Yazbek Die gestohlene Revolution
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-312-00685-4
Verlag: Nagel & Kimche
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Reise in mein zerstörtes Syrien
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
ISBN: 978-3-312-00685-4
Verlag: Nagel & Kimche
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Samar Yazbek wurde 1970 in Dschabla (Syrien) geboren. Sie studierte Literatur, veröffentlichte Romane und Erzählungen und engagierte sich als Journalistin für Bürgerrechte und die Rechte der Frauen. Außerdem war sie Herausgeberin der Online-Zeitschrift "Woman of Syria" und Autorin der Gruppe Beirut 39. Als im März 2011 die syrische Revolution begann, schrieb Yazbek ein Protokoll der Protestbewegung. Sie befragte Demonstranten, aus der Haft entlassene Dissidenten, aber auch Polizisten und Militärs. Bald wurde sie selbst verfolgt und vom syrischen Geheimdienst massiv eingeschüchtert. Als sie erfuhr, dass ihr Name auf einer Todesliste steht, floh sie mit ihrer Tochter ins Ausland. 2012 erhielt sie für ihr schriftstellerisches Engagement den PEN-Pinter-Preis.
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AUGUST 2012
Der Stacheldraht kratzte mir den Rücken auf. Ein Zittern setzte sich in meinem Kopf fest. Der Stacheldraht, der sich die Grenze entlang erstreckte, war so tief untergraben, dass man darunter durchkriechen konnte. Ich schaffte es, mich durch den Graben zu zwängen, und begann schnell zu laufen. Eine halbe Stunde lang. So lange dauert es, die Grenze zwischen zwei Staaten zu passieren. Damals schlüpften nur wenige Ausländer mit mir über die Grenze. Und ich wusste noch nicht, dass ich diese Geschichten einmal aufzeichnen würde, denn angesichts der Allgegenwärtigkeit des Todes in meiner syrischen Heimat war ich mir nicht sicher, ob ich je wieder von dort zurückkehren würde. Doch in jenem Augenblick, als mein einer Fuß noch im Graben steckte und mein Rücken den Stacheldraht berührte, auf dieser kurzen Entfernung zwischen den beiden Grenzlinien … als ich den Kopf hob und zum ersten Mal zu dem so fernen, fast schwarzen Himmel blickte, nachdem wir stundenlang auf den Einbruch der Dunkelheit gewartet hatten, um die Grenze überqueren zu können, ohne von den türkischen Soldaten bemerkt zu werden … In diesem Augenblick atmete ich tief ein, richtete mich auf und begann zu laufen, wie man uns angewiesen hatte. Ich lief und lief, um die Gefahrenzone hinter mir zu lassen. Der Boden war uneben und felsig, aber ich lief ganz leichtfüßig. Ein aus meinem Herzen ragender Kran trug mich und schwang mich durch die Luft. Ich war zurück! Ich war wieder da! Keuchend stammelte ich vor mich hin: «Ich bin zurückgekehrt!» Es war keine Szene aus einem Film. Es war Realität! Ich lief und stammelte: «Ich bin zurück … ich bin wieder da!»
Wir hörten das Pfeifen von Schüssen, das Poltern von Militärfahrzeugen, die auf der anderen Seite entlangfuhren, aber wir schafften es, uns in Sicherheit zu bringen und zu laufen.
Es schien, als sei alles seit langer Zeit vorherbestimmt.
Ich bedeckte meinen Kopf, zog eine lange Jacke an und schlüpfte in eine weite Hose, dann mussten wir einen hohen Hügel hinaufsteigen, bevor wir auf der anderen Seite zu einem Auto hinunterliefen, das bereits auf uns wartete. Die Nacht war hereingebrochen, alles wirkte ganz normal; zumindest glaubte ich das. Als ich später die Grenze noch mehrmals überwinden sollte, ergab sich ein anderes Bild.
Bereits der Aufenthalt am Flughafen im türkischen Antakya hätte einen Hinweis geben können, wie viele Menschen innerhalb der letzten eineinhalb Jahre nach Syrien eingereist waren. Auch später auf meinen Reisen im Land bestätigte sich das, und es wurde deutlich, was für einen rasanten und tiefgreifenden Wandel die Region durchgemacht hatte. Doch als ich nun mit schmerzenden Beinen den Hügel hinunterlief, dachte ich nicht an all das. Ich erreichte den Fuß des Hügels, dann ließ ich mich auf die Knie fallen, rang mehr als zehn Minuten lang nach Luft und versuchte, mein Herz zur Ruhe kommen zu lassen. Meine Begleiter glaubten, ich sei so aufgeregt darüber, mein Land zu sehen. Aber in diesem Moment ging es nicht um Pathos – wir waren einfach so lange gerannt, dass es mir die Brust zerreißen wollte und ich gar nicht aufstehen konnte.
Schließlich stiegen wir in das Auto, und ich kam wieder zu Atem. Hinten saßen wir zu dritt, vorne saßen zwei neben dem Fahrer. Maisara und Mohammed, die später ein Teil meiner Welt werden sollten. Sie waren beide Kämpfer, zwei sehr unterschiedliche Charaktere aus der Familie, die mich in Obhut nehmen würde. Der zwanzigjährige Mohammed würde mein Freund und Mitarbeiter werden.
Wir befanden uns im Umland von Idlib, einer Region, die noch nicht vollständig von der Herrschaft der Assad-Truppen befreit war. Wir passierten endlose Olivenhaine. Unterwegs wurden wir immer wieder von Checkpoints der Freien Syrischen Armee aufgehalten. Wir traten durch das erste Tor in das Land des Nichts. Sahen bewaffnete Kämpfer, die das Siegeszeichen machten. Es war eine lange Fahrt. Ich versuchte, der Realität Bilder zu entlocken, streckte meinen Kopf aus dem Autofenster und löste mich von meiner Umgebung. In der Ferne hörte man Detonationen, das Auto fuhr und fuhr, die Strecke schien kein Ende zu nehmen. Ich war zugleich freudig erregt und nervös, als ich das befreite Gebiet sah. Dies war befreites Territorium, doch es gab keinen Grund zu lachen. Der Himmel brannte. Vier voneinander isolierte Szenen drängten sich meinem Auge auf. Ich betrachtete sie nicht nur mit zwei Augen, auch im Nacken wuchsen mir Augen. An meinen Ohren und sogar an den Fingerspitzen. Wie ein Ungeheuer in einer alten Legende. Ich starrte hartnäckig geradeaus, aber das Bild zerfiel in vier Teile: die zerstörten Fahrzeuge, der brennende Himmel, ein Auto mit einer Frau darin und drei Männer auf ihrem Weg nach Saraqib.
Alle Details dieses Berichts sind Realität. Nur eine einzige fiktive Person gibt es dabei, die mit der Erzählung spielt. Ich bin die Einzige, die diese Zerstörung durchqueren kann, als sei ich eine fiktive Person in einem Buch. Ich sauge die Realität auf. Ich beobachte die Details, die Wirklichkeit, das Geschehen nicht auf der Grundlage dessen, was ich bin, sondern ich tue so, als sei ich eine Romanfigur. Ich überlege mir, welche Wahl eine fiktive Person in einem Roman hätte, damit ich weitermachen kann. Die wirkliche Frau lasse ich beiseite. Ich werde die Andere, die Fiktive, deren Reaktionen dem entsprechen müssen, wofür sie gelebt hat. Was ist es, was die eigene Existenz gewährleistet? Die Identität? Das Exil? Die Gerechtigkeit? Der irre Blutrausch? Und all diese Straßen, über die das Auto in tiefer Dunkelheit zum Haus der Familie fuhr, die ein Teil meiner Welt werden sollte.
Seltsam, dass mir manche Ereignisse jetzt ganz plötzlich wieder einfallen, denn bei dieser ersten Reise hatte ich nicht geplant, sie aufzuschreiben. Nachdem ich das Land im Juli 2011 hatte verlassen müssen, war ich nun im August 2012 nach Syrien zurückgekehrt, um im Norden des Landes Frauen- und Schulprojekte zu initiieren. Ich suchte nach einem umsetzbaren Projekt, durch das wir zivile demokratische Institutionen in jenen Regionen gründen könnten, die außerhalb des Machtbereichs des Regimes lagen. Ich dachte nicht im Geringsten daran, dieses Tagebuch zu schreiben, sondern wollte eigentlich bald meinen neuen Roman beginnen. Doch als ich das Land wieder verließ, änderte ein kleines Ereignis den Lauf der Dinge und bewog mich dazu, dieses Zeugnis abzulegen: Als wir von Sarmada aus wieder zurück in die Türkei wollten, trafen wir auf ein paar junge Kämpfer. Was einer von ihnen erzählte, veranlasste mich, meinen Stift zur Hand zu nehmen und seinen Bericht in einem kleinen Heft zu notieren. In dem Augenblick, als er sagte: «Wir wollen einen zivilen Staat», da beschloss ich zu schreiben.
Es war am letzten Tag kurz vor unserer Abreise, am Checkpoint des Al-Faruq-Bataillons. Ein junger Mann erzählte mit blitzenden Augen, wie er von den Spezialtruppen der Armee desertiert war, weil er sich geweigert hatte, Menschen zu töten. Dann setzte er hinzu: «Wie soll ich mich dem Tod in die Arme werfen? Wer will schon den Tod? Niemand! Aber wir waren wie Tote, dabei wollten wir einfach nur leben.»
Der Himmel war blau, nichts trübte unsere Freude über die Befreiung großer Teile im Norden Syriens, nicht das Pfeifen der Schüsse, nicht die Straßensperren, nicht einmal all die zerstörten Gebäude beidseits der Straße. Wir hatten Sarmada mit seinen bunten Mauern, auf die die Fahne der Revolution gemalt war, noch nicht lange hinter uns gelassen.
«Wir wollen einen zivilen Staat», wiederholte der andere junge Mann. Der Erste sagte: «Diese verdammten Offiziere! Das sind alles Alawiten!» Darauf schaute der andere ihn bestürzt an und stammelte: «Nein, nicht alle.»
Ich hörte genau zu, als mir der junge Kerl die Geschichte seiner Desertion zum zweiten Mal erzählte. Plötzlich kam sein Freund zu ihm und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Jüngere mit den leuchtenden Augen und dem honigfarbenen Pony schaute mich verblüfft an. Er ließ seine Waffe auf den Boden fallen. Ich sah ihm in die ängstlichen Augen. Er drehte sein Gesicht weg.
Der Himmel hatte sich nicht verändert. Er war immer noch blau. Und der Steinberg, den wir hinter uns gelassen hatten, starrte immer noch schweigend, aber ich konnte ein Knacken hören, als der junge Mann mir sein Gesicht wieder zuwandte. Es war der gleiche junge Mann, der mit seiner Waffe an einem Checkpoint gestanden und dem Himmel seinen Zorn entgegengestreckt hatte. Er biss sich auf die Lippen und sagte mit zitternder Stimme: «Verzeihen Sie mir, ich habe es wirklich nicht gewusst.»
Sein kindliches Gesicht wurde wieder milde. Die bewaffneten Männer unter der Brücke blickten neugierig zu uns herüber. In der Nähe flatterte eine weiße Fahne, auf der stand: «Es gibt keinen Gott außer Gott, und Mohammed ist sein Prophet.» Zwei der Männer hatten sich lange Bärte wachsen lassen. Noch immer war der Himmel blau, doch der Soldat, der zum Kind geworden war, kam zu mir und sagte stotternd: «Ich hasse niemanden. Aber das sind Hunde, sie wollen, dass wir Menschen töten … Bitte verzeihen Sie!»
Der etwas ältere Kämpfer stand neben ihm. Mit zornigem Blick wiederholte er: «Wir wollen einen zivilen Staat. Ich bin im Faruq-Bataillon, und ich möchte einen zivilen Staat. Ich studiere Handelswissenschaften im zweiten Jahr.»
Wir blieben nicht lange bei ihnen. Ich sagte: «Kein Problem … Es ist nichts passiert.» Aber der junge Mann, dessen Augen nun weniger leuchteten, bestand darauf, mir zu erklären, dass er mich nicht hatte beleidigen wollen. Bevor wir weiterfuhren, sagte ich noch: «Aber ich bin keine Alawitin, und du bist kein Sunnit. Ich bin Syrerin und du bist Syrer.»
Erstaunt schaute er...




