt gewesen bin. Ich sehe uns beide, schlaksig und unbeholfen, beide mit schulterlangen Haaren, nur Ellbogen und Schultern und Knie, wir sahen wirklich wie Zwillinge aus. Wir verbrachten jeden Morgen und den ganzen Tag und die meisten Nächte zusammen, im Wald oder an Flussbetten, in der Schule oder während der Ferien. Oder wir kletterten aus unseren Zimmern und trafen uns zu imaginären Abenteuern oder malten oder zeichneten oder lasen oder beobachteten die Sterne oder liefen oder taten nichts weiter, als zu atmen. Ich erinnere mich, dass er sich irgendwann tatsächlich wie die Luft anfühlte, die ich einatmete, die Materie meiner Moleküle. Ich erinnere mich an den Puls an meinen Handgelenken und meinem Hals und das Blut in meinen Ohren. Als mein Körper sich von Mädchen zu Frau rundete, stürzte ich mich eines Tages nach der Schule auf einem weiten Feld idiotisch auf ihn, das Gesicht mädchenhaft-gerötet, meine Beine zitterten, meine Arme griffen nach ihm, ich verschmierte einen Teil meines Lächelns mit seinem und küsste ihn falsch. Und dann erstarrte er und schreckte vor mir zurück – der Ausdruck auf seinem Gesicht schuf eine unbarmherzige Distanz zwischen uns, unermesslich, so unermesslich wie Neptun, dieser eisige Gigant.

»Es tut mir leid, es tut mir so leid«, war alles, was er herausbrachte. Die erste und innigste Liebe meines Lebens, mein alles verzehrender Geliebter erstarrte vor mir, der Beginn eines Mannes, der keine Frauen liebte. Fakt. Mit einem Mal schien selbst seine Haut vor mir auf Distanz zu gehen.

»Ich liebe dich«, sagte er, als er zurückwich, seine Augen ertranken in ihren Höhlen. »Ich liebe dich«, sagte er, als er vor mir davonrannte. Und meine Welt endete.

Meine Liebe allerdings nicht. Nicht damals, nicht in meiner späteren Ehe, nicht jetzt. Aber es gibt kein Wort und keinen Körper dafür. Nur durch einen Trick des Schicksals oder einen glücklichen Zufall landeten wir beide im CIEL. Und obwohl wir, mittlerweile aus anderen Gründen, niemals Liebende sein würden, war keiner von uns ohne Begehren. Seines erblühte zu einer symbolischen, nie versiegenden Lüsternheit. Meines verkümmerte zu einem Schmerz, den ich mit in den Tod nehmen werde.

Nun presst er sein früheres Verlangen in alte tote Sprachen und niedere, sexuelle, immer obszönere Äußerungen, außerdem in Gegenstände und Technologien, sozusagen ein »Fuck you!« an dieses idiotische Weltraumkondom, in dem wir leben.

Ich brenne.

Wir sind quasi die letzte Bastion des Begehrens.

Dort steht der Mann – obwohl das Wort Mann das geliebte Geschöpf vor mir nur annähernd beschreibt. Denn er hat sich, nachdem er hier oben jeden Glauben an die Menschheit verloren hat, völlig damit abgefunden, bloß noch Kreatur zu sein. Er ist nur mit Schuhen bekleidet, glänzenden spitz zulaufenden Stiefeln, eines Dandys jeglichen Zeitalters würdig. Seine Haut glänzt nach jahrelangen Hautveredelungen in wächsernem Weiß, sein Kopf ist kahl wie ein Kinderpopo, allerdings stehen hier und da absurde Veredelungen heraus. Seine blassblauen Augen sind unter den seltsamen Furchen und Falten aus Fleisch noch immer zu erkennen. Er breitet theatralisch die Arme aus und streckt mir lächelnd das Becken entgegen, um sich zu präsentieren. Er könnte sich in einen Wasserspeier verwandeln, ich würde ihn trotzdem lieben.

Was hier vor mir steht, ist tatsächlich in gewisser Weise eine Groteske. Wo sein Bauch sein sollte, bemerke ich etwas, das nur eine neue Erfindung sein kann: einen komplizierten Gürtel, silbern, blutrot und schwarz, der an einem Netz aus Lederriemen und Silberketten befestigt ist und wie das Werk einer verwirrten Spinne über seiner Brust und seinen Schultern liegt. Vorne, an den Seiten und, soweit ich es sehen kann, selbst hinten hat der Gürtel Anhängsel von ungefähr einer Armlänge. Jedes scheint mit großer Sorgfalt und Detailliertheit gelötet und bearbeitet zu sein – die Anhängsel stehen so weit von seinem Körper ab, dass sie bei jeder seiner Bewegungen etwas zwischen Baumeln und Tanzen erzeugen. Zwei der herausstehenden Gegenstände sind mehr oder weniger zylindrisch und enden in einer Rundung, einer Art Zinnkugel. Die beiden anderen vom Harnisch herunterbaumelnden Anhängsel sind ein wenig wie Flaschenkürbisse geformt und was Farbe und Glanz und Detail anbelangt ebenso prächtig wie die zylindrischen, an ihnen scheinen kleine silberne Motoren befestigt zu sein. Als Trinculo ein paar Schalter umlegt, beginnen seine Hüften wie ein riesenhaftes falsches Insekt zu surren und zu summen. Einen Moment lang warte ich nur darauf, dass er losfliegen wird.

Sein Hereinkommen wird von einer großen Bewegung in Luft und Raum begleitet. »Und?«, ruft er über den Lärm und lässt zischend die Hüften kreisen.

Ich lege mit geheuchelter Überraschung die Hände auf den Hals. »Himmel, Trinculo, hat man dir wehgetan? Oder wurdest du bestraft? Was in aller Welt« – ich deute um ihn herum – »ist das?«

»Ah!«, ruft er und kommt vorsichtig auf mich zu. »Aber wir sind jetzt nicht mehr auf der Erde, die wir kannten, oder? Dies hier, meine vollgefressene Dame«, säuselt er im Näherkommen, »ist die Erhörung all deiner Gebete.«

»Ich bete schon seit Jahren nicht mehr«, erwidere ich und ducke mich hinter einen Stuhl. Es gibt kein Spiel, das ich nicht mit ihm spielen würde. Kein obszönes Begehren, das ich nicht willig erfüllen würde.

Er brummt. »Na los, reit mich, Bockbeere.« Damals auf der Erde hatte er seinen Spaß daran gehabt, eine App zu benutzen, die mittelalterliche Schlüpfrigkeiten und Beleidigungen generierte. Er hat diese Angewohnheit nach hier oben mitgenommen, in unser idiotisches Erwachsenenleben, unser dem Untergang geweihtes Präsens, und ich liebe jedes einzelne Wort. »Ich verwette sämtliche Sonne im System, dass ich dich, noch bevor die Nacht vorüber ist, dazu kriege, Gott zu schreien. Aber wiederhole noch mal meinen Namen! Ich liebe es, ihn zu hören.«

»Trinculo!«, rufe ich, dann lache ich los und komme hinter dem Stuhl hervor. Ich versuche, ihn zu umarmen, aber es ist unmöglich. »Und jetzt stell das Ding ab und setz dich hin. Rede wie ein Mann mit mir.«

»Wie ein was?«

In diesem Moment hören wir den mechanischen Ton des Abendgongs, der das Eintreffen der Nachtwachen zum abendlichen Lockdown ankündigt. »Schalte es ab«, zische ich, die Vorstellung, dass sie ihn wieder in Einzelhaft fortschleppen, lässt mich zusammenzucken. Obwohl sein Blick spielerisch bleibt, sieht man allmählich die Spuren der Jahre, die er unter Folter im Gefängnis verbracht hat. Die Adern an seinen Schläfen sehen schief und zerklüftet aus. Seine Hände zittern, als er sie stillzuhalten versucht. Manchmal erstarrt sein Kiefer mitten im Satz.

Ich sehe ihn als Ganzes. Trinculo ist ein Pilot mit bester Ausbildung und Expertise. Weiterhin ist er Ingenieur, außerdem Erfinder und Illustrator, er hat mehr Talente als jeder andere. Manche halten ihn für verrückt – bis seine Ideen auf die Probe gestellt werden und voilà! sich seine Genialität aufs Neue bestätigt. Trotzdem haben, auch wenn sein Verstand historisch gesehen schärfer ist als der von da Vinci oder Hawkins, seine Eskapaden im Laufe der Jahre seine Beiträge zur Kultur überholt.

Die Grenze zwischen Genie und Wahnsinn war schon immer dünn wie eine Epidermis-Schicht. Die Wahrheit lautet: Trinculo hat CIEL, dieses schwebende Totenhaus, entworfen und konstruiert. Und er verfügt, das wissen aber nur er und ich, noch immer über das Wissen, dessen Zwecke neu auszurichten.

Er schaltet seine Maschine ab. Einen Moment lang, das muss ich zugeben, fühlt es sich an, als habe sämtliche Hoffnung und Freude den Raum verlassen. »Mich hinsetzen wie ein Mann? Niemals! Als Genital-Entrepreneur wäre es mir hingegen ein Vergnügen, mit dir zu plaudern«, antwortet er. »Außerdem habe ich Neuigkeiten.« Er setzt sich und verschränkt die Beine, als sei er der normalste Mensch der Welt.

»Genital-Entrepreneur, ach so?« Ich senke meine Stimme. Uns bleibt nicht viel Zeit, bevor er gehen muss.

»Zu Euren Diensten. Du brauchst nur deine Fantasie zu öffnen. Und deine Beine.«

»Du weißt ebenso gut wie ich, dass zwischen meinen Beinen fast nichts mehr übrig ist. Genau wie zwischen deinen.« Der Satz macht den Raum zu einer Beerdigung. Unser ganzes Leben und all unsere Verluste zu einer Farce reduziert. Komödie und Tragödie verbinden sich in einem Kuss.

»Umso mehr Grund, an Bord zu klettern, meine nervöse kleine...


Max, Claudia
Claudia Max studierte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Literaturübersetzen mit dem Schwerpunkt Anglistik/Amerikanistik. Seit 2008 ist sie freiberufliche Literaturübersetzerin und hat bisher ca. 80 Werke aus dem Englischen übertragen. 2010 war sie Stipendiatin der Berliner Übersetzerwerkstatt, ihre Arbeit wurde mehrfach mit Stipendien des Deutschen Übersetzerfonds gefördert. 2023 war sie für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. Sie lebt in Berlin, aber am liebsten ist sie auf Reisen, in Büchern und in der Welt.

Yuknavitch, Lidia
Lidia Yuknavitch zählt zu den herausragenden neuen weiblichen Stimmen der amerikanischen Literatur. Sie ist preisgekrönte Autorin mehrerer Romane, Kurzgeschichten und des gefeierten Memoirs »In Wasser geschrieben«. Zu ihren Fans zählen u.a. Rebecca Solnit und Roxane Gay. Ihr TED-Talk »The Beauty of Beeing a Misfit« wurde mehr als 2 Millionen Mal angeschaut. Lidia Yuknavitch lehrt an der University of Oregon Kreatives Schreiben, Literaturwissenschaft und Womens Studies. Sie ist eine hervorragende Schwimmerin.



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