Woolf / Reichert | Das Totenbett des Kapitäns | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Reihe: Virginia Woolf, Gesammelte Werke

Woolf / Reichert Das Totenbett des Kapitäns

Essays
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-10-403210-8
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Essays

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Reihe: Virginia Woolf, Gesammelte Werke

ISBN: 978-3-10-403210-8
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Virginia Woolfs Gedanken zu Literatur und Leben Ihre Romane gehören zur Weltliteratur, ihre Tagebücher und autobiographischen Schriften sind berühmt. Aber als glänzende, höchst anregende Essayistin ist Virginia Woolf immer noch zu entdecken. Die leidenschaftliche Leserin schrieb viele ihrer Rezensionen und Betrachtungen für das renommierte ?Times Literary Supplement? und andere Zeitschriften. Mit schwebender Aufmerksamkeit widmet sie sich den Themen, die Literatur, Kunst und Leben ihr stellen, und offenbart dabei den ganzen Reichtum ihres Wissens und Denkens, die Vielfalt ihrer gestalterischen Möglichkeiten und den Zauber ihrer Prosa. Die beiden Textsammlungen ?Granit und Regenbogen? (Bd. 092568) und ?Das Totenbett des Kapitäns? (Bd. 092560), ausgewählt aus dem immensen essayistischen Werk, bilden den Abschluss der Ausgabe der Gesammelten Werke von Virginia Woolf.

Virginia Woolf wurde am 25. Januar 1882 als Tochter des Biographen und Literaten Sir Leslie Stephen in London geboren. Zusammen mit ihrem Mann, dem Kritiker Leonard Woolf, gründete sie 1917 den Verlag The Hogarth Press. Ihre Romane stellen sie als Schriftstellerin neben James Joyce und Marcel Proust. Zugleich war sie eine der lebendigsten Essayistinnen ihrer Zeit und hinterließ ein umfangreiches Tagebuch- und Briefwerk. Virginia Woolf nahm sich am 28. März 1941 in dem Fluß Ouse bei Lewes (Sussex) das Leben.
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White’s Selborne


»Da ist etwas, in den meisten Gattungen wenigstens, das sie auf den ersten Blick unterscheidet, und es einem urteilsfähigen Beobachter ermöglicht, sich über sie mit einiger Sicherheit zu äußern.« Gilbert White spricht natürlich über Vögel; der gute Ornithologe, sagt er, müsse in der Lage sein, sie nach ihrem Verhalten, ihrem »air«, zu unterscheiden – »am Boden ebenso wie im Fluge, und im Busch ebenso wie in der Hand«.[20] Wenn aber der Vogel zufällig Gilbert White selber ist, wenn wir versuchen, die Farbe und Form dieses ganz seltenen Vogels zu bestimmen, sind wir in Verlegenheit. Ist er, wie der so leuchtend handkolorierte Vogel als Frontispiz des zweiten Bandes, ein Zwitter – etwas zwischen einem Huhn, das gluckt, und einer Nachtigall, die singt? Es ist eines jener doppelsinnigen Bücher, die eine einfache Geschichte zu erzählen scheinen, die , und doch hat es durch einen offensichtlich unbewußten Trick des Autors eine Tür offen gelassen, durch die wir entfernte Laute hören, einen Hund, der bellt, Karrenräder, die knarren, und, wenn »die ganze verblassende Landschaft in Nacht versinkt«, falls wir nicht Venus selbst sehen, so doch wenigstens eine Geistereule.

Seine Absicht scheint deutlich genug – es sollten bestimmte Beobachtungen über die Fauna und Flora seines Heimatdorfes seinen Freunden Thomas Pennant und Daines Barrington[21] mitgeteilt werden. Aber es geschah nicht zum Nutzen dieser Herren, daß er die sachliche und stattliche Beschreibung Selbornes verfaßte, mit der das Buch anhebt. Da ist es vor uns, das Dorf Selborne, das im äußersten östlichen Zipfel der Grafschaft Hampshire liegt mit seinem Waldabhang und seinen Schafdriften und seinen tiefen Schneisen, »die den Damen Furcht einflößen und ängstliche Reiter erschauern lassen«. Der Boden ist zum Teil Ton, zum Teil weicher, kalkhaltiger Lehm, Mergel; die Cottages sind aus Stein oder Ziegel; die Männer arbeiten in den Hopfengärten, und im Frühling und Sommer jäten die Frauen das Korn. Kein Romanautor hätte besser beginnen können. Selborne ist fest in den Vordergrund gerückt. Aber etwas fehlt noch; und noch bevor die Szene sich füllt mit Vögeln, Mäusen, Wühlmäusen, Grillen und dem Elch des Herzogs von Richmond, bevor die Seite laut wird vom Zirpen, Blöken, Muhen und Grunzen in ihrem vertrauten Verein, sehen wir Queen Anne[22] vor uns am Abhang liegen und das vorbeigetriebene Wild beobachten. Es war eine Anekdote, bemerkt er beiläufig, die er von einem alten Flurhüter, Adams, hatte, dessen Urgroßvater, Vater und er selbst Hüter im Waldrevier gewesen waren. Und so ist die einzige gewundene Straße mit der Geschichte verbündet und von der Tradition schattiert. Kein Romanautor hätte uns kürzer und vollständiger alles das geben können, was wir wissen müssen, bevor die Geschichte beginnt.

Die Geschichte Selbornes ist eine Geschichte der Pflanzen-, der Tierwelt. Getratscht wird über die Gewohnheiten von Kreuzottern, und das Interesse am Liebesleben wird hauptsächlich durch die Frösche befriedigt. Verglichen mit Gilbert White ist der realistischste Romancier ein weltfremder Romantiker. Der Kropf des Kuckucks wird untersucht; die Kreuzotter seziert; der Grashüpfer wird mit einem biegsamen Grashalm in seinem Loch aufgespürt; die Maus wird gemessen und ihr Gewicht als das eines halben Kupferpenny ermittelt. Nichts kann die Genauigkeit dieser Beobachtungen übertreffen, oder die peinlich genaue Sorgfalt, mit der sie durchgeführt werden. Die umstrittene Hauptfrage – sie ist in der Tat das Thema des Buches – ist die Wanderung der Schwalben. Barrington glaubte, die Schwalbe halte Winterschlaf. White, der einen Neffen in Andalusien hat, der ihn informiert, neigt jetzt zur Wanderung; nimmt es dann aber zurück. Jedes Körnchen eines Beweises wird gesiebt; keines wird verdunkelt. Durch alle seine Fähigkeiten, die er dieser großen Frage zuwendet, dem Inbild der Wissenschaft in ihrer unschuldigsten und aufrichtigsten Form, verliert er jene Selbstgewißheit, die uns so oft von unseren Mitmenschen trennt und wird wie ein Vogel, den man durch einen Feldstecher geschäftig in einer fernen Hecke sieht. Dies ist der geeignete Moment, wenn seine Augen fest auf die Schwalbe gerichtet sind, Gilbert White selbst zu beobachten.

Wir bemerken an erster Stelle die bezaubernde Einfachheit des Geschöpfes. Die öffentliche Meinung ist ihm ganz gleichgültig. Er verpflanzt eine Kolonie von Grillen auf seinen Rasen; er sperrt eine davon in einen Papierkäfig auf seinem Tisch; er brüllt durch ein Sprachrohr seine Bienen an – sie bleiben ungerührt; er kommt in Selborne mit Tante Snookes’ alter Schildkröte an, die neben ihm in der Postkutsche sitzt. Und während er so beschäftigt ist, stößt er jene kleinen Gluckser des Vergnügens aus, jene halb-bewußten Murmeleien und Kommentare, die ihn so »amüsierlich« machen wie einen seiner eigenen Vögel. »… Aber die Ungleichheit ihrer Größe«, so sinniert er, die fruchtlose Paarung zwischen Elch und Rotwild erwägend, »muß immer schon eine Schranke für jeden Verkehr amouröser Art gewesen sein.« »Das Kopulieren von Fröschen«, bemerkt er, »ist jedermann nur zu bekannt … und doch habe ich nie gesehen, oder gelesen, daß man Kröten in der gleichen Lage beobachtet hat.« »Bemitleidenswert scheint die Lage dieses armen behinderten Reptils zu sein«, beklagt er die Schildkröte, doch »es gibt eine Zeit des Jahres (gewöhnlich Anfang Juni), da geht die Schildkröte auf Zehenspitzen« den Gartenweg entlang auf der Suche nach Liebe.

Und gerade so wie der Pfarrgarten für die Schildkröte der Tante Snookes eine ganze Welt zu sein schien, so wird England, wenn wir durch die Augen von Gilbert White blicken, ungeheuer groß. Die South Downs, über die er Jahr für Jahr reitet, werden zu »einer weiten Kette von Bergen«. Die Landschaft ist sehr leer. Er ist einsamer in Selborne als es heute ein Bauer auf den entferntesten Hebriden ist. Es stimmt, er hat –  und er ist stolz darauf – einen Neffen in Andalusien; aber er hat zur Zeit keinen Bekannten unter den Herren der Marine; und obwohl London und Bath existieren, kommen natürlich – London rühmt sich zu Recht einer sehr schönen Sammlung von Geweihen – die Gerüchte aus jenen Großstädten sehr langsam über wilde Moore und Wege, die der Schnee unpassierbar gemacht hat. In dieser stillen Luft werden die Laute verstärkt. Wir hören das Wispern der Grashüpfer-Lerche; das Krächzen der Krähen ist wie eine Hundemeute »in hohlen, von Echos widerhallenden Wäldern«; und an einem stillen Sommerabend dröhnt die Kanone von Portsmouth herüber, gerade wenn der Ziegenmelker sein Lied beginnt. Sein Bewußtsein hat, wie der Vogelkropf, den die Bauersfrau mit Gemüse vollgestopft fand und zum Essen kochte, nichts anderes in sich als Insekten und zarte grüne Schößlinge. Diese unschuldige, diese unbewußte Glückseligkeit wird nicht durch Beteuerung vermittelt, sondern viel wirkungsvoller durch jene ungesuchten Erinnerungen, die sich aus eigenem Antrieb einstellen. Sie stammen alle von heißen Sommerabenden – in Oxfords viereckigem Hof von Christ Church; auf dem Ritt von Richmond nach Sunbury mit den Schwalben, die rasch über den Fluß gleiten. Selbst die schrille Stimme der Grille, die einigen so mißtönend klingt, erfüllt sein Gemüt »mit einer Reihe sommerlicher Gedanken, mit allem, was ländlich, grün und freudig ist«. Es ist Kontinuität in seiner Glückseligkeit; die gleichen Gedanken kehren bei den gleichen Gelegenheiten wieder. »Ich habe dieselbe Bemerkung in früheren Jahren gemacht, wenn ich wie jedes Jahr desselben Weges kam.« Jahrein, jahraus dachte er an die Schwalben.

Aber die Landschaft, in der dieser Vogel so frei umherschweift, hat ihre Hecken. Sie schließen ein, aber sie beschützen. Es ist das, was er so passend die Vorsehung nennt. »Kirchtürme«, bemerkt er, »sind sehr notwendige Bestandteile in der Landschaft.« Die Vorsehung wohnt dort – unerforschlich, denn warum billigt sie Tante Snookes’ Schildkröte so viele Lebensjahre zu? Aber sie ist voller Weisheit – betrachte die Schenkel des Frosches – »Wie wunderbar ist der Haushalt der Vorsehung hinsichtlich der Glieder eines so widerwärtigen Tieres!« Fünfzig Jahre später wäre die Vorsehung weder so unerforschlich noch so weise gewesen – sie würde ihr Dunkel verloren haben. Aber um 1760 war die Vorsehung in voller Jugendkraft; sie bringt alle Zweifel zum Schweigen und gibt dem Geist so die Freiheit, praktisch alles zu befragen. Neben der Vorsehung sind da die Schlösser und Sitze des Adels. Er respektiert sie fast in gleicher Weise. Die alten Familien – die Howes, die Mordaunts – kennen ihren Platz und halten die Armen an ihrem fest. Gilbert White ist den Armen gegenüber weit weniger zartfühlend – »Wir sind mit Armen überschwemmt«, schreibt er, wie wenn das Ungeziefer unterhalb seiner Kenntnisnahme wäre – als gegenüber dem Grashüpfer, den er so sorgfältig aus seinem Loch hebt und einmal versehentlich totquetscht. Schließlich ist da, die Landschaft mit ihrem erhabenen Lorbeer beschattend, die Literatur – die lateinische Literatur natürlich. Sein Geist wird von den Klassikern heimgesucht. Er läßt ab und zu einen lateinischen Satz erklingen, als wollte er sein Englisch stimmen. Das Echo, das eine so berühmte Eigenart Selbornes war, scheint aus eigenem Antriebe auszuposaunen: …[23] Gilbert White hatte Vergil im Kopf, als er die Frauen beschrieb, die in Selborne Binsenkerzen...


Woolf, Virginia
Virginia Woolf wurde am 25. Januar 1882 als Tochter des Biographen und Literaten Sir Leslie Stephen in London geboren. Zusammen mit ihrem Mann, dem Kritiker Leonard Woolf, gründete sie 1917 den Verlag The Hogarth Press. Ihre Romane stellen sie als Schriftstellerin neben James Joyce und Marcel Proust.
Zugleich war sie eine der lebendigsten Essayistinnen ihrer Zeit und hinterließ ein umfangreiches Tagebuch- und Briefwerk. Virginia Woolf nahm sich am 28. März 1941 in dem Fluß Ouse bei Lewes (Sussex) das Leben.

Reichert, Klaus
Klaus Reichert, 1938 geboren, ist Literaturwissenschaftler, Autor, Übersetzer und Herausgeber. Von 1964 bis 1968 war er Lektor in den Verlagen Insel und Suhrkamp, von 1975 bis 2003 war er Professor für Anglistik und Amerikanistik an der Frankfurter Goethe-Universität, 1993 gründete er dort das 'Zentrum zur Erforschung der Frühen Neuzeit'. Von 2002 bis 2011 war er Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Bei S. Fischer erschien zuletzt 'Türkische Tagebücher. Reisen in ein unentdecktes Land' (2011) und 'Wolkendienst. Figuren des Flüchtigen' (2016).

Virginia WoolfVirginia Woolf wurde am 25. Januar 1882 als Tochter des Biographen und Literaten Sir Leslie Stephen in London geboren. Zusammen mit ihrem Mann, dem Kritiker Leonard Woolf, gründete sie 1917 den Verlag The Hogarth Press. Ihre Romane stellen sie als Schriftstellerin neben James Joyce und Marcel Proust.
Zugleich war sie eine der lebendigsten Essayistinnen ihrer Zeit und hinterließ ein umfangreiches Tagebuch- und Briefwerk. Virginia Woolf nahm sich am 28. März 1941 in dem Fluß Ouse bei Lewes (Sussex) das Leben.
Klaus ReichertKlaus Reichert, 1938 geboren, ist Literaturwissenschaftler, Autor, Übersetzer und Herausgeber. Von 1964 bis 1968 war er Lektor in den Verlagen Insel und Suhrkamp, von 1975 bis 2003 war er Professor für Anglistik und Amerikanistik an der Frankfurter Goethe-Universität, 1993 gründete er dort das 'Zentrum zur Erforschung der Frühen Neuzeit'. Von 2002 bis 2011 war er Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Bei S. Fischer erschien zuletzt 'Türkische Tagebücher. Reisen in ein unentdecktes Land' (2011) und 'Wolkendienst. Figuren des Flüchtigen' (2016).

Virginia Woolf wurde am 25. Januar 1882 als Tochter des Biographen und Literaten Sir Leslie Stephen in London geboren. Zusammen mit ihrem Mann, dem Kritiker Leonard Woolf, gründete sie 1917 den Verlag The Hogarth Press. Ihre Romane stellen sie als Schriftstellerin neben James Joyce und Marcel Proust. Zugleich war sie eine der lebendigsten Essayistinnen ihrer Zeit und hinterließ ein umfangreiches Tagebuch- und Briefwerk. Virginia Woolf nahm sich am 28. März 1941 in dem Fluß Ouse bei Lewes (Sussex) das Leben.
Klaus Reichert, 1938 geboren, ist Literaturwissenschaftler, Autor, Übersetzer und Herausgeber. Von 1964 bis 1968 war er Lektor in den Verlagen Insel und Suhrkamp, von 1975 bis 2003 war er Professor für Anglistik und Amerikanistik an der Frankfurter Goethe-Universität, 1993 gründete er dort das »Zentrum zur Erforschung der Frühen Neuzeit«. Von 2002 bis 2011 war er Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Bei S. Fischer erschien zuletzt »Türkische Tagebücher. Reisen in ein unentdecktes Land« (2011) und »Wolkendienst. Figuren des Flüchtigen« (2016).



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