E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-95728-913-1
Verlag: Knesebeck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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KAPITEL 1
Zum hundertsten Mal zog Grace ihre Mantelärmel herunter, und zum hundertsten Mal rutschten sie gleich wieder hoch und entblößten einen breiten Streifen nackter Haut. Genervt zupfte sie an dem abgewetzten Stoff. Ein neuer Mantel war wirklich überfällig. »Mum?«, rief sie, während sie die Treppe hinunterstürmte. »Muuum!« »Bin hier!« Grace stöhnte. Mums Stimme kam aus dem Büro. Wie eigentlich immer. Seit ihre Chefin ihr mit einer Beförderung gewinkt hatte, falls sie bei der nächsten Konferenz einen überzeugenden Vortrag hielt, wohnte Mum praktisch im Büro. Und dort standen ihre Ohren auf Durchzug – für alles, was nicht Arbeit war. Grace holte einmal tief Luft, dann riss sie die Tür auf. Mum saß mit gerunzelter Stirn an ihrem großen Mahagonischreibtisch und war in irgendein Dokument vertieft. »Mum? Kann ich mir einen neuen Mantel kaufen? Der hier passt nicht mehr. Die Ärmel sind viel zu kurz.« Grace trat ins Büro und streckte die Arme aus. Die grauen Ärmel rutschten fast bis zu den Ellbogen hoch. »Ach was, der ist noch gut.« Mum, die gerade eine Textzeile mit Leuchtstift markierte, blickte nicht mal auf. »Aber der Mantel ist für Elfjährige, Mum. Ich bin dreizehn! Und es sind auch nicht nur die Ärmel. Wenn ich ihn zuknöpfe, sehe ich aus wie in einer Wurstpelle.« Grace zwängte die Knöpfe durch die Löcher und drehte sich, damit Mum das Grauen von allen Seiten betrachten konnte. »Jetzt übertreib mal nicht, Grace. Diesen Winter geht er noch. Nächstes Jahr bekommst du einen neuen.« Mum hatte noch immer nicht aufgeblickt. Sie kritzelte jetzt Notizen in ihren Text. »Das hast du letztes Jahr auch schon gesagt!« Seufzend legte Mum das Dokument aus der Hand, nahm ihre Brille ab und rieb sich den Nasenrücken. »Ja, weil der Mantel letztes Jahr noch wunderbar gepasst hat. Und dieses Jahr passt er immer noch. So, und jetzt … du weißt doch, bis zu der Konferenz nächstes Wochenende in Edinburgh habe ich alle Hände voll zu tun …« Sie deutete auf ihren chaotischen Schreibtisch. »Aber …« »Kein Aber, Grace. Die Dachreparatur kostet mehrere tausend Pfund, und das Auto muss nächsten Monat zum TÜV. Für neue Mäntel haben wir gerade kein Geld. Wenn ich mich jetzt endlich mal auf meinen Vortrag konzentrieren könnte, werde ich vielleicht befördert. Dann kannst du so viele Mäntel haben, wie du willst.« Sie setzte ihre Brille wieder auf und widmete sich demonstrativ ihrem Papierkram. Mit einem lauten »Argh!« stürmte Grace aus dem Büro. Die Tür ließ sie absichtlich offen. »Tür zu!«, rief Mum, aber da war Grace längst die Treppe hochgestampft. Sie knallte ihre Zimmertür hinter sich zu und warf sich aufs Bett. Wie unfair! Nie und nimmer würde sie mit dieser Wurstpelle bis zum nächsten Winter kommen. Aber Mum hatte nur ihre Arbeit im Kopf! Wütend streckte sie einen Arm unters Bett, zog vorsichtig ihr Schmuckkästchen aus seinem Versteck und stellte es neben sich aufs Bett. Darin lagen ein paar Geldscheine und eine ausgeschnittene Zeitungsannonce für das jährliche Sommer-Kunst-Camp. Grace holte die Anzeige heraus und faltete sie vorsichtig auseinander. Seit sie sie vor zwei Jahren entdeckt hatte, sparte sie jeden Penny, um die Aufnahmegebühr zusammenzubekommen. Ihr fehlten nur noch zwanzig Pfund. Seufzend nahm sie das Geld heraus. Wenn sie etwas davon für einen neuen Mantel abzweigte, riskierte sie ihre Teilnahme an dem Camp. Aber mit der Wurstpelle konnte sie unmöglich zur Schule gehen. Nein, sie hatte keine Wahl. Schweren Herzens blätterte sie drei Scheine aus dem Bündel und steckte sie in die Tasche ihrer Schuluniformhose. Dann klappte sie das Schmuckästchen zu und schob es zurück unters Bett. Nach einem letzten Blick in den Ganzkörperspiegel am Schrank verließ sie ihr Zimmer. Ding-dong! Klopf, klopf, klopf! Die letzten Stufen sprang sie hinunter. »Ich geh los, Mum!« Sie schnappte sich ihren Schulrucksack vom untersten Treppenpfosten und riss die Haustür auf. Suzy blickte ihr entgegen. Die pinkfarbenen Locken ihrer besten Freundin waren im windigen Herbstmorgen noch verwuschelter als sonst. »Ach du Schreck, Grace, was trägst du denn da?« »Frag nicht.« Grace prüfte, ob sie ihren Schlüssel hatte, dann knallte sie die Tür hinter sich zu. »Sag schon, was ist das für ein gruseliges Teil?«, kicherte ihre Freundin, als sie auf den Bürgersteig traten. »Ich hab Mum gesagt, dass er zu klein ist, aber sie behauptet, er würde dieses Jahr noch passen.« Suzy lachte schnaubend. Grace knuffte sie empört in die Seite, aber dann musste sie selbst grinsen. »Das ist nicht lustig, Suzy. Ich kann mich mit dem Ding unmöglich in der Schule blicken lassen!« »Stimmt, du hast schon mal besser ausgesehen. Vielleicht geht’s, wenn du ihn aufknöpfst?« Grace öffnete die Knöpfe. Sofort fror sie in der kühlen Morgenluft. »Besser?«, fragte sie mit klappernden Zähnen. »Nicht wirklich. Aber vielleicht hast du dich bis zur Schule totgefroren, dann wäre das Problem auch gelöst.« »Sehr hilfreich, Suzy, wirklich.« In einträchtigem Schweigen gingen sie die baumbestandene Straße hinunter, an unzähligen Reihenhäusern mit kleinen Erkern vorbei. »Lust auf eine heiße Schokolade?«, fragte Suzy, als sie die Hauptstraße erreichten. »Wir könnten zum Flava gehen. Die haben um diese Zeit meist schon offen.« »Heißen Kakao? Zum Frühstück?« Suzy grinste. »Du kennst mich doch. Je süßer, desto besser. Komm!« Sie zog Grace an der Kreuzung nach rechts, in Richtung der Geschäftszeile. Hier herrschte bereits reges Treiben. Leute eilten zur Arbeit, Kinder gingen zur Schule, Ladenbesitzer bereiteten sich auf den Tag vor. Als sie am Blumenladen Flower Power vorbeikamen, trat Ms Peel gerade heraus, den Arm voller bunter Tulpensträuße. Grace kannte die Blumenhändlerin gut, sie war ihre Nachbarin. »Guten Morgen, ihr zwei«, begrüßte Ms Peel die Mädchen. »Morgen, Ms Peel. Sollen wir Ihnen mit den Blumen helfen?«, fragte Grace, als sie sah, wie die obersten Sträuße auf dem Stapel wackelten. »Danke, geht schon, ihr Lieben. Oh … hoppla …!« Ms Peel war über eine unebene Gehwegplatte gestolpert. Mit einem großen Satz nach vorn konnte Grace gerade noch einen gelben Tulpenstrauß auffangen. »Hm, vielleicht wäre ein bisschen Hilfe doch nicht schlecht.« Ms Peel lächelte Grace an, dann stellte sie die Sträuße in einen wassergefüllten Eimer vor dem Laden. »Hab ich gerade richtig gehört, dass ihr zwei zum Flava wollt?« Suzy nickte und grinste Grace an. »Ein Tässchen Tee könnte ich auch gebrauchen. Der Hund ist heute schon wieder aus dem Garten entwischt, der kleine Teufel. Ich hab ewig gebraucht, um ihn einzufangen. Deshalb war keine Zeit mehr für meinen Morgentee. Ich fühle mich wie ausgedörrt. Aber ich kann mir jetzt keinen holen, ich muss die Blumen rausbringen. Wenn ihr mir einen mitbringen könntet, wäre das großartig!« Scruff, Ms Peels kleiner Terrier, stellte ständig etwas an. Wenn er nicht gerade weglief, zerkaute er das Sofa oder kletterte in Mülltonnen. Erst letzte Woche hatte Grace’ Mum ihn gefunden. Da steckte er kopfüber in dem Hühnergerippe, das sie nach dem Sonntagsfrikassee weggeworfen hatte. »Klar, machen wir, Ms Peel.« Grace lächelte. »Toll, vielen Dank. Mein Portemonnaie liegt drinnen. Nehmt euch Geld für den Tee und für zwei heiße Kakaos.« »Danke!« Suzy nahm sich das Geld, dann eilten sie zum Flava – einem winzigen Café, das gerade genug Platz für einen Tresen und ein paar chromblitzende Kaffeemaschinen, Milchschäumer und Teekocher bot. »Bist du sicher, dass du nichts willst?«, fragte Suzy, als sie die Tür aufdrückte. Der Duft von frisch gemahlenem Kaffee schlug ihnen entgegen. Grace warf einen Blick auf die Warteschlange vor dem Tresen. »Nein, danke, ich warte hier.« Sie stellte ihren Rucksack auf den Bürgersteig und hockte sich auf das Fenstersims des kleinen Cafés. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass sich vor dem Second-Hand-Shop auf der anderen Straßenseite etwas tat. Eine ältere Dame zog die Metallrollläden hoch. Zentimeter für Zentimeter kam das Ladenschild zum Vorschein: Geben & Nehmen. Als Nächstes rollte die Dame ein altmodisches himmelblaues Fahrrad auf den Gehweg, in dessen Lenkerkorb aller möglicher Krimskrams steckte. Sie lehnte das Rad an die Fassade, verschwand erneut im Laden und kam mit einer großen schwarzen Kreidetafel wieder heraus. ...