E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Yates Eine gute Schule
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-641-24714-0
Verlag: DVA
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-641-24714-0
Verlag: DVA
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sein Haar ist seit Tagen nicht gewaschen, sein zerschlissenes Hemd ziert ein Muster aus Flecken. William Grove, fünfzehn Jahre alt und gerade als Stipendiat an der Dorset Academy angenommen, wird schnell ein Stempel aufgedrückt: Mit diesem Außenseiter möchte keiner der Internatsschüler etwas zu tun haben. Denn Grove kann nicht verbergen, dass er aus einfachen Verhältnissen stammt. Doch genau das soll er an der Dorset Academy, Hort englischer Erziehungstraditionen, lernen - seine Mutter hofft, dass ihrem Sohn sich so die Türen zur höheren Gesellschaft öffnen, die ihr, der großen Künstlerin, trotz aller Bemühungen verschlossen geblieben sind.
Mit viel Feingefühl zeichnet Richard Yates das bewegende Porträt eines Jungen, der seinen Platz in der Gesellschaft noch finden muss.
Richard Yates wurde 1926 in Yonkers, New York, geboren und lebte bis zu seinem Tod 1992 in Alabama. Obwohl seine Werke zu Lebzeiten kaum Beachtung fanden, gehören sie heute zum Wichtigsten, was die amerikanische Literatur des 20. Jahrhunderts zu bieten hat. Wie Ernest Hemingway prägte Richard Yates eine Generation von Schriftstellern. Die DVA publiziert Yates' Gesamtwerk auf Deutsch, zuletzt erschien der Roman 'Eine strahlende Zukunft'. Das Debüt 'Zeiten des Aufruhrs' wurde 2009 mit Leonardo DiCaprio und Kate Winslet in den Hauptrollen von Regisseur Sam Mendes verfilmt. 'Cold Spring Harbor', zuerst veröffentlicht 1986, ist Yates' letzter vollendeter Roman.
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Vorwort
Als junger Mann studierte mein Vater im Staat New York Gesang. Er hatte eine schöne, disziplinierte Tenorstimme, in der sich große Kraft mit großer Zartheit verband; ihn singen gehört zu haben zählt zu den schönsten meiner frühen Erinnerungen.
Ich glaube, er hat einige Male professionelle Engagements gehabt, in Städten wie Syracuse, Binghampton und Utica, doch es gelang ihm nicht, das Singen zum Beruf zu machen, stattdessen wurde er Handelsvertreter. Ich nehme an, es war als eine Art Übergangslösung gedacht, als er sich der General Electric Company in Schenectady anschloss, damit ein paar Dollar hereinkamen, während er weiter nach Engagements suchte, doch es dauerte nicht lange, dann hatte die Firma ihn geschluckt. Mit vierzig, als ich geboren wurde, lebte er schon längst in der Stadt und hatte sich in der Tätigkeit eingerichtet, die er den Rest seines Lebens ausüben sollte, als stellvertretender Regionalverkaufsleiter in der Sparte Mazda-Lampen (Glühbirnen).
Bei gesellschaftlichen Anlässen wurde er immer noch gebeten zu singen – »Danny Boy« schien allgemein der Lieblingswunsch zu sein –, und manchmal sang er dann auch, doch in späteren Jahren lehnte er immer häufiger ab. Drang man in ihn, trat er einen Schritt zurück und machte eine kleine verneinende Handbewegung, wobei er lächelte und zugleich die Stirn runzelte: Das alles, schien er zu sagen – »Danny Boy«, die Jahre im Norden, das Singen selbst –, sei doch Vergangenheit.
Sein Büro im General-Electric-Gebäude war kaum groß genug für einen Schreibtisch und eine gerahmte Fotografie von meiner älteren Schwester und mir, als wir noch klein waren; in diesem Kabäuschen verdiente er das, was er eben brauchte, um meiner Mutter jeden Monat, Jahr um Jahr, das Geld zu schicken, um das sie ihn bat. Sie waren fast so lange geschieden, wie meine Erinnerung zurückreicht. Er liebte meine Schwester sehr – das dürfte auch der Hauptgrund für seine nie nachlassende Großzügigkeit uns gegenüber gewesen sein; er und ich dagegen schienen, ungefähr ab meinem zwölften Lebensjahr, ständig voneinander irritiert zu sein. Zwischen uns herrschte offenbar immer die stillschweigende Übereinkunft, dass ich mit der Scheidung in den Besitz meiner Mutter übergegangen war.
In dieser Annahme lag ein Schmerz – für uns beide, würde ich sagen, auch wenn ich nicht für ihn sprechen kann –, aber auch eine ungute Gerechtigkeit. Sosehr ich es mir auch anders wünschen mag, bevorzugte ich eben doch meine Mutter. Ich wusste, sie war unvernünftig und verantwortungslos, sie redete zu viel, sie machte wegen nichts irrwitzige Szenen, und man konnte darauf rechnen, dass sie in einer Krise zusammenbrach, doch ich war allmählich zu der düsteren Ahnung gelangt, dass ich womöglich ganz ähnlich strukturiert war. In einer Art und Weise, die weder hilfreich noch besonders angenehm war, gereichten sie und ich einander zum Trost.
Die Bildhauerkunst und das Aristokratische hatten sie immer gleichermaßen angesprochen, und so wurde sie nach der Scheidung Bildhauerin und sehnte sich danach, dass reiche Leute ihre Arbeit bewunderten und sie an ihrem Leben teilhaben ließen. Beide Ambitionen, die künstlerische wie auch die gesellschaftliche, wurden immer wieder durchkreuzt, häufig auf demütigende Art, dennoch waren da gelegentlich hoffnungsfrohe Momente, in denen sich für sie alles hübsch zu fügen schien.
Einen solchen Moment gab es im Mai oder Juni 1941, als ich fünfzehn war. Seit ungefähr einem Jahr gab sie in ihrem Studio in Greenwich Village, das zugleich das Wohnzimmer unseres Apartments war, wöchentlich einen kleinen Bildhauerkurs, und eine ihrer Schülerinnen war ein reiches Mädchen von außergewöhnlicher Schönheit und Anmut namens Jane. Ich glaube, Jane hat meine Mutter wohl, wie viele andere auch (darunter ich), als verkannte Künstlerin romantisiert; wie auch immer, als sie den Bildhauerkurs verließ, um zu heiraten, lud sie uns zur Hochzeit ein.
Es war eine echte Hochzeit der feinen Gesellschaft, sie fand in Westchester County statt, auf dem riesigen Rasen des Hauses von Janes Eltern; so etwas hatten wir noch nie gesehen. Der Bräutigam, ein junger Marineoffizier in makelloser weißer Uniform mit Stehkragen und steifen schwarz-goldenen Epauletten, war fast so umwerfend wie die Braut. Ein Orchester spielte, ein eigens errichtetes, mit weißem Segeltuch besetztes Podest bildete die Tanzfläche, und kaum hatten Jane und ihr Marineoffizier die Torte mit seinem wild blitzenden Degen angeschnitten, tanzten dort, wie es schien, Hunderte hübscher Mädchen mit ihren Partnern.
Ich trug einen billigen, breitschultrigen Winteranzug, den mein Vater mir bei Bond’s am Times Square gekauft hatte und aus dem ich längst herausgewachsen war. Und wenn ich mich schon unbehaglich fühlte, wage ich nicht, mir vorzustellen, wie sich meine Schwester vorgekommen sein muss: Sie war ungefähr ein Jahr jünger als Jane, sie kannte keinen der prächtigen jungen Männer und Frauen, ihre Kleidung war bestimmt um nichts weniger deplatziert als meine, und dennoch lief sie mit mir auf jener riesigen Rasenfläche hinter unserer Mutter her, lächelnd, von einem Grüppchen plaudernder Gäste zum nächsten, und knabberte dabei kleine Brunnenkresse-Sandwiches.
»Besucht dieser Junge eine Schule?«, fragte eine harsche Frauenstimme.
»Nun«, sagte meine Mutter, »eigentlich suche ich gerade eine für ihn, aber es gibt so viele, und es ist alles so verwirrend, dass ich …«
»Dorset Academy«, sagte die Frau, und da musterte ich sie: groß, barsch, eine Menge loses Fleisch unterm Kinn. »Es ist die einzige Schule im Osten, an der man Jungs versteht. Meiner fand es dort großartig.« Sie schob sich ein zusammengefaltetes Brunnenkresse-Sandwich in den Mund und kaute energisch. Dann sagte sie um das Kauen herum: »Dorset Academy, Dorset, Connecticut. Nicht vergessen. Schreiben Sie es sich auf. Sie werden es nie bereuen.«
Ich war nicht zu Hause, als W. Alcott Knoedler, der Direktor der Dorset Academy, meine Mutter auf ihre schriftliche Anfrage hin besuchte, später erfuhr ich davon jedoch in allen Einzelheiten. Der Direktor persönlich! Das war doch was! Er war gerade in New York gewesen; er hatte ihren Brief dabeigehabt; er hatte einfach vorbeigeschaut, um ihr von Dorset zu erzählen. Sie entschuldigte sich atemlos – ihr Studio sei ein heilloses Durcheinander, sie habe keinen Besuch erwartet –, und als sie die Höhe des Schulgelds hörte, konnte sie ihm nur noch sagen, wie sehr es ihr leidtue: Vierzehnhundert Dollar kamen nicht in Betracht. Und das Bemerkenswerte war, dass W. Alcott Knoedler nicht ging. Hin und wieder, erklärte er, sei es möglich, eine Anpassung nach unten vorzunehmen – vielleicht gar bis zur Hälfte der normalen Gebühren. Ob siebenhundert im Rahmen ihrer Mittel wären? Ob sie es wenigstens überdenken könne? Und ob sie und ihr Sohn ihm gegen Ende des Sommers die Freude bereiten würden, für einen Rundgang übers Schulgelände seine Gäste zu sein?
»Er war einfach – ich weiß auch nicht – ein ganz reizender Mann«, sagte sie mir. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie reizend er war. Und es scheint mir auch so eine interessante Schule zu sein. Sie ist sehr klein, nur etwa hundertfünfundzwanzig Schüler, und das bedeutet nämlich, dass jeder Junge mehr persönliche Zuwendung erhält und so weiter. Ach, und weißt du, was er gesagt hat?« Ihre Augen leuchteten.
»Was?«
»Er hat gesagt: ›Dorset glaubt an Individualität.‹ Könnte das nicht die ideale Schule für dich sein?«
Unser Rundgang über das Schulgelände wurde ein wahrer Zustimmungstaumel. Es war, wie meine Mutter bestimmt zwanzig Mal sagte, sehr schön. Die Dorset Academy lag im nördlichen Connecticut, meilenweit entfernt von jeder Stadt. Sie war in den Zwanzigerjahren von einer exzentrischen Millionärin namens Abigail Church Hooper gegründet und erbaut worden, die häufig dahingehend zitiert wurde, es sei ihre Lebensaufgabe, eine Schule »für die Söhne der besseren Leute« zu etablieren, und dafür hatte sie keine Kosten gescheut. Sämtliche Gebäude waren im, wie man uns sagte, »Cotswold«-Stil erbaut, mit dickem dunkelrotem Stein und gegiebelten Schieferdächern, für deren Balken bewusst junges Holz verwendet worden war, damit sie beim Altern einsackten und sich zu interessanten Formen verzogen. Vier lange Gebäude mit Klassen- und Schlafräumen bildeten ein hübsches, drei Stockwerke hohes und viele große Bäume umschließendes Viereck. Dahinter lag, an gewundenen Steinplattenwegen, eine reizvolle Ansammlung weiterer Gebäude, großer wie kleiner, ein jedes mit seinem durchhängenden Dachfirst und seiner Zurschaustellung tiefer, teurer, bleigefasster Fenster, und dann noch üppige Rasenflächen.
Doch ich sollte Jahre brauchen, bis ich bemerkte, was klügere Leute offenbar auf den ersten Blick sahen, dass in der Schönheit der Anlage etwas Überspanntes, ja Kulissenhaftes lag – eine Privatschule, die auch aus den Studios Walt Disneys hätte stammen können. Und eine weitere Sache, die mir erst in einem langwierigen Lernprozess bewusst wurde, obwohl eigentlich auch der Tonfall der Frau auf Janes Hochzeit es mir hätte verraten können: Die Dorset Academy hatte den weitreichenden Ruf, Jungen aufzunehmen, die keine andere Schule haben wollte – aus welchen Gründen auch immer.
Wieder in New York und von einer hohen Mission erfüllt, rief meine Mutter meinen Vater in seinem Büro an und führte ein leidenschaftliches Gespräch mit ihm, um das Geld zu bekommen. Ich glaube, es bedurfte mehrerer solcher Anrufe, aber schließlich willigte er ein, wie immer. Der Papierkram wurde verblüffend prompt erledigt, und so wurde ich als Schüler der vierten Klasse (zehnte Stufe) eingeschrieben, der...