E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Woolf / Reichert Die Wellen
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-10-490492-4
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Reihe: Virginia Woolf Gesammelte Werke
ISBN: 978-3-10-490492-4
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Virginia Woolf wurde am 25. Januar 1882 als Tochter des Biographen und Literaten Sir Leslie Stephen in London geboren. Zusammen mit ihrem Mann, dem Kritiker Leonard Woolf, gründete sie 1917 den Verlag The Hogarth Press. Ihre Romane stellen sie als Schriftstellerin neben James Joyce und Marcel Proust. Zugleich war sie eine der lebendigsten Essayistinnen ihrer Zeit und hinterließ ein umfangreiches Tagebuch- und Briefwerk. Virginia Woolf nahm sich am 28. März 1941 in dem Fluß Ouse bei Lewes (Sussex) das Leben.
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Die Wellen
»Ich sehe einen Ring«, sagte Bernard, »der über mir hängt. Er bebt und hängt in einer Lichtschlaufe.«
»Ich sehe eine Tafel aus blassem Gelb«, sagte Susan, »die sich verbreitert, bis sie auf einen Purpurstreifen trifft.«
»Ich höre ein Geräusch«, sagte Rhoda, »tschirp, zirp; tschirp, zirp, das auf- und niedersteigt.«
»Ich sehe eine Kugel«, sagte Neville, »die als Tropfen an den riesigen Flanken eines Hügels hängt.«
»Ich sehe eine feuerrote Troddel«, sagte Jinny, »die mit Goldfäden durchwirkt ist.«
»Ich höre etwas stampfen«, sagte Louis. »Der Fuß eines großen Tieres ist angekettet. Es stampft und stampft und stampft.«
»Seht doch das Spinnennetz an der Balkonecke«, sagte Bernard. »Es ist von Wasserperlen überzogen, Tropfen weißen Lichts.«
»Die Blätter sind um das Fenster versammelt wie gespitzte Ohren«, sagte Susan.
»Ein Schatten fällt auf den Pfad«, sagte Louis, »wie ein angewinkelter Ellbogen.«
»Inseln von Licht schwimmen auf dem Gras«, sagte Rhoda. »Sie sind durch die Bäume gefallen.«
»Die Augen der Vögel leuchten in den Tunnels zwischen den Blättern«, sagte Neville.
»Die Stengel sind mit rauhen, kurzen Härchen bedeckt«, sagte Jinny, »und Wassertropfen sind an ihnen hängengeblieben.«
»Eine Raupe ist zu einem grünen Ring zusammengerollt«, sagte Susan, »eingekerbt, mit stumpfen Füßen.«
»Die Schnecke mit dem grauen Haus zieht über den Pfad und drückt die Grashalme hinter sich platt«, sagte Rhoda.
»Und glühende Lichter von den Fensterscheiben huschen hin und her auf den Gräsern«, sagte Louis.
»Die Steine fühlen sich kalt unter meinen Füßen an«, sagte Neville. »Ich spüre sie, rund oder spitz, jeden einzeln.«
»Mein Handrücken glüht«, sagte Jinny, »aber die Innenfläche ist klamm und feucht vom Tau.«
»Jetzt kräht der Hahn wie ein Strahl festen, roten Wassers in der weißen Flut«, sagte Bernard.
»Vögel singen auf und nieder und ein und aus rund um uns her«, sagte Susan.
»Das Tier stampft; der Elefant mit angekettetem Fuß; das große Untier auf dem Strande stampft«, sagte Louis.
»Seht doch das Haus«, sagte Jinny, »mit all den Fenstern, weiß vor Rouleaus.«
»Kaltes Wasser beginnt aus dem Hahn an der Spüle zu laufen«, sagte Rhoda, »über die Makrele in der Schüssel.«
»Die Wände sind von goldenen Rissen durchzogen«, sagte Bernard, »und unter den Fenstern sind blaue, fingerförmige Blätterschatten.«
»Jetzt zieht Mrs Constable ihre dicken schwarzen Strümpfe hoch«, sagte Susan.
»Wenn der Rauch aufsteigt, rollt sich der Schlaf vom Dach wie eine Nebelschwade«, sagte Louis.
»Die Vögel sangen erst im Chor«, sagte Rhoda. »Jetzt wird die Tür der Spülküche aufgeriegelt. Fort sind sie. Fort sind sie wie ein Wurf Saatkörner. Aber einer singt am Fenster des Schlafzimmers allein.«
»Blasen bilden sich am Boden des Kochtopfes«, sagte Jinny. »Dann steigen sie, immer schneller, in einer Silberkette an die Oberfläche.«
»Jetzt schabt Biddy die Fischschuppen mit einem gezackten Messer auf ein Holzbrett«, sagte Neville.
»Das Eßzimmerfenster ist jetzt dunkelblau«, sagte Bernard, »und die Luft vibriert über den Schornsteinen.«
»Eine Schwalbe sitzt auf dem Blitzableiter«, sagte Susan. »Und Biddy hat den Eimer auf die Küchenfliesen geknallt.«
»Das ist der erste Schlag der Kirchenglocke«, sagte Louis. »Dann folgen die anderen; eins, zwei; eins, zwei; eins, zwei.«
»Seht doch das Tischtuch, wie es weiß den Tisch entlangflattert«, sagte Rhoda. »Jetzt gibt es Kreise weißen Porzellans und Silberstreifen neben jedem Teller.«
»Plötzlich dröhnt eine Biene in meinem Ohr«, sagte Neville. »Sie ist hier; sie ist vorbei.«
»Ich glühe, ich zittere«, sagte Jinny, »aus dieser Sonne heraus, in diesen Schatten hinein.«
»Jetzt sind sie alle weg«, sagte Louis. »Ich bin allein. Sie sind zum Frühstück ins Haus gegangen, und ich bleibe hier stehen an der Mauer zwischen den Blumen. Es ist sehr früh, vor dem Unterricht. Blume um Blume wird auf die Tiefen des Grüns getüpfelt. Die Blütenblätter sind Harlekine. Stengel steigen auf aus den schwarzen Höhlen darunter. Die Blumen schwimmen wie Fische aus Licht auf den dunklen, grünen Wassern. Ich halte einen Stengel in der Hand. Ich bin der Stengel. Meine Wurzeln reichen hinab in die Tiefen der Welt, durch terracottatrockene Erde und feuchte Erde, durch Adern von Blei und Silber. Ich bin ganz Faser. Jedes Beben schüttelt mich, und das Gewicht der Erde preßt sich gegen meine Rippen. Hier oben sind meine Augen grüne Blätter, blicklos. Ich bin ein Junge in grauen Flanellhosen mit einem Gürtel, den eine Messingschlange schließt, hier oben. Dort unten sind meine Augen die lidlosen Augen einer steinernen Gestalt in einer Wüste am Nil. Ich sehe Frauen mit roten Krügen zum Fluß gehen; ich sehe Kamele hin- und herschaukeln und Männer mit Turbanen. Ich höre Getrampel, Gezitter, Geraschel um mich her.
Hier oben streifen Bernard, Neville, Jinny und Susan (aber nicht Rhoda) mit ihren Netzen über die Blumenbeete. Sie streifen die Schmetterlinge von den nickenden Blütenspitzen. Sie fegen über die Oberfläche der Welt. Ihre Netze sind voll von flatternden Flügeln. ›Louis! Louis! Louis!‹ rufen sie. Doch sie können mich nicht sehen. Ich bin auf der anderen Seite der Hecke. Es gibt nur kleine Gucklöcher zwischen den Blättern. O Gott, laß sie vorbeigehen. Lieber Gott, laß sie ihre Schmetterlinge auf einem Taschentuch auf dem Kies ausbreiten. Laß sie ihre kleinen Füchse, ihre roten Admirale und Kohlweißlinge nachzählen. Doch laß mich ungesehen bleiben. Ich bin grün wie eine Eibe im Schatten der Hecke. Mein Haar ist aus Blättern. Ich bin mit dem Mittelpunkt der Erde verwurzelt. Mein Körper ist ein Stengel. Ich quetsche den Stengel. Ein Tropfen sickert aus dem Loch des Stengelmundes und langsam, sämig, wird er immer größer und größer. Jetzt bewegt sich etwas Rosafarbenes am Guckloch vorbei. Jetzt schiebt sich ein Augenstrahl durch die Ritze. Der Strahl trifft mich. Ich bin ein Junge in grauem Flanell. Sie hat mich gefunden. Ich werde am Nacken getroffen. Sie hat mich geküßt. Alles ist zerbrochen.«
»Ich bin herumgerannt«, sagte Jinny, »nach dem Frühstück. Ich sah, wie sich die Blätter in einem Loch in der Hecke bewegten. Ich dachte, ›Das ist ein Vogel auf seinem Nest.‹ Ich zerteilte sie und guckte; aber da war kein Vogel auf einem Nest. Die Blätter bewegten sich immer noch weiter. Ich hatte Angst. Ich rannte an Susan vorbei, an Rhoda, und Neville und Bernard unterhielten sich im Geräteschuppen. Ich weinte, wie ich da rannte, schneller und schneller. Was bewegte die Blätter? Was bewegt mein Herz, meine Beine? Und ich stürzte hier herein und sah dich, grün wie ein Busch, wie ein Zweig, ganz still, Louis, mit starren Augen. ›Ist er tot?‹ dachte ich und küßte dich, während mein Herz unter meinem rosa Kleid hüpfte wie die Blätter, die sich immer noch bewegen, obwohl nichts da ist, was sie bewegt. Jetzt rieche ich Geranien; ich rieche Humus. Ich tanze. Ich vibriere. Es wirft mich über dich wie...