Wolk Der Sommer, in dem der Blitz mich traf
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-446-28355-8
Verlag: Hanser, Carl
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-446-28355-8
Verlag: Hanser, Carl
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein mächtiges Sommergewitter wirbelt Annabelles Leben durcheinander. Eigentlich will Annabelle bloß die ersten warmen Ferientage genießen: Erdbeeren pflücken, mit ihren Brüdern durch die Maisfelder streifen und die schattige Stille in der Wolfsschlucht genießen. Da unterbricht ein heftiges Gewitter die Idylle. Annabelle gerät mitten hinein und wird vom Blitz getroffen. Sie überlebt, verfügt jedoch plötzlich über eine ebenso seltsame wie wunderbare Gabe: Sie kann die Tiere um sich herum verstehen, ihre Gefühle und Ängste spüren. Annabelles geschärfte Sinne erweisen sich schon bald als sehr nützlich, denn als in der Umgebung immer mehr Hunde verschwinden, macht sie sich auf die Suche nach ihnen und schließt überraschende neue Freundschaften.
Lauren Wolk ist Schriftstellerin, Dichterin und bildende Künstlerin. Sie studierte Literatur an der Brown University und arbeitete u. a. als Redakteurin, Feuilletonistin, Lehrerin und stellvertretende Leiterin des Cultural Center of Cape Cod. Dort lebt sie auch mit ihrer Familie. Für ihr Jugendbuch-Debüt Das Jahr, in dem ich lügen lernte (2017) erhielt sie den Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreis. Es folgten Eine Insel zwischen Himmel und Meer (2018, Reihe Hanser bei dtv) und Echo Mountain (2021). 2025 erscheint ihr neuer Roman Der Sommer, in dem der Blitz mich traf.
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1
Ich wusste nicht, dass ein Gewitter heraufzog.
Hätte ich es gewusst, hätte ich manches vielleicht anders gemacht.
Aber ich hatte meiner Lehrerin, Mrs. Taylor, versprochen, mit ihr zusammen das Schulhaus zu putzen, bevor es für den Sommer seine Pforten schloss.
Also machte ich mich auf den Weg, hinaus aus unserem engen Tal, den Hang hinauf, vorbei an Tobys Grab (wo ich kurz stehen blieb, um eine Hand auf seinen Gedenkstein zu legen) und wieder hinab, durch ein junges Weizenfeld in den Wald von Wolf Hollow.
Die Bäume selbst waren durchaus freundlich, und das Sonnenlicht, das durch ihr Laub gefiltert wurde, tat sein Bestes, um mich aufzuheitern, doch der Weg durch die Wolfsschlucht weckte jedes Mal dunkle Erinnerungen in mir, sooft ich auch versucht hatte, sie zur Ruhe zu bringen. Diese Erinnerungen schliefen niemals tief, wie kleine Vögel schreckten sie bei der leisesten Bewegung hoch und erhoben sich noch im selben Moment in die Luft, während ich tiefer und tiefer in Schwermut versank.
Erst wenige Monate waren vergangen, seit ich versucht hatte, meinen Freund Toby vor einem Mädchen namens Betty zu retten. Betty war durch und durch böse, Toby hingegen ein Mann am Ende seiner Kräfte, ein leichtes Ziel für ein Mädchen, das an seiner Treffsicherheit arbeitete. Von beiden sind heute nur noch die Narben da, die sie an mir hinterlassen haben. Neben solchen, die ich mir selbst zugefügt habe, weil ich helfen wollte.
Seit Tobys Tod war ich oft abgelenkt durch Gedankenspiele, die sehr viel und enthielten, und quälte mich mit Überlegungen, was ich hätte anders machen können. Ich vertraute mir selbst nicht mehr so, wie ich es einmal getan hatte. Das alles lastete schwer auf mir, vor allem, wenn ich durch den Wald lief, der einst Tobys Zuhause gewesen war.
Doch an diesem Tag erwartete mich Mrs. Taylor. Besen und Schrubber, Eimer und Wischmopp standen schon bereit, und ich freute mich auf eine Aufgabe, die mich bestimmt wieder erden, meinen Blick nach vorn richten würde. Dann würden auch meine Erinnerungen ihre Flügel zusammenfalten und sich zurückbegeben in die Nester, in die sie gehörten.
»Nun, Annabelle, wie war dein Sommer bisher?«, fragte Mrs. Taylor, während sie Staub und Ruß von den Fensterscheiben wischte.
Der Juni war ein seltsamer Monat: Die großen Ferien hatten begonnen, sodass ich auf einmal viele freie Stunden gehabt hätte, aber dafür fiel auf der Farm so viel Arbeit an, dass ich mehr als sonst zu tun hatte.
»Gut«, sagte ich und fegte weiter all das zusammen, was aus den Sohlen von Kinderstiefeln gefallen war, Grashälmchen und getrocknete Lehmbröckchen. »Es gab viel zu pflanzen. Und viele Erdbeeren zu pflücken.« Das musste ich ihr eigentlich nicht sagen. Fast alle Familien bei uns im Ort waren Farmer. Jeder wusste, was das mit sich brachte. »Aber ich bin ja gerne draußen.« Sie nickte.
Wir arbeiteten weiter in friedlichem Schweigen. Wie fremd das Schulhaus auf einmal wirkte ohne das Schnattern und Füßescharren der Kinder an ihren Pulten und die gedämpfte Stimme von Mrs. Taylor, die einer kleinen Gruppe nach der anderen etwas an der Tafel erklärte. Und ohne den Geruch, den warme Lunchtüten verströmten, den Duft von Fleischsandwiches, fettem Käse und gekochtem Ei.
Unser Schweigen wurde nur unterbrochen vom Quietschen des mit Essig getränkten Zeitungspapiers, mit dem Mrs. Taylor die Fenster putzte, und dem meines Besens. Und dann, ganz unerwartet, von einem Klopfen an der Tür.
Mrs. Taylor und ich sahen uns überrascht an.
»Wer um alles …?« Sie stieg von ihrer Trittleiter und ging mit schnellen Schritten zur Tür, um herauszufinden, wer da gekommen war und warum.
Ich folgte ihr mit etwas Abstand, aber doch so, dass ich den Mann auf der Türschwelle sehen konnte. Älter als zwanzig, aber noch keine dreißig, schätzte ich. Gesehen hatte ich ihn noch nie.
Man könnte ihn gut aussehend nennen, aber das traf es nicht. Schön war er.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Mrs. Taylor und wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab.
»Das will ich hoffen«, antwortete er mit einem Lächeln, das den Blick auf zwei Reihen gerader, weißer Zähne freigab.
Der Fremde hatte grüne Augen — meine Lieblingsfarbe, was Augen betraf — und einen adrett geschnittenen Schnauzer, aber keinen Kinnbart, was in unserer Gegend, wo die meisten Männer beides hatten, ungewöhnlich war. Er war breitschultrig, mit einem Brustkorb wie ein Holzfäller. Seiner Erscheinung nach war er allerdings eher ein Stadtmensch, mit sauberer, gepflegter Kleidung und mit geknöpften Manschetten. So trug mein Vater seine Hemden nur zum Kirchgang.
Das Wort kam mir in den Kopf, doch seine Augen waren merkwürdig ausdruckslos, und so hatte ich einen vagen Verdacht, dass er nicht ganz das war, was er zu sein schien. Vielleicht war er im Krieg gewesen und suchte noch immer nach einem Weg zurück. Oder —
»Ich suche meinen Hund, Zeus«, sagte er, und ich entspannte mich.
Ich mochte Menschen, die Hunde mochten.
»Mein Name ist Graf. Aus Aliquippa. Vermutlich zu weit, als dass Zeus irgendwo hier auftauchen dürfte. Aber ich suche ihn schon seit fast einer Woche, da greift man vermutlich nach jedem Strohhalm.« Mit einer Hand machte er eine hilflose kleine Geste.
»Was für eine Rasse ist er?«, fragte ich.
»Ein Bullterrier. Braun. Mit einem weißen Fleck auf der Schulter.«
»Tut mir leid«, sagte Mrs. Taylor, »aber so einen Hund habe ich nirgends gesehen. Du vielleicht, Annabelle?«
Ich schüttelte den Kopf. »Hier laufen viele Hunde herum, aber so einer nicht. Daran würde ich mich erinnern.«
»Nun, wenn er auftauchen sollte, geben Sie mir bitte Bescheid.« Mr. Graf zog einen kleinen Zettel aus der Tasche und hielt ihn uns hin. »Hier ist meine Telefonnummer.«
Mrs. Taylor nahm den Zettel und schob ihn in ihre Schürzentasche. »Natürlich.«
Damit schien alles gesagt, und Mrs. Taylor zog die Augenbrauen hoch, als wollte sie sagen:
Aber ich sah keinen Grund zur Eile. Mir war, als würde ich ein Bild oder einen Blumengarten anschauen, und ich hatte noch nicht genug davon.
»Ich werde auch meine Brüder bitten, die Augen offen zu halten, Mr. Graf«, sagte ich.
»Du kannst mich ruhig Drake nennen.« Er lächelte mich an, und ich fühlte mich schlagartig größer. Älter.
Ich wollte gerade antworten, doch Mrs. Taylor schnitt mir das Wort ab. Gleich fühlte ich mich wieder klein. »Wir melden uns bei Ihnen, falls wir Ihren Hund sehen sollten, Mr. Graf.«
»Gut.« Er zögerte. »Aber versuchen Sie besser nicht, ihn an die Leine zu nehmen. Zeus ist Fremden gegenüber zurückhaltend. Rufen Sie mich einfach an, falls er auftaucht.«
Ich machte mir meine Gedanken. Zurückhaltend, das konnte alles Mögliche bedeuten.
Und dann dieser Name, Zeus. Der Name eines griechischen Gottes. Ein Tier mit so einem Namen klang gefährlich.
Andererseits bekamen Hunde ihren Namen, wenn sie noch ganz klein waren, schwach und blind, also sagte der Name wahrscheinlich mehr über Mr. Graf aus als über seinen Hund.
»Noch etwas: Ich biete auch eine Belohnung. Zehn Dollar«, sagte er. Das war damals eine Menge Geld.
Warum wohl hatte er diesen Hinweis bis ganz zum Schluss aufbewahrt, fragte ich mich. Wie einen Keks.
Wenn wir seinen Hund schon gefunden und ihm das gesagt hätten, ohne von der Belohnung zu wissen, hätte er trotzdem bezahlt? Wohl kaum.
Aber dann hatte ich ein schlechtes Gewissen, dass ich so misstrauisch war einem Mann gegenüber, der mir nichts getan hatte. Ich mochte es nicht, wenn jemand voreilige Schlüsse zog, und versuchte deshalb, es selbst auch nicht zu tun, obwohl es mir manchmal nicht leicht fiel, zu...