Wondratschek | Mozarts Friseur | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

Reihe: Ullstein eBooks

Wondratschek Mozarts Friseur


19001. Auflage 2019
ISBN: 978-3-8437-2074-8
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

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Reihe: Ullstein eBooks

ISBN: 978-3-8437-2074-8
Verlag: Ullstein HC
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Zweihundert Jahre nach seinem Tod betritt Mozart, übermüdet vom Nachruhm, in Wien einen Friseursalon. Es ist das Zauberreich eines Haarschneidekünstlers, der jeden willkommen heißt, der sich dem Gesetz von Raum und Zeit zu entziehen scheint. Zur illustren Kundschaft gehören neben Mozart, Thomas Bernhard und einem Kamel allerlei andere Künstler, Denker und Träumer, deren sonderbare Gespräche von morgens bis abends den Salon erfüllen.

Wolf Wondratschek wuchs in Karlsruhe auf. Von 1962 bis 1967 studierte er Literaturwissenschaft, Philosophie und Soziologie an den Universitäten in Heidelberg, Göttingen und Frankfurt am Main. Seit 1967 lebte er als freier Schriftsteller zunächst in München. In den Jahren 1970 und 1971 lehrte er als Gastdozent an der University of Warwick, Ende der 1980er-Jahre unternahm er ausgedehnte Reisen unter anderem in die USA und nach Mexiko. Er lebt seit 1996 in Wien.
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1

Der Friseur, so die Legende, ist eine Mischung aus einem arabischen Findelkind und einem (gewordenen) Wiener, aufgefunden von Nomaden und von ihnen am Leben gehalten, gesäugt von Kamelen, nachts warm gehalten von ihrem Dung, bemuttert von Palmenschatten, in die man ihn während der Ruhepausen bettete. Die Hölle war es trotzdem. Mit dem Lebenswillen eines Weggeworfenen wehrte er sich gegen das Verdursten und Verhungern, gegen Fieber und das Verbrennen der Augen. Bedürfnislos wie die Tiere, die ihn trugen, kam er durch. Eine Gruppe von Matrosen, die um eine Wasserpfeife saß, nahm das verlorene kleine Bündel in Port Said an Bord ihres Frachters (mit Ziel São Paulo), in keiner Absicht. In den Wüsten, erklärten sie, sei der Sand, am Himmel die Sonne, auf See jede Welle wahnsinnig. Daran solle er sich unter Menschen bis zu seiner Todesstunde erinnern.

Der Friseur kann den Wortlaut dieser seltsam bedrohlichen, knapp und endgültig klingenden Botschaft noch heute, fast ein halbes Menschenleben später, im Schlaf aufsagen, ist aber dem Entschluß zu seiner Entschlüsselung aus Gründen, über die er erst lange nachdenken müßte, bisher immer ausgewichen. Nicht, daß ihm dazu die Zeit gefehlt hätte, natürlich nicht. Aber es klappte beim Nachdenken mit den Gedanken nicht, sie waren nie zu dressieren. Und trainiert hat er das Denken später auch nie. Er geht noch immer auf Sand oder Wasser, wenn er denkt. Es gibt keinen Grund, keinen festen Boden, er sinkt ein, das Gehen seiner Gedanken ist schwer und ermüdend. Auch deshalb erinnert er sich jener lange zurückliegenden Zeit, als er an Gedanken noch nicht einmal gedacht hatte. Das Schweigen der Männer, die ihn aufgezogen hatten, war so selbstverständlich wie ihre Befehle verständlich waren. Unterhielten sie sich, benutzten sie nicht Worte, sondern machten Musik, einige tanzten. Sie lasen keine Bücher, schrieben keine Briefe, stellten keine Fragen, auch ihm nicht. Die Sonne ging morgens auf und abends ging sie unter, kein Gedanke würde daran etwas ändern, auch der Gedanke an Profite nicht. Es war das Leben ein stummes Vorwärtskommen auf beschwerlichen Routen, ein Ausruhen zwischendurch, ein Aufbrechen zu einem Ziel, von dem aus sie nach einigen Tagen oder Wochen wieder in die Wüste zurückkehrten, wieder beladen, wieder im Kampf mit dem Auftrag, eine Ladung ins Landesinnere zu bringen, zu Oasen oder Handelsstationen, und von dort eine andere zurück zum Fluß oder zur Küste.

Da ihm Gefahren unbekannt waren, dachte er über sie auch nicht nach. Luftspiegelungen, falls er sie überhaupt wahrnahm, hielt er für wirklich. Ein Spiel war nichts, was ihm widerfuhr. Er spielte nicht, mit nichts, nicht unterwegs. Er dachte sich auch nichts bei dem Spaß, unter die Bäuche der Kamele zu kriechen, um die dort herunterhängenden Haarbüschel erst zu entflechten, um sie anschließend wieder zu kleinen Zöpfen binden zu können. Mach nur weiter so, sagten die Männer und gaben ihm Fußtritte.

Das alles änderte sich mit den Matrosen.

Plötzlich gab es Gedanken. Sie kamen mit den Träumen, den Enttäuschungen, der Erschöpfung. Mit jedem Lebensmonat verbrachte er mehr Zeit mit ihnen. Alles, was er sah, reicherte er an durch Gedanken. Das machte zuerst ziemlich viel Spaß. Er suchte die Begrenzung des Frachters, auf dem er wohnte, die Meeresoberfläche bis zum Horizont, den Himmel bis hinter alle Sterne ab, nicht mit Augen, sondern in Gedanken. So ließ eine Herde Wale, die auftauchte, unter den Seeleuten die Freude reifen, sich der Küste zu nähern, in ein, zwei Tagen von Bord zu kommen und sich an Land eine Frau kaufen zu können, in seinem Kopf schlug die Phantasie andere Purzelbäume. Er wollte schwimmen und tauchen lernen und es eines Tages können wie Fische. War es nicht noch einfacher, gleich ganz ein Fisch zu werden? War es Gedanken möglich, Wunder zu vollbringen, nur ein kleines, wie das, aus ihm, einem kleinen Jungen, einen kleinen Fisch zu machen? Konnte man durch Nachdenken nachhelfen? Wie machte man das? Gab es Techniken, die halfen? Gab es Geheimnisse? Hätte ihn jemand in diesem Augenblick gepackt und über Bord geworfen, er hätte, zumindest bis zum Aufprall auf dem Wasser und der Ernüchterung, sich doch nicht retten zu können, noch glücklich an den Spuk einer Gedankenübertragung geglaubt.

Das Kind hatte, wenn man es nur reden ließ, für die Männer also Unterhaltungswert, was sein Überleben erst einmal garantierte. Über Bord werfen konnte man den Findling ja immer noch. Bis dahin aber war es manchmal sogar zum Totlachen, was alles er sonst noch so von sich gab. Er konnte reden wie die Señoritas, wenn sie verliebt sind. Die erzählen einem auch, kaum daß sie sich untergehakt haben, daß am Himmel da oben ein Stern ihnen gehöre, ihnen ganz allein, der auf sie aufpasse – genau das Zeug, von dem man nie wußte, was man darauf antworten sollte. Außerdem brachte man sie nie von der Tanzfläche, schon gar nicht, wenn Perry Como catch a falling star / and put it in your pocket / keep it for a rainy day sang, was sie einem gleichzeitig auch noch falsch ins Ohr summten. Am liebsten hätten sie die Nacht mit einem unermüdlichen Tänzer verbracht, der die Drinks zahlt, von Liebe spricht und erst einmal gehorsam ein nicht zu dünnes Bündel Banknoten zieht, als Vorschuß sozusagen auf gute Laune und kommendes Glück. Es war dann aber die eine wie die andere so verstört, wie es eben verlorene Frauen sind, die den Weg zur Schlachtbank mit zusammengebissenen Zähnen verfluchen, sich aber damit abgefunden haben, wie unerschöpflich bei Männern, noch dazu bei betrunkenen Matrosen, die Ressourcen ihrer Roheit waren und wie weh es tat unter ihrem Gewicht. Den Sternen gleich waren auch sie am Morgen wieder verschwunden.

Aus dem Mund des Kindes aber klang der Schwachsinn schön, wie eines dieser längst vergessenen Gute-Nacht-Lieder, die man Seelen singt, die sich ängstigen.

Na ja, kann schon sein, Kleiner, daß da oben ein Stern auf dich wartet. Da mußt du nur noch etwas wachsen, damit ihn dir nicht ein anderer vor der Nase wegschnappt.

Ich weiß, sagte das Kind, ich beeil mich ja.

Es gab nun offenbar aber Gedanken, die nur dazu da schienen, einen vom Denken abzulenken, jede Menge Gedanken, die sich ausschließlich in der Rolle von Störenfrieden gefielen. Zu dieser Zeit fiel ihm zum ersten Mal auf, daß ihm die Begabung fehlte, sich auf das Hochseil eines einzelnen, einzigen, möglicherweise einzigartigen Gedankens zu konzentrieren. Schon war da wieder die Ablenkung eines abschweifenden anderen Gedankens, dem andere, viele andere es sogleich nachtaten. Und während er, das Seil verfehlend, nach unten fiel, stiegen gleichzeitig Gedanken auf, wieder andere Gedanken, aber die dachten nicht daran, ihn aufzufangen, ihn vor dem Sturz zu retten oder auch nur den zu erwartenden Aufprall gnädig abzufedern.

Ein Federkleid, dachte er, wird aus Gedanken wohl nicht gemacht.

Mir fehlt die Kraft, stöhnte einmal ein anderer, mir fehlt die Kraft, zwei Gedanken zusammenzubringen, wurde Schriftsteller – und mit seinen Romanen weltberühmt.

Möwen und Seeadler, die ersten Vögel, die er bewußt wahrnahm, waren Radarsysteme, die Nahrung orteten, auf Knopfdruck zum Sturzflug ansetzten, mit der Beute aufflogen und mit den Winden verschwanden. Bei dem Vogel, der im Käfig seines Kopfes flatterte, machte jede Feder, was sie wollte. Zum Fliegen war das schlimme Durcheinander im Gefieder unbrauchbar, jeder Flügel war anders verstimmt oder verkümmert, die Spannbreite lächerlich. So saß das Tier fest, lahmte und pickte nach allem, was in Reichweite seines Schnabels geriet. Es war gefährlich geworden, wie irre. Und so gab es der Junge, dem der Kopf davon weh tat, auf, den Sinn der Ermahnung deuten zu wollen, überließ, was die Matrosen über den Sand, die Sonne und das Wasser gesagt hatten, der Obhut seiner Erinnerung und begnügte sich mit der Hoffnung, es seien eines Tages, um zu verstehen, Gedanken gar nicht mehr notwendig.

Tatsächlich brachte er zumindest später einen kleinen Anfang doch zustande. Obwohl längst kein Kind mehr, benutzte er dazu noch immer gern seine Finger, als zähle er die Gedanken in der Reihenfolge ihrer vermuteten Zugehörigkeit. Was die Matrosen hatten sagen wollen, leuchtete ein, zumal, wenn man nicht sicher sein konnte, nicht doch unterwegs in einem Sturm, der den Verstand nun wirklich verloren hatte, abzusaufen. Daumen! Den Wahnsinn eines Sandsturms abwehren zu wollen, das überstieg, wie sich oft genug herausgestellt hatte, selbst Allahs Kompetenz, von den Kräften seiner Schutzengel, falls es die gibt, ganz zu schweigen. Zeigefinger! Die Sonne, auch das stimmte, war kein Spaß. Wer sie herausforderte, der wurde früher oder später unweigerlich wahnsinnig. In einem Buch, aus dem ihm einmal, sehr viel später, einer vorgelesen hatte, stand es beschrieben. Das Land gehört der Sonne. Das ist es, was er weiß. Das ist alles, was er weiß. Und daß keiner entkommt. Alles auf der Welt ist lächerlich, nur die Sonne nicht. Soviel zum Mittelfinger. Unter den Menschen dagegen, zumal bei Windstille und in gutgeschlossenen Räumen wie in europäischen Städten, ist der Wahnsinn vergleichsweise unauffindbar, in jedem Fall schwer zu deuten, sein Härtegrad weder mit bloßem Auge noch mit Menschenkenntnis zu berechnen, seine Kraft lautlos, seine Ursachen dem Verstehen im Grunde unerreichbar.

Nun gut, beschloß er bei Betrachtung des unbeschäftigten nächsten, seines Ringfingers, er würde abwarten, aber weiter damit rechnen, die Matrosen könnten recht behalten.

Jahre später, bei einem Zwischenstopp im Hafen von Triest, ging er an Land und fiel, entkräftet und orientierungslos, wie er war, vor einem...


Wondratschek, Wolf
Wolf Wondratschek wuchs in Karlsruhe auf. Von 1962 bis 1967 studierte er Literaturwissenschaft, Philosophie und Soziologie an den Universitäten in Heidelberg, Göttingen und Frankfurt am Main. Seit 1967 lebte er als freier Schriftsteller zunächst in München. In den Jahren 1970 und 1971 lehrte er als Gastdozent an der University of Warwick, Ende der Achtzigerjahre unternahm er ausgedehnte Reisen unter anderem in die USA und nach Mexiko. Er lebt seit 1996 in Wien.



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