E-Book, Deutsch, 253 Seiten
Wuttke Proseccoperlenliebe
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-96148-855-1
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, 253 Seiten
ISBN: 978-3-96148-855-1
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Claudia Wuttke, geboren 1966 in Berlin, studierte ursprünglich Komparatistik und Philosophie - und kennt heute wie kaum eine andere alle Seiten der Buchbranche, in der sie bereits als Autorin, Literaturagentin, Übersetzerin, Lektorin und Verlagsleiterin erfolgreich war und ist. Die Autorin im Internet: www.createwriting.de Bei dotbooks veröffentlichte Claudia Wuttke den Roman »Proseccoperlenliebe«.
Autoren/Hrsg.
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Kapitel 1
Noch während ich redete, wusste ich, dass ich diese Entscheidung später bitter bereuen würde.
»Nein, Ende März ist gar kein Problem. Passt super.«
War ich bescheuert? Was tat ich da? Wieso war Ende März kein Problem? Was könnte ich nicht alles bis Ende März erledigt haben! Ich wollte endlich aus diesem Loch raus, das sich meine Wohnung nannte. Bis Ende März könnte ich prima umgezogen sein. Jetzt war November. Ich könnte mir nach Weihnachten die Zeitungen kaufen oder Makler anrufen, und bis Ende März hätte ich meine neue Zwei-Zimmer-Altbauwohnung. Zum Jahresanfang kündigen sowieso alle Leute ihre Wohnungen. Da gibt es Weihnachtsgeld. Silvester kommt, und ein Haufen Paare trennen sich. Silvester kommt, und ein Haufen Paare wollen zusammenziehen.
Das war meine Zielgruppe, die Paare, die zusammenziehen wollten, denn die gaben ihre kleinen Wohnungen auf. Ich suche eine kleine Wohnung. Das sagte ich ja bereits. Sagte ich auch schon, dass ich kein Paar mehr bin? Seit gut einem Jahr nicht mehr. Ich bin leider immer noch dabei, mich an den Gedanken zu gewöhnen.
»Ja, Herr Meisinger, das finde ich auch. 320 Seiten sollten es schon sein. Man braucht ja auch Platz für die Fotos ... Genau, die wirtschaftliche, politische, gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung. Das ist natürlich wichtig.«
Auch für Frauen?, dachte ich. Wieso sollte die politische Entwicklung Mallorcas oder Ibizas für Frauen eine besondere Bedeutung haben, die sich einfach mal wieder verwöhnen lassen und neue Energie tanken wollten? Das könnte man doch gut und gern in einem ganz gewöhnlichen Reiseführer nachlesen. Oder aus einem abschreiben. Der Gedanke gefiel mir. Okay, Herr Meisinger, wenn Sie denn meinen ...
»Demnach vielleicht wirklich besser 360, stimmt. Die Ausgeh- und Fashion-Tipps dürfen schließlich nicht zu kurz kommen. Ganz zu schweigen von den Wellnessoasen mit Thalasso, Steinölfango, Balance-Aerobic, Aqua-Training und und und.«
Wer redete da eigentlich? Ich doch wohl nicht? Tja, anscheinend doch: Ich war gerade dabei, den größten Fehler meines Lebens zu begehen.
Ich, Thelse Simon, Alter: einunddreißig. Thelse, weil meine Eltern einen Hau mit norddeutschen Vornamen weghaben. Meine ältere Schwester heißt Siemke, und mein Bruder hätte vermutlich Hauke geheißen. Zum Glück habe ich keinen Bruder.
»Das Honorar?« Ich schluckte. Stimmt, da war doch noch was. Das Honorar.
Nicht dass ich auf den Kopf gefallen wäre, und niemand kann mir nachsagen, besonders bescheiden oder schüchtern zu wirken. Von meiner großen Klappe war eher die Rede als von meiner Tendenz, mich plötzlich hinter einer Litfaßsäule zu verstecken, weil ich in der Menge einen Bekannten ausmache, dem ich in dem Moment partout nicht Hallo sagen will. »Hallo!« (unverfänglich), »Hal-lo ...« (burschikos bis jovial) oder doch eher »Hi« (Girlie)? Bevor ich mich für die richtige Formel entschieden hätte, wäre derjenige meistens sowieso schon mit einem freundlichen »Hi, hallo Thelse« an mir vorbeimarschiert, und alles, was mir bis dahin eingefallen wäre, käme einem dumpfen »Äh ...!« gleich.
Da ging ich doch lieber vorher hinter einer Litfaßsäule in Deckung.
Was mir niemand glaubte.
Das Honorar also. In Sekundenschnelle überschlug ich, was ich mir wert war; darüber hätte ich mir im Vorhinein eigentlich auch schon Gedanken machen können, stellte ich kritisch fest. Immerhin war ich aber nicht schlecht im Kopfrechnen. Die Krämerseele in mir.
360 Seiten à 1.800 Anschläge machte bei einem Seitenhonorar von ... sagen wir mal 15, nein, besser 20 Euro, eine Summe von 7.200 Euro. Bedachte man, dass die Hälfte des Buchs aus Fotos bestehen sollte, errechnete ich ein Honorar von 3.600 Euro. Zu wenig. Viel zu wenig. So kam ich nicht weiter. Vier Wochen Recherche vor Ort, Flug, Apartment, Kost und Logis, doppelte Haushaltsführung, nicht zu vergessen das Honorar für eine Topjournalistin an sich, und auch der Makler, den ich irgendwann mal für die neue Wohnung bezahlen musste. Jetzt war November. Ende März wurde abgerechnet. Fünf Monate. Fünf Monate und ein exklusiver Frauenreiseführer zu den Balearen sollte entstehen. Fünf Monate, in denen ich quasi nichts anderes machen konnte. Fünf Monate, die mich banden. Ich überschlug die Zahlen noch einmal in meinem Kopf und kam dann zu einem, wie ich fand, korrekten Angebot.
»13.000«, sagte ich selbstbewusst.
Pause.
Nein, nein, Euro, durchaus. Für wen hielt Herr Meisinger mich denn? Es ging eine Weile hin und her, aber wenn mich einmal mein eigener Gerechtigkeitssinn gepackt hatte, war irgendwann auch Schluss.
Mit mir kann man alles machen, wirklich. Ich wette, ich würde auch noch mit vierundfünfzig morgens um vier über den Zaun eines Freibads klettern (falls mein Rücken mir nicht einen Strich durch die Rechnung machte), um mit dem netten Herrn aus der Tanzbar nackt schwimmen zu gehen. Ich nahm den Hund meiner Freundin übers Wochenende in Pension, und wenn sie ihn selbst am Mittwoch noch nicht wieder abgeholt hatte, merkte ich es nicht einmal. Ich würde auch sofort in die nächste Bäckerei stürzen, wenn meine Schwester, die in Italien lebte, mich bitten würde, ihr per Eilkurier ein saftiges 1000-Gramm-Doppelkorn-Schwarzbrot zu schicken, weil ihr das Ciabatta zu den Ohren herauskam. Für so was war ich immer zu haben.
Aber deswegen musste ich mich doch noch lange nicht unter Wert verkaufen!
Wir einigten uns schließlich auf 11.000 Euro, Herr Meisinger und ich. Pauschal. Plus Aufwandsentschädigung, sprich: Sollte ich aus Recherchegründen telefonieren müssen, zahlte er. Gut zu wissen, denn wenn etwas wichtig würde auf den spanischen Mittelmeerinseln, dann das Handy.
Und so kam es zu dem Job, der mein Leben komplett auf den Kopf stellen sollte. Ich war ab sofort damit beauftragt, einen fetzigen Balearen-Guide für die Frau von heute zu verfassen. Aha!
Ich hatte mir im Vorfeld keine Gedanken darüber gemacht, wie wichtig so ein Buch in heutigen Zeiten eigentlich noch sein könnte. Wenn ich jetzt darüber nachdachte, fand ich es eigentlich schwachsinnig, in so ein Projekt 11.000 Euro plus Herstellungs-, Druck-, Werbungskosten und den ganzen Rest zu investieren. Trotzdem war es immer wieder gut zu wissen, dass es noch solche Quellen gab, die man anbohren konnte. Das war einer der Gründe (von mindestens zweien), weshalb ich vor fünf Monaten den Schritt gewagt hatte, meine Stelle bei der ›Niedersächsischen Umschau‹ in Celle zu kündigen, mich nach Hamburg abzuseilen und hier als Journalistin selbstständig zu machen: Ich war nämlich viel zu hasenfüßig, um im redaktionellen Haifischbecken einer Provinzzeitung auf die Dauer wirklich bestehen zu können. Ich konnte meine Ideen nur schlecht verteidigen, weil ich die Argumente der Gegenseite im Kampf um ihre Zeilen meistens schon selbst vorwegnahm. Und sie sogar verstehen konnte. Das war eine ganz schlechte Voraussetzung für eine erfolgreiche Redakteurin. Bei der ›Niedersächsischen Umschau‹ hatte ich, wenn ich mich nicht täusche, in anderthalb Jahren nur eine einzige längere Geschichte im Blatt unterbringen können, die auf meinem ureigenen Mist gewachsen war: ein 120-Zeiler über Geruchskiller mit einer speziellen Edelstahllegierung, ein ziemlich verrücktes Produkt, nach dem ich lange suchen musste, um dem Fußgeruch meines damaligen Freundes, Tim, etwas entgegensetzen zu können. Ansonsten speiste man mich mit langweiligen »Gestern Nacht ereignete sich auf der B3 nahe Peine ein schwerer Verkehrsunfall«-Lokalmeldungen ab. Immerhin: Am Ende war ich so perfekt, dass ich die Unglücksstelle noch nicht mal mehr besichtigen musste.
Im Zuliefern hingegen war ich eine wahre Meisterin, zuverlässig, pünktlich, manchmal originell und meistens kein einziges falsch gesetztes Komma. Das packte mich bei meiner Ehre. Auftragsarbeiten spornten mich an. Wenn mein Chef mich anfeuerte wie einen Marathonläufer auf der Zielgeraden: »Fototapeten sind wieder up to date. Los, Thelse, bastele eine geile Geschichte draus! Die siebziger Jahre erleben gerade ein unglaubliches Revival. Mach eine Umfrage, sei bürgernah!«, dann lief Thelse los wie aufgezogen und ließ nichts unversucht, bevor sie nicht alles über das Comeback dieser Heile-Welt-Bilder herausbekommen hatte.
Man konnte sich denken, dass ich damit keine große Nummer geworden war.
Wie alles anfing? Nun, nach dem Abitur machte ich ein Volontariat bei der ›Niedersächsischen Umschau‹. Danach begann ich in Hannover ein Germanistikstudium, schwenkte dann aber auf Jura um. Was mir ebenso wenig gefiel. Also brach ich im fünften Semester ab. Als eine von vielen. Mit dreiundzwanzig schlüpfte ich dann erneut bei meinen Eltern in Celle unter. Da ein solcher Fehlschlag auch an mir nicht spurlos vorüberging, verabschiedete ich mich für ein Jahr nach Spanien. Um zu überlegen, wie es weitergehen sollte. Mal zu mir kommen. Und nebenher: baden und viel Sonne.
Spanien war mein Glück. Ich glaube nicht, dass ich sonst noch mal bei der ›Umschau‹ hätte einsteigen können. Endlich war ich in etwas fit, was sonst keiner konnte. Ich beherrschte auf einmal eine »exotische« Sprache aus dem Effeff, was mich unvermutet weiterbrachte. Nicht die Projekte wurden für mich interessanter, ich aber durchaus für die Projekte. Plötzlich hob man die Brauen, wenn ich großspurig tönte, dass ich der spanischen Sprache mächtig war. Mir kam das zwar irgendwie banal vor. Meine Umwelt aber, die fand es bewundernswert. Ich lebte in einer Kleinstadt! Deswegen hatte mir die ›Umschau‹ die halbe Redakteursstelle angeboten. Mit der Zeit kamen dann noch hin und wieder Artikelchen über Rioja, Manchego-Käse oder Serrano-Schinken in ernährungswissenschaftlichen Fachmagazinen hinzu,...