E-Book, Deutsch, 286 Seiten
Xiaobo Das Goldene Zeitalter
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-7518-0995-5
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 286 Seiten
ISBN: 978-3-7518-0995-5
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wang Xiaobo erzählt die Geschichte eines Mannes, der sich mit Witz und Ironie gegen die absurde Logik einer Diktatur wehrt, und seine Freiheit in der Sexualität sucht. Als der 21-jährige Wang Er während der Kulturrevolution aufs Land verschickt wird, findet er sich den Schikanen seiner Vorgesetzten und den Anfeindungen der Dorfbewohner ausgesetzt, die ihn schließlich beschuldigen, eine Affäre mit der fünf Jahre älteren Ärztin Chen Qinyang zu haben. Der gewiefte Student erkennt, dass jegliches Abstreiten sinnlos wäre und den beiden nichts anderes übrigbleibt, als die Gerüchte wahr werden zu lassen. So beginnen sie eine lustvolle Affäre, für die sie sich mit ausführlichen »Geständnissen« vor den lokalen Autoritäten rechtfertigen müssen. Jahre später beugt sich Wang Er als Universitätsdozent nur widerwillig den Forderungen nach Anpassung und Uniformität im kommunistischen Räderwerk. Mit vierzig Jahren begibt er sich desillusioniert und geschieden auf eine eigene Suche nach der verlorenen Zeit, erzählt vom absurden Schicksal seines trotzkistischen Chefs, von seinem Mentor, der wusste, dass er die Kulturrevolution nicht überleben wird und von seiner Freundin, die mit ihm über die Banalität der eigenen Existenz sinniert.
Wang Xiaobo, 1952 in eine Pekinger Intellektuellenfamilie geboren, gilt als das Enfant Terrible der chinesischen Literatur. Von 1968-1970 in eine Landkommune in Yunnan verschickt, unterrichtete er später Soziologie an der Peking-Universität. In den 1990ern begann er, als freier Schriftsteller zu arbeiten, wurde jedoch nie vom staatlichen Kulturbetrieb anerkannt und veröffentlichte zunächst ausschließlich in Taiwan, wo er zweimal den United Daily-Literaturpreis gewann. 1997 starb er an einem Herzinfarkt.
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Ich war damals einundzwanzig und man hatte mich in eine Produktionsbrigade unten in Yunnan gesteckt. Chen Qingyang war sechsundzwanzig und arbeitete als Ärztin in derselben Brigade. Sie gehörte der Einheit Nummer 15 oben auf dem Berg an; meine war Nummer 14, am Fuß des Bergs. Eines Tages kam sie vom Berg herab, um mich in ein Gespräch über die Sache mit dem ausgelatschten Schuh zu verwickeln. Damals kannte ich sie kaum; gut, ich hatte von ihr gehört, aber mehr nicht. Nun wollte sie ausgerechnet mit mir reden. Ihr ging es um Folgendes: Jedermann behauptete, sie wäre ein ausgelatschter Schuh. Sie, Chen Qingyang, war anderer Meinung. Um als ausgelatschter Schuh gelten zu können, sagte sie, müsse man sich schließlich durch viele Betten schlafen. Das tue sie aber nicht. Ihr Mann saß zwar seit einem Jahr im Gefängnis, dennoch sei sie in dieser Zeit nie durch fremde Betten gegangen und auch zuvor nicht. Sie verstehe nicht, warum die Leute sie als ausgelatschten Schuh bezeichneten. Es wäre nicht allzu schwer gewesen, sie zu trösten. Ein einfacher, logischer Beweis dafür, dass sie kein ausgelatschter Schuh war, hätte genügt, um sie zu besänftigen. Denn wäre sie tatsächlich ein ausgelatschter Schuh, dann müsste es mindestens einen geben, mit dem sie ihren Mann betrogen hatte. Da gegenwärtig jedoch keiner auszudeuten war, gab es keinen Grund dafür, sie einen ausgelatschten Schuh zu nennen. Ich tat ihr diesen Gefallen aber nicht. Stattdessen verkündete ich ihr, dass sie unzweifelhaft ein ausgelatschter Schuh war. Chen Qingyang hatte ausgerechnet mich als Zeugen für ihre Sittsamkeit ausgesucht, weil ich kurz zuvor bei ihr gewesen war, um mir eine Spritze geben zu lassen. Die ganze Geschichte hatte so angefangen: Zu Beginn der Feldarbeitssaison hatte der Leiter unserer Produktionsgruppe mich diesmal nicht zum Pflügen abbestellt, sondern zum Pflanzen von Reissetzlingen, was bedeutete, dass ich mich den ganzen Tag über bücken musste. Wer mich kennt, weiß, dass ich ein ziemlicher Hüne bin, über eins neunzig groß, obendrein habe ich ein chronisches Hüftleiden. Nach einem Monat Setzlinge pflanzen wurden die Schmerzen so unerträglich, dass ich ohne Spritze nicht einschlafen konnte. Die einzigen noch halbwegs brauchbaren Kanülen unserer Krankenstation waren schon so rostig und verbogen, dass sie mir bei jeder Injektion wie ein Angelhaken das Fleisch aufrissen. Nach einer Weile sah mein unterer Rücken aus, als hätte man ihn mit einer Schrotflinte beschossen, und die Narben wollten einfach nicht verheilen. In diesem Zustand erinnerte ich mich daran, dass Chen Qingyang, die Ärztin der Einheit Nummer 15, einen Abschluss an der Medizinischen Hochschule in Peking gemacht hatte und möglicherweise in der Lage wäre, eine Injektionsnadel von einem Angelhaken zu unterscheiden. Deshalb war ich zu ihr gegangen. Und deshalb saß sie jetzt, keine halbe Stunde später, in meiner Hütte und verlangte von mir, ich solle bezeugen, dass sie kein ausgelatschter Schuh war. Nicht, dass sie persönlich ein Problem mit sogenannten ausgelatschten Schuhen habe, sagte Chen Qingyang. Im Gegenteil, soweit sie es beurteilen könne, seien ausgelatschte Schuhe gutmütige, hilfsbereite Menschen, die es eben nicht ertragen könnten, andere zu enttäuschen. Daher hege sie sogar eine gewisse Bewunderung für solche Frauen. Es gehe ihr also keineswegs um die moralische Verurteilung von ausgelatschten Schuhen, sondern allein um die Tatsache, dass sie keiner war; so wenig, wie eine Katze ein Hund sei. Einer Katze würde es schließlich auch nicht behagen, ein Hund genannt zu werden. Und nun liefen alle herum und behaupteten, sie wäre ein ausgelatschter Schuh, was sie dermaßen wahnsinnig mache, dass sie schon selbst nicht mehr wisse, wer sie sei. Als Chen Qingyang mir ihr Herz ausschüttete, trug sie den kurzen, ärmellosen weißen Arztkittel, den sie auch oben in der Klinik getragen hatte. Anders als zuvor hatte sie jetzt ihr langes Haar mit einem Taschentuch zu einem Zopf zusammengebunden und Sandalen angezogen. Ich betrachtete sie und fragte mich, ob sie unter diesem weißen Kittel etwas anhatte. Trug sie nichts darunter, war sie zweifellos eine ziemlich hübsche Frau, für die es keine Rolle spielte, was sie trug oder nicht. Ein solches Selbstbewusstsein wird einem in die Wiege gelegt. Ich erklärte ihr, dass sie definitiv ein ausgelatschter Schuh war, und versäumte es nicht, ein paar Gründe dafür anzuführen: Ausgelatschter Schuh war schließlich nur eine Bezeichnung für einen bestimmten Typ; wenn die Leute sagten, man wäre ein ausgelatschter Schuh, dann war man ein ausgelatschter Schuh, da gab es nichts zu diskutieren. Wenn die Leute sagten, man hätte seinen Mann betrogen, dann hatte man seinen Mann betrogen, und auch da gab es nichts zu diskutieren. Wenn sie das sagten, so lag es in meinen Augen daran: Die Leute waren sich in der Regel darüber einig, dass eine verheiratete Frau, die ihren Mann nicht betrog, Hängebrüste haben musste und lederne Haut. Dein Gesicht ist aber nicht dunkel wie Gerbleder, sagte ich zu Chen Qingyang, sondern zart und hell, und deine Brüste hängen nicht. Demnach musst du ein ausgelatschter Schuh sein. Wenn du nicht als ausgelatschter Schuh gelten willst, musst du dir dein Gesicht schwarz machen und dafür sorgen, dass deine Brüste hängen, dann erzählen die Leute auch nicht mehr, dass du ein ausgelatschter Schuh bist. Das wäre allerdings kein gutes Geschäft für dich. Besser wäre es, wenn du mit einem anderen Mann schläfst, dann kannst du dich selbst mit bestem Gewissen als ausgelatschten Schuh bezeichnen. Die anderen Leute sind schließlich nicht verpflichtet, erst herauszufinden, ob du ein ausgelatschter Schuh bist oder nicht, bevor sie dich so nennen. Es ist allein deine Sache, ihnen einen triftigen Grund dafür zu geben oder nicht. Bei meinen Worten war Chen Qingyang rot angelaufen. Ihre Augen sprühten vor Zorn. Ich wartete auf die Ohrfeige. Sie war berüchtigt für ihre Ohrfeigen, die der eine oder andere bereits zu spüren bekommen hatte. Doch sie seufzte nur und sagte: Gut, dann bin ich eben ein ausgelatschter Schuh. Aber ob sie Hängebrüste habe oder ein Gesicht wie Gerbleder, das gehe mich überhaupt nichts an. Und wenn ich meinte, mir über diese Fragen allzu viele Gedanken machen zu müssen, würde ich mir bald eine fangen. Ich sehe die Szene noch lebendig vor mir, damals, vor zwanzig Jahren, als ich mit Chen Qingyang die Sache mit dem ausgelatschten Schuh erörterte. Im Schneidersitz hockte ich auf meiner Holzpritsche, mein Gesicht sonnenverbrannt wie das eines echten Bauern; an meinen aufgesprungenen Lippen klebten kleine weiße Papierfetzen und Tabakkrümel, mein Haar war so struppig wie Kokosnussschale und die vielen Löcher in meiner abgewetzten Armeejacke waren mit Klebestreifen geflickt; ich sah aus wie ein Penner. Man kann sich vorstellen, wie es Chen Qingyang in den Fingern gejuckt haben muss, als dieser Penner sich darüber ausließ, ob sie Hängebrüste hatte oder nicht. Sie war leicht reizbar, was vor allem daran lag, dass nicht wenige kräftige junge Männer sie in der Klinik aufsuchten, obwohl sie kein bisschen krank waren. Sie wollten den ausgelatschten Schuh konsultieren, nicht die Ärztin. Ich mit meiner schlimmen Hüfte, die aussah wie mit einer Harke traktiert, war die einzige Ausnahme. Allein diese Löcher hätten auch ohne Rückenschmerzen einen Arztbesuch gerechtfertigt. Und diese Löcher hatten in ihr die Hoffnung geweckt, ich könnte bezeugen, dass sie kein ausgelatschter Schuh war. Wenn es wenigstens einen einzigen Menschen gegeben hätte, der bezeugte, dass sie kein ausgelatschter Schuh war, wäre das immerhin etwas anderes gewesen, als wenn alle behaupteten, sie wäre einer. Aber ich enttäuschte sie, und zwar ganz bewusst. Ich hatte mir das so überlegt: Der Versuch zu bezeugen, dass sie kein ausgelatschter Schuh war, was ich durchaus könnte, hätte zu nichts geführt. Tatsächlich konnte man gar nichts bezeugen, außer Dinge, die keinen Beweis brauchten. Im Frühling hatte mein Brigadeleiter behauptet, ich hätte seiner Hündin das Auge ausgeschossen, weshalb die Hündin alle Leute immerzu mit schiefgelegtem Kopf ansah wie eine Primaballerina. Von da an machte er mir ständig das Leben schwer. Es hätte nur drei Wege gegeben, um meine Unschuld zu beweisen: 1. Der Brigadeleiter hätte keine Hündin gehabt. 2. Die Hündin wäre auf dem linken Auge blind geboren worden. 3. Ich hätte keine Hände, sodass ich keine Schusswaffe bedienen konnte. Keine dieser drei Bedingungen traf zu. Mein Brigadeleiter hatte eine Hündin. Sie war tatsächlich durch einen Schuss auf dem linken Auge erblindet. Und ich konnte nicht nur eine Schusswaffe bedienen, sondern war obendrein ein ausgezeichneter Schütze. Zu allem Überfluss hatte ich mir kurz vor dem Vorfall Luo Xiaosis Luftgewehr geborgt, um mit einer Schüssel Mungobohnen als Munition in einem leeren Getreidespeicher gut...