Wondratschek / Marquardt | Erde und Papier | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Reihe: Ullstein eBooks

Wondratschek / Marquardt Erde und Papier


19001. Auflage 2019
ISBN: 978-3-8437-2041-0
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Reihe: Ullstein eBooks

ISBN: 978-3-8437-2041-0
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Zwischen Underground und Scheinwerferlicht - Unveröffentlichtes, Reportagen, Porträts und Storys John Lennon ist tot, und Wolf Wondratschek erinnert sich an eine Zeit, als vier Liverpooler das Grau der Welt in bunte Explosionen zersprengten. Renoir malt ein schlafendes Mädchen, aber er glaubt dem Maler nicht. In einer Kirche spricht er über Johann Sebastian Bach, in einer Erzählung mit einem, der zu Fuß nach China unterwegs ist. Warum ist die Pfeife, die Magritte gemalt hat, keine Pfeife? Aber der Rauchfangkehrer, der mit Gedichten von ihm vor seiner Tür steht, ist echt. Noch nie hat Wolf Wondratschek sich in Verlegenheit gefühlt, die Vernunft träumen und die Fakten tanzen zu lassen. Fremdes mit Nahem mischen, sich beim Staunen nicht stören lassen - das war und ist es, was sein Schreiben belebt. So entstehen jene Mischformen des Literarischen, die den Leser in 'Erde und Papier' überraschen.

Wolf Wondratschek wuchs in Karlsruhe auf. Von 1962 bis 1967 studierte er Literaturwissenschaft, Philosophie und Soziologie an den Universitäten in Heidelberg, Göttingen und Frankfurt am Main. Seit 1967 lebte er als freier Schriftsteller zunächst in München. In den Jahren 1970 und 1971 lehrte er als Gastdozent an der University of Warwick, Ende der 1980er-Jahre unternahm er ausgedehnte Reisen unter anderem in die USA und nach Mexiko. Er lebt seit 1996 in Wien.
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Das habe ich noch im Ohr. Meine Mutter will wissen, wie es in der Schule war, und wie ich sage: Na ja, wie immer.

Nur wenn ein Deutschaufsatz dran gewesen war, war ich gesprächiger, weil es mir Spaß machte, Aufsätze zu schreiben. Ich konnte es nicht erklären, aber ich mochte es. Und ich war der Einzige in meiner Klasse, dem Deutschaufsätze zu schreiben Spaß machte. Alle anderen stöhnten.

Eine mögliche Erklärung meiner guten Laune müsste so lauten: Ich hatte, vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben, eine Entscheidung getroffen. Ich hatte mich in etwas Großes, Unbekanntes verliebt, in die Wörter, mit denen man sich Sätze ausdenken konnte, Wörter, die einen Klang hatten, und der Klang konnte Schönheit sichtbar machen – und Wahrheit. Ich ahnte das mehr, als dass ich es begriff, und hätte es damals gar nicht formulieren können. Von Satz zu Satz war die Welt veränderbar, und die Welt, das waren die Geschichten, die man sich erzählt. Da durfte mich nichts ablenken, nichts sich einmischen, da hatte keine andere Autorität das letzte Wort. Ich tat etwas ganz für mich, und das rücksichtslos. Da war nichts mehr halbherzig, und das machte den kleinen Jungen auf eine nie gekannte Weise stolz auf sich. Und in der Folge nicht leicht zu handhaben.

An dieser Stelle wäre es, denke ich, angebracht, dem Deutschlehrer (und anderen in diesem Schulfach) ein Kompliment zu machen. Er hat nicht den Direktor der Schule informiert und auch nicht meine Eltern in seine Sprechstunde zitiert, um herauszufinden, was mit ihrer Erziehung schiefgelaufen war.

Die Rechnung war einfach. Sollte mir erst einmal einer nachweisen, ob das, was ich schrieb, richtig oder falsch war. Das unterschied einen Deutschaufsatz von einer Mathematik-Arbeit oder einer Arbeit in Latein. Da war etwas entweder richtig oder falsch. Und ich bekam Schwierigkeiten. Wenn ich mich dagegen aber über ein Thema auslassen konnte, z. B. darüber, nur ein Beispiel, ob Reisen bildet und was ich von dem Satz, dass Reisen bildet, hielt, war ich in meinem Element. Ich wusste natürlich, dass ich für eine gute Note besser behauptete, ja natürlich bilde Reisen, Reisen seien für jede Bildung ganz wesentlich, und ich die südensüchtigen Maler und Dichter erwähnen sollte, die sich im 18. und 19. Jahrhundert auf die klassische Bildungsreise nach Griechenland oder Italien begeben hatten. Aber während ich in Mathematik und Latein durchaus auf gute Noten aus war, wie hätte ich sonst das Abitur schaffen sollen, waren mir gute Noten in Deutsch völlig egal. Ich behauptete also, nein, Reisen sei eine Mühe, die sich selten lohne, sie ermüde, koste Geld und man treffe auf Menschen, die einem auf die Nerven gingen. So in etwa! Ich bot auch einen Kronzeugen auf, gegen den zu argumentieren nicht leicht sein würde, den Philosophen Pascal, in den hatte ich mal hineingeschaut. Das Unglück des Menschen sei, hatte Pascal geschrieben, dass er nicht in seinem Zimmer bleiben könne! Reisen im Kopf ja, von Reisen träumen, einer Reise in eine der großen Wüsten der Erde, mit dem Ziel, nie wieder in die Zivilisation zurückzukehren. Aber Koffer packen, Koffer schleppen, Koffer auspacken, in Betten schlafen, die man sich nicht ausgesucht hatte?

Irgendwie schaffte ich es, dass meine Deutschlehrer der Reihe nach kapitulierten. Ich setzte die Satzzeichen richtig, machte keine grammatikalischen Fehler, schrieb ein sprachlich schönes, mitunter sogar, wie ich glaubte, elegantes Deutsch, vermied Fremdwörter. Alles in Ordnung, bis eben auf meine Behauptung, man solle besser zu Hause in seinem Zimmer bleiben. Na gut, das Fenster öffnen, dem Singen der Vögel lauschen, dem Regen oder einem Gewitter, zuschauen wie die Wolken dahinzogen oder Flugzeuge, ein Buch lesen, am besten Gedichte und die laut – während an der Tür zu meinem Zimmer das Schild »Bitte nicht stören!« hing.

Rückblickend habe ich den Verdacht, dass mein Deutschlehrer vom Reisen vielleicht auch nicht viel hielt, von den Verkehrsstaus am Brenner, den Trampelpfaden die Akropolis hinauf, dem stundenlangen Geschiebe und Geschubse vor den Ticketschaltern der Uffizien oder denen in Pompeji, das aber als Pädagoge natürlich nicht zugeben durfte, schon gar nicht an einer Schule, die auf Goethe getauft worden war, der bekanntlich auf Bildungsreisen große Stücke hielt.

Was ich für eine Note bekam? Keine. »Mit schulischen Maßstäben nicht zu erfassen!« stand da nur. Ich fand das in Ordnung.

Bis zum Abitur blieb es dabei. Keiner meiner Deutschaufsätze wurde benotet. Ich empfand das als Auszeichnung. Wie auch die Ohrfeige, die mir mein Vater verpasste, als er mich, auf dem Bett liegend, antraf und wissen wollte, was ich tue – und ich ihm sagte: das siehst du doch, ich arbeite.

Und das war nicht einmal gelogen. Ich arbeitete daran, mir ein Leben vorzustellen, das zu leben Spaß machen könnte – was gar nicht so einfach war, wie es sich anhört.

»Wir müssen, was wir suchen, erfinden«, schrieb ich Jahrzehnte später. Ich suchte, scheint mir heute, nach der geheimen Signatur meines Lebens.

Dann hatte ich es mit den Chinesen. In einem Brevier mit fernöstlichen Weisheiten, ich glaube, einem Reclam-Heft, wurde ich mit der Einsicht belohnt, die mich durch und durch erfrischte: »Der Mensch reifte zum Menschen, als ihm das Nutzlose unentbehrlich wurde.«

Ich konnte damit jedem in meiner Familie den schönsten Sonntagnachmittag ruinieren.

Meine Mutter machte sich Sorgen. Sie litt unter der Vorstellung, ich würde, sollte ich meine Drohung, ein Dichter zu werden, wahrmachen wollen, verhungern – was mein Vater, nach seinem Gesichtsausdruck zu schließen, für die gerechte Strafe für einen wie mich ansah.

So ganz unbegründet sind die Sorgen unserer Eltern nie, auch wenn Sorgenkinder andere Sorgen haben als ein sicheres Einkommen im gesetzten Alter. Ich hätte mich geschämt, an Geld zu denken. Ich zweifelte ja keine Minute daran, dass ich, wenn ich Geld bräuchte, es schon irgendwie kriegen könne. Trotzdem hätte ich damals gern eine Mutter gehabt, die mir einfach alles zutraute, egal in welchem Beruf. Und gerne einen Vater, der auf meine Zukunft das eine oder andere Glas trank, wenn er danach nur nicht notorisch versucht hätte, witzig sein zu wollen. Es wird sich schon eine reiche Frau finden, die sich in dich verliebt.

Meine Großmutter, auch sie damals noch am Leben, schaute ihren Sohn, der mein Vater war, mit einem Kopfschütteln an, das energischer nicht hätte sein können. Und nannte ihn einen Dummkopf – und mir streichelte sie sanft mitfühlend die Hand. Setz dem Kind keine solchen Flausen in den Kopf. Ob er nicht wisse, dass reiche Frauen Unglück brächten, anderen und sich selbst.

Hilfreich war das Gespräch, das ich mit einem amerikanischen Schriftsteller, mit dem ich mich in New York angefreundet hatte, geführt habe. Mach nicht den gleichen Fehler wie ich, mein Junge. Lass dich nicht von Leuten, die Geld haben, über den Tisch ziehen. Lass dich bezahlen, gut bezahlen, aber lass dich nicht kaufen!

Das habe ich mir gemerkt – und den Rat, schon aus Respekt vor den Sorgen meiner Mutter, beherzigt.

Dann, ich hatte gerade erst als Schriftsteller debütiert, kamen gute Zeiten. Niemand konnte ahnen, wie viele Menschen die Gedichte, die ich schrieb, lesen wollten. Ich war, was meine Gedichte anging, ganz gegen meinen Willen zu einer Art Bestsellerautor geworden. Ich war – Gott sei’s geklagt – in Mode.

Und deshalb ging dann hin und wieder das Telefon.

Ja, bitte?

Ein Redakteur eines hochklassigen Gourmet-Magazins hatte Fotos vor sich auf dem Tisch liegen, Fotos von einem berühmten Fotografen, die er unbedingt in seinem Heft haben wollte, aber er brauchte irgendwas, einen Text. Etwas über Spaghetti.

In meinem Kopf machte es klick! Das wird teuer, sagte ich.

Dachte ich mir, sagte er.

Wir einigten uns.

Ich wurde für eine Seite Text, die ich in einer Nacht raushaute, besser bezahlt als für ein Manuskript, auch wenn ich daran Tag und Nacht, und das zwei Jahre lang, geschuftet hätte.

Ein anderes Beispiel. Ein hohes Tier eines Automobilkonzerns wünscht sich einen kurzen Text als Vorwort für einen repräsentativen Bildband, der nur an wenige ausgesuchte Händler, das allerdings in aller Welt, abgegeben werden soll. Wenn einer so etwas schreiben kann, dann Sie, sagt er, was mich überrascht. Wäre der amtierende Bundespräsident, ein Weltmeister der Formel 1 oder ein PS-begeisterter Opernsänger nicht die bessere Wahl, wende ich ein. Wir haben uns gedacht, sagt er, dass ein Dichter, einer wie Sie, das machen sollte.

Das wird teuer, sage ich.

Kein Problem, sagt er.

Wir einigen uns.

Es war wirklich ein Haufen Kohle. Man kann, das gebe ich zu, auf den Geschmack kommen.

Damals gewöhnte ich mir an, mir alles in bar auszahlen zu lassen. Keine Schecks. Keine Überweisungen. Ich wollte den Dreck, den Geld für mich darstellt, sehen. Wie ein Arbeiter, der freitags seine Lohntüte kriegt, Geld sehen will. Aber es kommt noch besser. Es gibt eine Anekdote, die niemand für wahr hält, die es aber ist. Ich soll von meinem Verleger für ein Manuskript nicht Geld, sondern eine Kiste Gold verlangt haben. Stimmt, habe ich. Und warum eigentlich nicht? Gedichte mit Gold zu bezahlen erschien mir angemessener, zumindest poetischer als mit einem Bündel dreckiger Geldscheine.

Es war dies nicht das erste Mal  und auch nicht das letzte Mal –, dass ich durch gewisse Eigenheiten, sagen wir ruhig: Extravaganzen...


Wondratschek, Wolf
Wolf Wondratschek wuchs in Karlsruhe auf. Von 1962 bis 1967 studierte er Literaturwissenschaft, Philosophie und Soziologie an den Universitäten in Heidelberg, Göttingen und Frankfurt am Main. Seit 1967 lebte er als freier Schriftsteller zunächst in München. In den Jahren 1970 und 1971 lehrte er als Gastdozent an der University of Warwick, Ende der Achtzigerjahre unternahm er ausgedehnte Reisen unter anderem in die USA und nach Mexiko. Er lebt seit 1996 in Wien.

Marquardt, Claudia
Claudia Marquardt studierte Romanistik, Germanistik und Kunstgeschichte in Berlin und Lyon. Sie arbeitet als Lektorin und Übersetzerin in Berlin, u.a. übertrug sie Laetitia Colombani und Frédéric Beigbeder ins Deutsche.



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