E-Book, Deutsch, Band 1, 598 Seiten
Reihe: Die Villa
Wosniak Felonie
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-946732-77-8
Verlag: Spica Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 1, 598 Seiten
Reihe: Die Villa
ISBN: 978-3-946732-77-8
Verlag: Spica Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dieses Buch ist die Geschichte Max Guttentags, dem seine erste Liebe samt ihrem hoffnungslosen Ende in einem französischen Kriegsgefangenenlager widerfuhr. Es ist auch die Geschichte derer, die er danach liebte und die ihn liebten – zumindest eine Zeit lang – und die er alle verließ, um etwas zu suchen, von dem er nichts als eine Vorstellung hatte, eine Vorstellung, die er für unteilbar hielt ... Geschrieben fünfzig Jahre nach den Geschehnissen, in aller Ratlosigkeit und nur um dieses und jenes festzuhalten.
Zielgruppe
Freund*innen des Erzählromans/ Der Familiensaga
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Weiser stehen auf den Straßen,
Weisen auf die Städte zu,
Und ich wandre sonder Maßen,
Ohne Ruh, und suche Ruh.
Einen Weiser seh ich stehen
Unverrückt vor meinem Blick:
Eine Straße muß ich gehen,
Die noch keiner ging zurück. Friedrich Müller: „Winterreise“ Die von Veteranen des ersten Krieges eskortierte Karawane aus Leiterwagen, Handkarren und geschobenen Fahrrädern machte sich in der Morgendämmerung des zwanzigsten Januar auf den Weg nach Westen. Ein lahmer Tausendfüßler aus Frauen, Kindern, Greisen und Pferden kroch über Landstraßen und verschneite frostharte Felder in Richtung Sachsen, verfolgt vom glühenden Atem der näherrückenden Front, beobachtet von Bombern und Jagdfliegern und von riesigen Krähenschwärmen, die Beute machen wollten. Der Tod kam meistens leise, seine Waffen waren Kälte, Wind, Krankheit und Hunger, und er senkte sich auf die unheimliche Stille des Zuges wie ein Leichentuch. Den vier Frauen auf dem Leiterwagen war kurz vor Aufbruch noch eine Kriegswitwe aus dem Nachbardorf, namens Katharina Scheer, mit ihren zwei Kindern zugewiesen worden. Hanna hatte die Kleinen, deren blondes Engelshaar aus dicht geschnürten Wollmützen quoll, in die Mitte des Wagens zwischen Maria Guttentag und Agnes Schober gehoben, dass die sie wärmen sollten, so gut es ging. Sie hatte für einen Augenblick das hilflose Vertrauen aus den warmen Bündeln in ihren Armen gespürt wie einen unverhofften Gruß des Lebens. „Gott möge es ihnen vergelten“, hatte die schöne Frau demutsvoll in einem herben Dialekt gesagt und sich bekreuzigt, worauf Hanna ihr widerstandslos und überrascht die Hand überlassen und mit offenem Mund zugesehen hatte, wie Katharina Scheer ihr den Handschuh aus Kaninchenfell vom Handrücken gezogen und einen langen Kuss auf die Haut gedrückt hatte. Es brauchte nicht lange, um zu erkennen, dass auf Nebenstraßen, auf frostharten und verschneiten Feldwegen, wo havarierte Wagen und verzweifelt Gestrandete das Vorwärtskommen hinderten, nicht nur Glück, sondern auch Umsicht und Entschlossenheit gefordert waren. Hanna drängte ihre Mutter, hinten auf dem Wagen unter den anderen zu sitzen, und führte selbst das Gespann – nicht vom Bock aus, sondern meistens zu Fuß. Nach wenigen Tagen hatten sich ihre Augen an die Landschaft des Todes gewöhnt, sie umfuhr geschickt und energisch die grabesstillen Biwaks derer, die vom Zufall aus dem Treck geschnitten waren und in ihren Freilagern auf das Ende warteten. Aus deren Mitte schien ihr die Kälte noch kälter zu kommen, um direkt ans Herz zu fassen. Sterbende suchten dort nach Essbarem, angestarrt von den Augen der schon Erfrorenen. Die Welt versank in erbarmungslose Härte. Hanna wappnete ihr Herz. Sie vermied die Verlockungen von Pausen und wärmenden Feuern, um rechtzeitig vor Anbruch der Nacht an einem der ausgewiesenen Rastplätze anzukommen – in hastig geräumten Schulgebäuden, Scheunen oder ungenutzten Kasernen. Hatte sie einen Stellplatz für das Gespann gefunden, rieb sie die Pferde trocken, legte ihnen wärmende Decken über und warf ihnen Hafer vor. Sie ließ sie angeschirrt und ging erst, nachdem sie die Ration aufgefressen hatten, denn neben den Bildern des Todes hatte sie in diesen Tagen auch die Bilder der Selbstsucht und der Grausamkeit gesehen und gelernt, ihr Hab und Gut zu verteidigen. Ihre mandelförmigen Augen ruhten mit einer so katzenhaften Aufmerksamkeit auf allem, was um den Wagen herum geschah, dass ihre Mutter sich beruhigt um dessen hilflose Passagiere kümmern konnte. Und wenn in diesen Wochen etwas Tilda Wildenschwerts Herz wärmte, dann war es der Stolz auf den kühlen Verstand und die Stärke ihrer Tochter. Anfang Februar erreichten sie die Grenze nach Sachsen. Wohl wissend, dass sechshunderttausend ihrer Landsleute an den Elbufern bei Dresden kampierten, um bei nächster Gelegenheit in die Heimat zurückzukehren, entschieden sie sich für den Weg nach Nordwesten. Ihr Instinkt misstraute der Stadt, als wäre sie eine Falle. Und tatsächlich hörten sie am Abend des dreizehnten Februars in einem Scheunenlager auf einem Hügel nur wenige Kilometer nördlich der Stadt das ungeheuerliche Dröhnen der Bomber über sich, an das sie sich noch lange in Folternächten erinnern würden. Sie sahen von dort oben den Horizont sich rot färben und ahnten, was geschah. Und einer, es war der Pfarrer Hartwig, der unter ihnen war, sagte, es möchte gar der vierte Engel der sieben Plagen der Offenbarung sein, der dort seine Zornesschale ausgoss, die Menschen heiß zu machen mit Feuer. Und er hieß sie, wie sie da standen, Gott zu danken, dass sie nicht angesichtig werden müssten dieser Bilder der Apokalypse. In weiteren zehn Tagesmärschen drangen sie mit ihrem kleiner werdenden schlesischen Treck soweit in das Land Sachsen vor, dass sie in den Städten zwischen Mulde und Elster an der Grenze zu Thüringen als Vorhut und erste Flüchtlinge ankamen. Tatsächlich waren sie jetzt ein wanderndes Volk, ein ganzes wanderndes Volk, keine Eroberer, keine Kolonisten und keine Besucher. Sie selbst wollten nicht einmal Siedler sein, nur Gäste für eine möglichst kurze Zeit. Doch neben dem augenblicklichen Drama sollte auf sie ein noch viel dauerhafteres kommen, welches eine ganze Generation nicht würde ablegen können – das Drama der unerfüllten Sehnsucht nach der Heimat. Ein bäuerlicher Lauf in den Rhythmen der Jahreszeiten traf auf eine Welt aus Fabrikschloten, Braunkohlengruben, rußgeschwärzten Häuserzeilen, aus schnellem Handel, Kleinbürgertum und Proletariat. Ein anderer Puls schlug in dieser menschendichten und, wie ihnen anfangs schien, trostlosen Leipziger Tieflandsbucht, eine andere Sprache kam hastig und laut zum Ziel, und eine schwerere Luft erzwang ein anderes Atmen. In einer der emsigsten Ebenen Europas würden viele der Neuankömmlinge noch bis in ihr Greisenalter von „zu Hause“ reden, die Gedichte vom Birnbäumel aufsagen und sich die rührenden Geschichten aus der „alten Heimat“ erzählen. Wie man einst die Mythen und Legenden der Völkerwanderungszeit an den Lagerfeuern erzählte, würden sich die Neuankömmlinge an den Feiertagen und bei Familienfesten zusammenfinden, nach Mitternacht die Fensterläden schließen und mit Tränen in den Augen ihre Geschichten erzählen und ihre Schlesierlieder singen. Wer sich aus dieser Falle einer Diaspora, deren Fremdes kein anderer Glaube, sondern eine Sehnsucht war, befreien wollte, musste entweder noch Schlimmeres erlebt haben oder andere Lieder singen und sich nicht umwenden, gleich einem beherrschten Orpheus auf dem Weg ins Diesseits. Hanna Magdalena Wildenschwert saß in der milder werdenden letzten Februarwoche auf dem Bock neben ihrer Mutter. Der Zug war von Tag zu Tag kleiner geworden, denn die Kranken und am meisten Erschöpften erhielten zuerst Quartier in den Dörfern und Landstädten am Weg. Ihr Ziel auf einer handgezeichneten Karte hieß: Frohburg. Sie sahen in der Ferne den rauchdurchzogenen Himmel über Leipzig und davor, wie ein aufrechtes Schild, das Denkmal der Völkerschlacht. Sie sahen die geschwärzten Ziegelmauern der Braunkohlenwerke und Raffinerien, düster und durchkreuzt von gesprengtem und geschmolzenem Stahl, sie sahen geborstene Schornsteine, die wie gefallene Riesen auf den Splitterbetten der Werkhallen lagen, und sie folgten mit ihren Blicken den endlosen Schienensträngen, die ihnen ganz ungewohnt waren und die weite Landschaft wie eine Blöße bis zum Horizont spannten. Die Frauen schwiegen bei diesem Anblick, und nur nachdem sie einmal eine scheinbare Ewigkeit an endlosen Braunkohlengruben entlang gefahren waren, hinter deren schroffen, abgenagten Hängen nichts zu sehen war als tote braune Krater und Schüttkegel aus Sand, hatte Tilda Wildenschwert gemurmelt: „Du lieber Gott, wo sind wir hingeraten?“ Als sie endlich an einem unbekannten Tag im späten Februarlicht den gestürzten Wegweiser passierten, der den Weg nach Frohburg in Richtung Himmel zu zeigen schien und wie ein erstarrter Finger vor dem kahlen, kalt rot beleuchteten Panorama stand, kam der Treckführer an den Wagen und wies sie an, mit fünf anderen Gespannen die nächste Straße nach Süden abzubiegen. Man werde zwar erst in der Dunkelheit ankommen, aber die Quartiermacher vor Ort wüssten Bescheid. In dieser Nacht, in der eine Fahrt durch die Hölle Erinnerung zu werden begann, entdeckte Hanna Wildenschwert ein unverhofftes Zeichen von Lebensgier in sich. Nachdem ihr Wagen ein Spalier schweigender Bürger von Frohburg, deren einige in der befohlenen Verdunkelung mit Kerzen vor ihren Türen standen, passiert hatte und mit seinen eisenbeschlagenen Speichenrädern über das Kopfsteinpflaster des Marktes und dann in einen dunklen Torweg gerasselt war, sprang sie herunter, ging auf eine der unschlüssig mit einer Petroleumlampe stehenden Frauen zu und fragte, ob sie ein Bad nehmen könne. Die verdutzte Frau brachte nichts anderes hervor als „Nu freilich“ und ging mit ihr über den Hof in das vom Waschtag noch dampfnasse Badehaus, in dessen Kessel ein letzter Rest Kohlenglut glomm. In der feuchten balsamischen Wärme des kleinen Raumes mit seinen salpetrigen Wänden erschien es Hanna, als werde ihr gegeben von den Brunnen des lebendigen Wassers, wie sie es sich als Kind vorgestellt hatte, wenn Pfarrer Hartwig vom neuen Lebensatem des Jüngsten Tages gesprochen hatte. Und während sich draußen im schallenden Hofgeviert die aufgeregten Dialekte zu verständigen suchten, um eine Lösung für die plötzliche Heimsuchung zu finden, stand sie im lauwarmen seifigen Wasser eines Zubers und betrachtete in einem fast blinden Spiegel ihren weißen, schmal gewordenen Leib. Sein Leuchten, das ihr heller erschien als das Licht der funzeligen Petroleumlampe, gab ihr den vergessenen Glauben an das...