E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Woolf / Reichert Mrs Dalloway
1. Auflage 2010
ISBN: 978-3-10-400089-3
Verlag: S. Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Reihe: Virginia Woolf Gesammelte Werke
ISBN: 978-3-10-400089-3
Verlag: S. Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Virginia Woolf wurde am 25. Januar 1882 als Tochter des Biographen und Literaten Sir Leslie Stephen in London geboren. Zusammen mit ihrem Mann, dem Kritiker Leonard Woolf, gründete sie 1917 den Verlag The Hogarth Press. Ihre Romane stellen sie als Schriftstellerin neben James Joyce und Marcel Proust. Zugleich war sie eine der lebendigsten Essayistinnen ihrer Zeit und hinterließ ein umfangreiches Tagebuch- und Briefwerk. Virginia Woolf nahm sich am 28. März 1941 in dem Fluß Ouse bei Lewes (Sussex) das Leben.
Weitere Infos & Material
Mrs Dalloway sagte, sie wolle die Blumen selber kaufen. Denn Lucy hatte genug zu bestellen. Die Türen würden aus den Angeln gehängt werden; Rumpelmayers Leute kämen. Und dann, dachte Clarissa Dalloway, was für ein Morgen – frisch, wie geschaffen für Kinder am Strand.
Was für ein Vergnügen! Was für ein Sprung! Denn so war es ihr immer vorgekommen, wenn sie, mit einem leichten Quietschen der Angeln, das sie jetzt hören konnte, die Fenstertür zum Garten aufgerissen hatte und in Bourton [1]ins Freie gesprungen war. Wie frisch, wie ruhig, stiller natürlich als jetzt, die Luft am frühen Morgen war; wie der Klaps einer Welle; der Kuß einer Welle; eiskalt und schneidend und doch (für ein Mädchen von achtzehn, das sie damals war) feierlich, mit dem Gefühl, das sie an der offenen Tür stehend hatte, etwas Bestürzendes werde sich gleich ereignen; auf die Blumen blickend, auf die Bäume mit dem entweichenden Dunst und die steigenden und sinkenden Krähen, stehend und blickend, bis Peter Walsh sagte »zum Grübeln ins Gemüse« – war es das? – »Menschen sind mir lieber als Blumenkohl« – war es das? Er mußte es eines Morgens beim Frühstück gesagt haben, als sie auf die Terrasse getreten war – Peter Walsh. Er würde dieser Tage aus Indien zurückkehren, im Juni oder Juli, sie hatte vergessen, wann, denn seine Briefe waren schrecklich fade; seine Bemerkungen waren es, an die man sich erinnerte; seine Augen, sein Taschenmesser, sein Lächeln, seine Verdrossenheit und, wenn abertausend Dinge längst entschwunden waren – wie seltsam war das! –, ein paar Bemerkungen wie die über Kohlköpfe.
Sie stockte ein wenig am Kantstein, bis Durtnalls Lieferwagen vorbeigefahren war. Eine bezaubernde Frau, meinte Scrope Purvis von ihr (er kannte sie, wie man Leute kennt, die neben einem in Westminster wohnen); etwas von einem Vogel an ihr, einem Eichelhäher, blau-grün, leicht, lebhaft, obwohl sie über fünfzig und seit ihrer Krankheit sehr weiß geworden war. Da war sie, aufgebaumt, ganz ohne ihn zu sehen, aufs Hinübergehen wartend, sehr aufrecht.
Denn wenn man in Westminster gelebt hatte – wie viele Jahre jetzt? über zwanzig –, fühlt man selbst mitten im Verkehr oder beim nächtlichen Wachen, Clarissa war ganz sicher, eine besondere Stille oder Erhabenheit; eine unbeschreibliche Pause; eine Beschwernis (aber das konnte ihr Herz sein, das, hieß es, von der Grippe geschwächt war), bevor Big Ben schlägt. Da! Voll dröhnte er. Erst eine Warnung, melodisch; dann die Stunde, unwiderruflich. Die bleiernen Kreise lösten sich auf in der Luft. Was für Narren wir sind, dachte sie, Victoria Street überquerend. Denn der Himmel allein weiß, warum man es so liebt, wieso man es so sieht, es erdenkend, es um sich gründend, es umstürzend, es jeden Augenblick neu erschaffend; aber die reinsten Vogelscheuchen, die am meisten von Elend entmutigten auf den Türstufen Sitzenden (Trunksucht ihr Niedergang) tun das gleiche; nichts dagegen zu machen, sie fühlte das sicher, durch Parlamentsbeschlüsse, aus genau diesem Grund: sie lieben das Leben. In den Augen der Leute, in dem Schwung, Schritt und Gang; in dem Brüllen und dem Tosen; den Kutschen, Automobilen, Omnibussen, Lieferwagen, den schlurfenden und schwankenden Sandwichmännern; den Blaskapellen; den Drehorgeln; in der Glorie und dem Klingeln und dem seltsamen hohen Singen eines Aeroplans da oben war, was sie liebte; Leben; London; dieser Juni-Augenblick.
Denn es war Mitte Juni. Der Krieg war zu Ende, [2]bloß nicht für jemand wie Mrs Foxcroft gestern abend im Embassy, deren Herz sich verzehrte, weil der nette Junge gefallen war und der alte Herrensitz jetzt an einen Vetter fällt; oder Lady Bexborough, die, hieß es, einen Wohltätigkeitsbazar eröffnete, in der Hand das Telegramm, John, ihr Liebling, sei gefallen; aber er war zu Ende; gottseidank – zu Ende. Es war Juni. Der König und die Königin [3]waren im Schloß. Und überall, obgleich es noch so früh war, war ein Stampfen, ein Wirbeln galoppierender Ponies, Schlagen von Krickethölzern; Lords, Ascot, Ranelagh [4]und was es sonst noch gab; gehüllt in das weiche Gespinst der graublauen Morgenluft, die sie, wenn der Tag verstrich, abspulen und auf ihre Rasenplätze und Markierungen stellen würde, die stürmenden Ponies, deren Vorderbeine den Boden kaum berührten, und schon sprangen sie hoch, die herumwirbelnden jungen Männer und lachenden Mädchen in ihren durchscheinenden Musselinkleidern, die, eben jetzt, nach einer durchtanzten Nacht, ihre absurden wolligen Hunde ausführten; und eben jetzt, zu dieser Stunde, kamen diskrete alte Witwen von Stande in ihren Automobilen zu geheimnisvollen Besorgungen herausgeschossen; und die Ladeninhaber pusselten in ihren Schaufenstern mit ihren Kunststeinen und Diamanten, ihren himmlischen alten, seegrünen Broschen in Fassungen aus dem achtzehnten Jahrhundert, um Amerikanerinnen zu verführen (aber man muß sich einschränken, nicht unbesonnen etwas für Elizabeth kaufen), und auch sie, die das mit einer verdrehten und treulichen Leidenschaft liebte, da sie ein Teil davon war, denn ihre Vorfahren waren früher in den georgianischen Zeiten [5]bei Hofe gewesen, auch sie würde heute abend anzünden und erleuchten; ihre Gesellschaft geben. Aber wie seltsam, beim Betreten des Parks, [6]die Stille; der Dunst; das Summen; die träg-schwimmenden glücklichen Enten; die aufgeplusterten watschelnden Vögel; und wer anders konnte da mit dem Rücken zu den Regierungsgebäuden, wie gerufen, daherkommen, eine Depeschentasche mit dem königlichen Wappen in der Hand. Wer anders als Hugh Whitbread; ihr alter Freund Hugh – der wunderbare Hugh!
»Einen guten Morgen wünsche ich Ihnen, Clarissa!«, sagte Hugh, ziemlich übertrieben, denn sie kannten einander von Kindheit an. »Wohin führt Sie der Weg?«
»Ich gehe so gern in London spazieren«, sagte Mrs Dalloway. »Wirklich, das ist besser als auf dem Lande spazierenzugehen.«
Sie seien gerade erst hereingekommen – dummerweise – um den Arzt aufzusuchen. Andere Leute kämen, um sich Museen anzusehen; um in die Oper zu gehen; um ihre Töchter auszuführen; die Whitbreads kämen, »um den Arzt aufzusuchen«. Zahllose Male hatte Clarissa Evelyn Whitbread im Sanatorium besucht. Sei Evelyn wieder krank? Evelyn sei gewissermaßen unpäßlich, sagte Hugh und gab durch eine Art Vorwölben oder Anschwellen seines vortrefflich eingehüllten, männlichen, äußerst ansehnlichen, vollendet aufgepolsterten Körpers (er war immer fast zu gut angezogen, mußte es aber, seines kleinen Postens bei Hofe wegen, vermutlich sein) zu verstehen, daß seine Frau ein inneres Leiden habe, nichts Ernstes, was Clarissa Dalloway, als eine alte Freundin, leicht verstehen würde, auch ohne ihn um Einzelheiten zu ersuchen. O ja, das tat sie selbstverständlich; wie verdrießlich; und empfand schwesterliches Mitgefühl und war sich gleichzeitig ihres Hutes merkwürdig bewußt. Nicht der richtige Hut für den frühen Morgen, war es das? – Denn Hugh gab ihr immer das Gefühl, wie er sich tummelte, seinen Hut ziemlich übertrieben lüftete und ihr versicherte, sie könnte ein Mädchen von achtzehn sein, und natürlich käme er heut abend zu ihrer Gesellschaft, Evelyn bestehe unbedingt darauf, es könnte nur ein bißchen später werden nach dem Empfang im Buckingham Palace, zu dem er einen von Jims Söhnen mitnehmen müsse – sie fühlte sich immer ein bißchen mickrig neben Hugh; schulmädchenhaft; aber anhänglich an ihn, teils weil sie ihn schon immer gekannt hatte, aber sie fand ihn, auf seine Weise, ganz in Ordnung, obgleich er Richard mehr oder minder rasend machte, und was Peter Walsh anging, der hatte ihr bis zum heutigen Tage nie verziehen, daß sie ihn mochte.
Sie konnte sich an eine Auseinandersetzung nach der andern in Bourton erinnern – Peter wütend; Hugh, selbstverständlich, ihm in keiner Weise gewachsen, aber doch nicht der ausgemachte Schwachkopf, als den Peter ihn hinstellte; kein bloßer Stockfisch. Wenn seine alte Mutter ihn bat, das Jagen zu lassen oder sie nach Bath zu bringen, tat er das, wortlos; er war wirklich uneigennützig, und was das Gerede, von Peter, anging, daß er kein Herz, kein Hirn, nichts habe als die Manieren und die Erziehung eines englischen Gentleman, so zeigte das nur ihren lieben Peter von seiner schlechtesten Seite; und er konnte unerträglich sein; er konnte unmöglich sein; aber anbetungswürdig, wenn man an einem Morgen wie diesem mit ihm spazierenging.
(Der Juni hatte jedes einzelne Blatt an den Bäumen hervorgelockt. Die Mütter in Pimlico [7]säugten ihre Kleinen. Botschaften wurden zwischen der Flotte und der Admiralität [8]gewechselt. Arlington Street und Piccadilly schienen selbst die Luft im Park zu erhitzen und seine Blätter heiß und glänzend zu heben, auf Wellen dieser göttlichen Lebenslust, die Clarissa liebte. Tanzen, Reiten, das hatte sie hingerissen.)
Denn sie hätten seit Jahrhunderten getrennt sein können, sie und Peter; sie schrieb nie einen Brief, und seine waren knochentrocken; aber plötzlich konnte es sie überkommen, wenn er jetzt bei mir wäre, was würde er sagen? – manche Tage, manche Anblicke brachten ihn ihr zurück, ruhig, ohne die alte Bitterkeit; was vielleicht der Lohn dafür war, Leute gemocht zu haben; sie kamen mitten im St James’s Park an einem schönen Morgen zurück – wirklich taten sie das. Aber Peter – wie wunderbar der Tag auch sein mochte, und die Bäume und das Gras und das kleine Mädchen in Rosa – Peter sah nichts von all dem. Er würde seine Brille aufsetzen, wenn sie ihn dazu aufforderte; er würde hinsehen. Es war der Zustand der Welt, der ihn interessierte;...