E-Book, Deutsch, 480 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Young Play On - Dunkles Spiel
18001. Auflage 2018
ISBN: 978-3-8437-1719-9
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 480 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-1719-9
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Samantha Young wurde 1986 in Stirlingshire, Schottland, geboren. Seit ihrem Abschluss an der University of Edinburgh arbeitet sie als freie Autorin und hat bereits mehrere Jugendbuchserien geschrieben. Mit der Veröffentlichung von »Dublin Street« und »London Road«, ihren ersten beiden Romanen für Erwachsene, wurde sie zur internationalen Bestsellerautorin.
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Siebtes Kapitel
Edinburgh, Schottland
August 2015
Während der Busfahrt von Sighthill zur Princes Street, blickte ich aus dem Fenster und beobachtete die Leute. Langsam rollten wir Richtung Westen zur Stadtmitte. Ich beobachtete gern andere Menschen, stellte mir vor, wie sie lebten. Der Bus blieb im Verkehr stecken, und ich bemerkte ein älteres Paar, das händchenhaltend die belebte Straße hinunterschlenderte. Ihre Schultern berührten sich, während sie sich lächelnd etwas zu murmelten.
War das eine Sandkastenliebe? Ein Beispiel für die ewige Liebe, von der man hörte, sich aber nie träumen ließ, sie selbst zu erleben? Sechzig Jahre, und noch immer so verliebt wie am Anfang.
Oder waren es Verwitwete, Geschiedene, die sich erst spät im Leben begegnet waren, endlich die Liebe ihres Lebens gefunden hatten und sie nun genossen, statt den Jahren nachzutrauern, die sie ohne den anderen verbracht hatten?
Ich lächelte wehmütig, als der Bus weiterfuhr und das ältere Paar zurückließ.
»Es ist heiß wie die Hölle hier!«, riss mich eine Frau in der gegenüberliegenden Sitzreihe aus meinen Gedanken, als sie den Fahrer ankeifte. »Wie wäre es denn, mal ein Fenster aufzumachen?«
Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Obwohl Schotten und ich unterschiedliche Ansichten darüber hatten, ab wann es heiß war, wusste sogar ich, dass dieser Monat ziemlich mild gewesen war. Und nass.
»Hören Sie, nur weil Sie in der Menopause stecken, heißt das noch lange nicht, dass wir darunter leiden müssen, ist das klar?«, mischte sich ein hinter ihr sitzender Typ ein.
Innerlich seufzend schob ich mir rasch meine Kopfhörer in die Ohren, um die bevorstehende Zankerei auszublenden.
Ich war froh, aus dem Bus auszusteigen, den gepflasterten Bürgersteig entlang der Princes Street zu gehen und weiter am Bahnhof Edinburgh Waverly vorbei. Als Hoziers »Take Me to Church« den Verkehrslärm, die Hektik und das Geschnatter der Passanten übertönte, spürte ich große Zufriedenheit. Ich liebte es, mich in der Stadt aufzuhalten; mich aus meinem winzigen Apartment in einem hässlichen grauen städtischen Gebäude eine Straße von Angies Haus entfernt dorthin zu flüchten.
Ich schätze, deswegen hatte ich den Job in Old Town angenommen, statt mir etwas näher bei meinem Apartment Gelegenes zu suchen. Angie hielt mir entgegen, ich würde Fahrgeld für den Bus verschwenden. Aber ich brauchte diese Fluchtmöglichkeit.
Ich ging die steile, kurvige Straße hoch, die in die Royal Mile mündete, und als ich an meiner Arbeitsstelle vorbeikam, spähte ich kurz hinein. Leah, die Inhaberin und meine Chefin, unterhielt sich lächelnd mit einer Kundin. Die Schaufensterpuppen im Fenster präsentierten Kleider im Vintage-Stil und hübsche Strickjacken. Die Boutique namens Apple Butter war klein, aber wegen ihrer Spitzenlage in der Cockburn Street (Co-burn ausgesprochen, zum Glück, denn ehrlich, wer würde denn eine Straße nach etwas benennen, was einem Mann passiert, wenn er sich zu lange einen runterholt?) immer gut besucht. Die Straße war kopfsteingepflastert, fast so wie die Royal Mile, und entlang der breiten, highheelfreundlichen Bürgersteige fand man zahlreiche kleine Läden, in denen Schmuck, Antiquitäten und Mode verkauft wurden. Es gab auch Pubs, Cafés und ein Tattoostudio.
Ich erklomm rasch den steilen Hügel; folgte der Kurve, die vom Apple Butter wegführte. Heute war mein freier Tag, und ich hatte anderswo zu tun. Ich hätte auch mit dem Bus fahren können, aber mir gefiel der Spaziergang durch die Stadt, durch Old Town.
In der Nähe des Universitätskomplexes machte ich bei meinem neu entdeckten Coffeeshop Halt und ging direkt in die Damentoilette. Dort zog ich dunkelgrüne Leggins und ein dunkelgrünes Hemd mit kurzen Fransenärmeln und gezacktem Saum an. Dann faltete ich meine Jeans und meinen Pulli ordentlich zusammen, verstaute sie in meinen Rucksack und erstarrte, als ich in den Spiegel blickte.
Der Anblick meiner kalten, harten, müden Augen jagte mir Angst ein.
Meine Befürchtung hatte sich bestätigt.
Die Augen meiner Mom starrten mich aus dem Spiegel an.
Ich zupfte an den Haaren in meinem Nacken herum und fragte mich, ob sie mich jetzt noch erkennen würde.
Ich erinnerte mich an den Morgen, an dem ich meine Haare hatte abschneiden lassen.
»Was hast du gemacht?« Seonaid starrte mich entgeistert an.
Ich war immun gegen ihren Schock. Gegen jeglichen Schock. »Ich habe sie abschneiden lassen.«
Sie stürzte auf mich zu und berührte eine kurze Strähne. »Du hast sie nicht nur abschneiden lassen. Du hast sie massakriert.«
Das stimmte. Meine Haarmähne existierte nicht mehr. Ich hatte den Haarstylisten gebeten, mir einen Pixiecut zu verpassen. »Bist du sauer, weil ich mir einen Kurzhaarschnitt habe machen lassen, oder sauer, weil ich damit nicht zu dir gekommen bin?«
»Wir wissen beide, dass ich mich geweigert hätte.« Seonaid schüttelte den Kopf. Ihre Augen schwammen in Tränen. Sie weinte ständig. Vergoss genug Tränen für uns beide. »Er hat deine Haare geliebt.«
»Mag sein, aber er ist nicht mehr hier.«
»Nora …« Ihr Gesicht verzerrte sich, und plötzlich lag ich in ihren Armen.
Ich erwiderte ihre Umarmung, so fest ich konnte, und flüsterte tröstende Worte, während sie von harten, zittrigen, herzzerreißenden Schluchzern geschüttelt wurde.
»Wir müssen gehen«, murmelte ich endlich. »Wir müssen Angie abholen.«
Seonaid trat widerstrebend ein paar Schritte zurück und wischte sich die Mascarareste aus den Augenwinkeln. Ich hielt inne, um in den Spiegel zu blicken, der neben der Eingangstür an der Wand hing. Jim hatte ihn dort für mich angebracht, als wir eingezogen waren. Ich strich mein schwarzes Kleid glatt, betrachtete mich von oben bis unten und fühlte mich seltsam losgelöst von dem Bild, das sich mir bot. Wer war die junge Frau in Witwenkleidung mit so kurz geschnittenem Haar, dass ihre Augen übergroß wirkten? Zu groß und zu leer, als wären sämtliche Gefühle an diesem Morgen im Supermarkt hinausgeschwemmt worden. Ich erinnerte mich daran, wie ich in Angies Armen zusammengebrochen war. Ich erinnerte mich daran, so heftig geweint zu haben, dass ich dachte, ich würde nie wieder atmen können. Meine Tränen schienen all meinen Kummer mitgerissen zu haben, als sie auf meine Kleider und auf Angies Schulter liefen.
Jetzt empfand ich … gar nichts mehr.
Ich blinzelte, als ich mich aus der Erinnerung löste. Meine Haare waren immer noch kurz. Aber ich fühlte mich nicht länger betäubt.
Die Gefühle, die mich einige Monate nach Jims Beerdigung übermannten, waren zu viel für mich. Die Kraft, von welcher Art auch immer sie war, die mich in einen Stahlpanzer aus Leere gehüllt aufrechtgehalten und angetrieben hatte, verflog im Lauf der Zeit. Bis die Gefühle meinen dünner werdenden Panzer zu durchdringen begannen, hatte ich mich nicht mit ihnen auseinandersetzen wollen, weil ich Angst davor hatte, wer ich sein würde, wenn der Verarbeitungsprozess beendet war.
Wie sollte eine junge Frau weitermachen, nachdem der Mann, von dem sie sich scheiden lassen wollte, im zarten Alter von vierundzwanzig Jahren plötzlich an einem Aneurysma im Gehirn gestorben war?
Ich strich mein Kostüm glatt, nahm meinen Rucksack, trat in den Coffeeshop hinaus und stellte mich in die Schlange, um mir einen Americano to go zu holen, während das gesamte Personal kaum Notiz von meiner Kleidung nahm. Nach ein paar Monaten wöchentlicher Routine waren die Baristas an mich gewöhnt.
Mit meinem Kaffee spazierte ich in die Welt hinaus, ohne mich zu wundern, dass niemand mich beachtete, als ich an den Universitätsgebäuden vorbei die Straße hinunterging. Genau aus diesem Grund liebte ich diesen Teil von Edinburgh und die Stadt im Allgemeinen. Die Leute waren es gewöhnt, dass jeder sein eigenes Ding machte, und schenkten jemandem, der etwas ungewöhnlich gekleidet war, keinerlei Aufmerksamkeit.
Ich durchquerte The Meadows, den Park hinter der Universität, wo die Einheimischen an sonnigen Tagen picknickten, Soccer oder anderes spielten und die Kids auf dem Spielplatz lachten und herumtobten. Heute war der Himmel wolkenverhangen, aber das kümmerte keinen – es war der Festivalmonat. Das Edinburgh International Festival oder kurz The Fringe, wie ich gelernt hatte, vereinnahmte im August die gesamte Stadt. Die Straßen wimmelten von Touristen, und Reklametafeln, Wände und Geschäftsfassaden waren mit Werbung für Shows von bekannten Comedians und ehrgeizigen Newcomern übersät. Es gab Schauspiele, Einmannshows, Bücherfestivals, Kunstevents und Filmpremieren aus aller Welt. Jim hatte das Spektakel gehasst. Er konnte es nicht leiden, wenn wir in unserem Lieblingspub oder Restaurant in der Innenstadt keinen Platz mehr bekamen und man wirklich überall über Touristen stolperte. Das Einzige, was ihm gefiel, waren die Biergärten, die überall wie Pilze aus dem Boden schossen.
Aber ich mochte The Fringe. Ich liebte die Energie und das pulsierende Leben, die Gerüche und den Lärm.
Es gefiel mir, dass man so leicht in der Menge untertauchen konnte.
Und The Meadows voller Zelte und Menschen war für mich ein wesentlich leichter zu ertragender Anblick als der, der sich mir vor einigen Wochen geboten hatte. Überall Studenten. Sie saßen umgeben von aufgeschlagenen Büchern unter den Bäumen und lasen. Ich hatte immer rasch den Blick abgewandt, weil die in mir schlummernde Sehnsucht an Verrat grenzte....