Yücel | Taksim ist überall | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Reihe: Nautilus Flugschrift

Yücel Taksim ist überall

Die Gezi-Bewegung und die Zukunft der Türkei (Solidaritätsausgabe)
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-96054-060-1
Verlag: Edition Nautilus GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Die Gezi-Bewegung und die Zukunft der Türkei (Solidaritätsausgabe)

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Reihe: Nautilus Flugschrift

ISBN: 978-3-96054-060-1
Verlag: Edition Nautilus GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Solidaritätsausgabe für den Journalisten und Autor Deniz Yücel, seit Februar 2017 in Untersuchungshaft in der Türkei, mit einem aktuellen Vorwort von Doris Akrap (taz), Daniel-Dylan Böhmer (DIE WELT) und Özlem Topçu (DIE ZEIT).
"›Taksim ist überall‹ ist ein Buch über Gezi im Geiste Gezis, engagiert, humorvoll und romantisch. Yücel verliert aber nie die Distanz, er ergänzt seine geografischen durch historische Ausflüge, ordnet ein, setzt Gezi in Beziehung zu den Protesten vergangener Jahre – und holt die Bewegung gerade dadurch auch vom Sockel. Gezi wird die türkische Gesellschaft wach halten." Iris Alanyali, DIE WELT, 2014
Ein Solidaritätseuro pro verkauftem Exemplar geht, zusätzlich zum regulären Honorar, an den Deniz Yücel.

Die Edition Nautilus dankt der Bookwire GmbH, die die Erstellung dieser E-Book-Ausgabe übernommen hat, für die Unterstützung.

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Weitere Infos & Material


1. Taksim: Ein politischer Platz
Ein Foto in der Vitrine meiner Eltern
Meine früheste Erinnerung an den Taksim-Platz ist ein Foto. Es stand im Vitrinenschrank meiner Eltern, in ihrer Wohnung im südhessischen Flörsheim am Main, wo meine Schwester Ilkay und ich als Kinder einer Arbeiterfamilie aus der Türkei aufgewachsen sind. Vielleicht ist es mir deshalb in Erinnerung geblieben, weil es nicht zu den übrigen Fotos passte. Diese waren allesamt Porträts oder Gruppenbilder: ein Hochzeitsfoto meiner Eltern, meine Mutter Esma in jungen Jahren mit ihren Schwestern, mein Vater Ziya mit Geschwistern, meine Großeltern, außerdem das verschwommene Foto eines bärtigen Mannes mit grimmiger Miene, von dem ich irgendwann erfuhr, dass es sich um meinen Urgroßvater väterlicherseits handelte, Opa Alim, und dass diese Aufnahme die einzige war, die von ihm existierte. Die Menschen auf diesen Bildern hatten sich herausgeputzt und blickten feierlich. Und alle Fotos waren in Schwarz-Weiß, vielleicht wirkten sie deshalb auf mich wie Dokumente aus einer fernen Zeit. Nur eins der Bilder in der Vitrine war anders. Darauf zu sehen war eine Menschenmenge. Ihre Gesichter waren kaum zu erkennen, man konnte aber gut sehen, dass viele ihre geballten Fäuste in die Luft streckten. Hinter ihnen war ein riesiges Transparent mit der Aufschrift »1. Mai« und dem Bild eines stilisierten Arbeiters mit Schnauzbart und traurigem Gesichtsausdruck, eine Hand an eine Kette gefesselt, in der anderen eine rote Fahne haltend. Der Stil der siebziger Jahre. Auch meine zweite Erinnerung an Taksim ist eine indirekte. Es ist die Strophe aus einem Lied: »Es waren fünfhunderttausend Arbeiter / Wir kamen auf den Taksim-Platz / Was für ein Istanbul haben wir gesehen / Man wird fragen, eines Tages.« Es ist ein Lied des Musikers Ruhi Su. Ruhi Su war ein Überlebender des Völkermordes an den Armeniern, ein gelernter Opernsänger mit tiefer Bassstimme, der als Erster die türkische Volksmusik politisierte. Ich weiß nicht, wann ich dieses Lied zuletzt gehört hatte, es war vielleicht zwanzig Jahre her oder mehr. Aber als ich in jenen Tagen im Juni 2013, als sich die Polizei aus dem Stadtzentrum zurückgezogen hatte und Zehntausende auf dem Taksim-Platz wie im anliegenden Gezi-Park eine riesige Party feierten, zum ersten Mal über den Taksim-Platz lief, waren diese Zeilen das Erste, das mir durch den Kopf ging: »Was für ein Istanbul haben wir gesehen …« Ja, pathetisch und kitschig. Aber es gibt keine Revolution ohne Pathos. Vielleicht gibt es auch keine ohne ein bisschen Kitsch. Auch das Foto mit der Menschenmenge, die sich vor demselben Gebäude, dem Atatürk-Kulturzentrum am Taksim-Platz, versammelt hatte, fiel mir wieder ein. Dort hingen nun zahlreiche Transparente und ein Konterfei: das von Deniz Gezmis, dem 1972 hingerichteten Anführer der türkischen Studentenbewegung, nach dem mich meine Eltern benannt haben. Mit den Protesten von Gezi, mit der dort entstandenen Parole »Taksim ist überall, Widerstand ist überall«, ist der Taksim-Platz zu einem Symbol geworden. Aber für türkische Linke und Linksliberale, Kommunisten und Anarchisten, Sozialdemokraten und Gewerkschafter und für all jene, die von Herzen irgendwie links sind, war Taksim vorher schon ein heiliger Ort. Und das hat mit jenen Ereignissen zu tun, die Ruhi Su in diesem Lied besang und die auf dem beschriebenen Foto dokumentiert waren. Die Rede ist vom 1. Mai 1977. Das Heiligtum der Linken
Am 1. Mai 1977 versammelt sich eine riesige Menge rund um den Taksim-Platz. Eine halbe Million Menschen sollen es sein, die bis dahin größte Demonstration der neueren türkischen Geschichte. Zum Ende der Rede von Kemal Türkler, dem später von Mitgliedern der rechtsextremen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) erschossenen Vorsitzenden des Gewerkschaftsverbands DISK, fallen Schüsse – just in dem Moment, als er fragt: »Wollt ihr, dass dieser Platz in ›Platz des 1. Mai‹ umbenannt wird?« Vom heutigen Marmara-Hotel sowie vom Dach der Wasserbehörde wird geschossen. Panik bricht aus, die von der Polizei verstärkt wird, die mit Panzerwagen in die Menge fährt. Die meisten Menschen aber sterben im Gedränge in einer steilen Nebengasse, wo ein abgestellter Kleinlastwagen den Fluchtweg versperrt. Mindestens 34 Menschen kommen ums Leben. Die Täter und Auftraggeber wurden nie ermittelt. Doch bis heute hat sich ein Verdacht erhalten, den Bülent Ecevit, der Vorsitzende der Republikanischen Volkspartei (CHP) und fünfmaliger Ministerpräsident, kurz nach dem Massaker formulierte: Es war ein Werk der Konterguerilla. Viele gehen davon aus, dass es eine Abschreckungsmaßnahme war. Manche vermuten zudem, dass es sich um die Putschvorbereitung eines Teils der Armee handelte. Das denkt auch Celalettin Can. Er war an diesem Tag auf dem Taksim-Platz, als Istanbuler Vorsitzender des Studentenverbandes Devrimci Gençlik (Revolutionäre Jugend). Zwei Jahre zuvor war er als 19-Jähriger aus der kurdisch-alevitischen Provinz Tunceli zum Studieren gekommen. »Naja«, sagt er, »eigentlich kam ich, um Revolution zu machen.« Aus seinem Studentenverband entstand die Zeitschrift Devrimci Yol (Revolutionärer Weg), die an diesem 1. Mai 1977 erstmals erschien und um die sich eine unorthodoxe, linke Massenorganisation entwickeln sollte. Am Taksim-Platz stellte Devrimci Gençlik den größten Demonstrationsblock; die meisten derer, die dort starben, stammten aus ihren Reihen. Heute ist Can 57 Jahre alt, arbeitet als Kolumnist der prokurdischen Tageszeitung Gündem und als Buchautor. Er gehörte dem »Rat der Weisen« an, einer von der Regierung eingesetzten Kommission, die den Friedensprozess mit der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) begleiten soll. Und er ist Vorsitzender der 78er-Stiftung, die sich um die Aufarbeitung der Verbrechen der Junta bemüht. Was seine Generation von den 68ern unterscheidet? »In den Siebzigern wandelte sich die Türkei von einer Agrar- in eine Industriegesellschaft«, sagt Can. »Und es war eine Zeit, in der die Linke erstmals Millionen auf die Straße brachte.« Aus seiner Generation seien weitaus mehr Menschen umgebracht worden als vor und nach dem Putsch von 1971. Über 4.000 Tote, einschließlich der hingerichteten oder von Linken getöteten Anhänger der Grauen Wölfe. »Die Putschisten von 1971 haben zwar Deniz Gezmis gehängt, Mahir Çayan, Ibrahim Kaypakkaya und andere getötet. Aber sie haben es nicht geschafft, deren Andenken zu beschmutzen. Dafür hat man später so getan, als seien die 68er Figuren aus einem Märchen und hätten nichts mit dieser Gesellschaft zu tun. Meiner Generation erging es anders. Nach dem Putsch von 1980 erzog der Staat die Kinder nicht mehr mit der Angst vor Dracula, Frankenstein und Tepegöz, sondern mit der Angst vor den Ereignissen vor 1980.« Can hat sein Büro in einer Seitengasse der Einkaufsstraße Istiklal. Aus den großen Fenstern sieht er das Abbruchviertel Tarlabasi. Und wenn er den Blick ein wenig schräg richtet, sieht er ein Stück des Gezi-Parks und des Taksim-Platzes. »Wenn ich hier sitze, ist mein Blick immer dahin gerichtet«, sagter. »Unser Blick ist immer auf den Taksim-Platz gerichtet.« Dabei spielte der Taksim-Platz für die türkische Linke bis zur Mai-Kundgebung im Jahr vor dem Massaker keine Rolle. Die einzig nennenswerte Demonstration dort richtete sich 1969 gegen die Landung der 6. US-Flotte und wurde von Rechtsextremisten und Islamisten angegriffen. Zwei linke Studenten starben dabei, die Angreifer kamen aus jener Moschee am Dolmabahçe-Palast, in die über vierzig Jahre später die Demonstranten flüchten sollten. Als »Blutsonntag« ging dieses Ereignis in die türkische Geschichte ein – ein Ereignis freilich, das heute nur den wenigsten jungen Leuten bekannt ist. Anders die Ereignisse von 1977, an die zahlreiche Plakate im Gezi-Park erinnerten. Warum ist diese Erinnerung so lebendig? »Bis dahin war die Linke am Wachsen gewesen. Es gab einen gesellschaftlichen Aufbruch, am Taksim-Platz herrschte bis zu den Schüssen eine euphorische Stimmung. Der 1. Mai war ein Bruch«, sagt Can. Manche Menschen hätte es verschreckt, dass der Staat gegen eine derart große Menge vorging, noch dazu an einem so sichtbaren Ort. Andere hätten der Behauptung geglaubt, dass das Massaker Folge einer innerlinken Rivalität gewesen sei – eine bis heute vorgetragene These, der Can widerspricht: »Es gab Spannungen zwischen der Gewerkschaft und der moskauorientierten Türkischen Kommunistischen Partei auf der einen Seite und den maoistischen Gruppen auf der anderen. Aber als die Schüsse fielen, hatten die Maoisten den Platz gar nicht betreten. Das ist eine Propagandalüge, der die Linken aber mit ihren Konflikten untereinander Vorschub geleistet haben.« Auch diese linke Selbstzerfleischung habe sich nach dem 1. Mai verstärkt. Davon bleibt auch die Devrimci Yol nicht verschont. Die...


Deniz Yücel, geboren 1973 in Flörsheim am Main und seit Mai 2015 Türkei-Korrespondent der WELT. "Journalist des Jahres 2014" (Sonderpreis), Träger des Kurt-Tucholsky-Preises für Literarische Publizistik 2011. Hat in Berlin Politikwissenschaft studiert und vor seinem Wechsel zur WELT als Redakteur der tageszeitung und zuvor als Redakteur der Wochenzeitung Jungle World sowie als freier Autor für verschiedene Medien gearbeitet. Veranstaltet seit 2012 mit Yassin Musharbash (DIE ZEIT) und Mely Kiyak (Berliner Zeitung) die Lesung "Hate Poetry", eine Bühnenshow mit rassistischen Leserbriefen.



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