E-Book, Deutsch, 264 Seiten
Wolfe Vom Tod zum Morgen
1. Auflage 2016
ISBN: 978-80-268-6735-7
Verlag: e-artnow
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nur die Toten kennen Brooklyn
E-Book, Deutsch, 264 Seiten
ISBN: 978-80-268-6735-7
Verlag: e-artnow
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dieses eBook: 'Vom Tod zum Morgen' ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Thomas Wolfe (1900-1938) war ein amerikanischer Schriftsteller. In dem expressionistischen Dichter Hans Schiebelhuth fand er für seine ersten beiden Romane einen kongenialen Übersetzer, der dazu beitrug, dass Wolfe sich zeitweise in Deutschland höher geschätzt fühlte als in seiner Heimat. In Amerika gehörte William Faulkner, in Deutschland Hermann Hesse zu seinen Bewunderern. Inhalt: Keine Tür Tod, der stolze Bruder Am Rande des Krieges Nur die Toten kennen Brooklyn Dunkel im Walde, fremd wie die Zeit Die vier verlornen Männer Gulliver Landstreicher um Sonnenuntergang Ein 'Mädchen' aus unsrer Reisegesellschaft Ferne und Nähe Im Park Die Leute von Alt-Catawba Zirkus im Tagesgrauen Das Geweb aus Erde
Weitere Infos & Material
Tod, der stolze Bruder
Inhaltsverzeichnis
Das Antlitz der Nacht, das Herz der Dunkelheit, das Zünglein der Flamme – alles, was unterm Schicksalsgesetz der Nacht west, wirkt und sich regt, hatte ich kennengelernt. Ich war der Nacht Kind, einer von ihren zahlreichen Söhnen, und ich wußte um alles, was die Herzen derer bewegt, die die Nacht lieben. Solchen Leuten war ich an tausend Orten begegnet, und nichts, was sie je taten oder sagten, war mir fremd, und schon als Junge, als ich Zeitungsausträger an einem Morgenblatt war, hatte ich sie auf Kleinstadtstraßen erlebt, diese sonderbare und einsame Gesellschaft der nächtlichen Streuner. Manchmal waren sie allein, manchmal zu zweit oder zu dritt, und immer gingen sie in den Mittwachen der Nacht auf dem leeren Pflaster öder Straßen, hielten sie inne vor den gräßlich wächsernen Schaufenster-Puppen der Kleiderläden, blieben sie im harten, grellen Licht der zwiebelbündligen Laternen stehn, strichen sie an hundert verdunkelten Läden vorbei, traten sie schließlich in irgendein kleines Lokal, um Schnute, Lipp' und fahle Wang' in die fleckige Tiefe eines Kaffeekumpens zu stecken und in aller Ruhe zu quasseln und zu klöhnen, oder aber die graue Asche der Zeit stumpfsinnig-schweigsam verrinnen zu lassen. Traumhaft fremd kamen mir diese Leute, kamen mir ihre Gesichter, kam mir ihr rastloses Streunen, das mir damals selbstverständlich vorgekommen war und keine Fragen ausgelöst hatte, nun ins Gedächtnis zurück. Was hatten sie wohl gewollt, was zu finden gehofft, als sie an tausend Türen und Toren in jenen öden, kleinen, winterlichen Städtchen vorüberstrichen? Ihr Hoffen, ihr wilder Glaube, das dunkle Lied, das die Nacht in ihnen sang, jenes Etwas, das im Dunkel lebte und webte, während die Menschen schliefen, das heimlich, frohlockend und sieghaft überall im ganzen Lande geschah, – das alles stand mir im Herzen geschrieben. Nicht in der Reinheit und Süße des ersten Morgenglanzes und all seiner kühnen und eindringlichen Offenbarungsglorie, nicht im tätig-tüchtigen, schlichten Licht des Vormittags, nicht im Mittag der Maisfelder, wenn die Halmschäfte stumm stehen, noch auch um drei Uhr nachmittags im schläfernden Gesumm und Grillengestichel auf den Fluren oder im sonderbar zaubrischen Gold und Grün des lyrisch wilden Waldlands, selbst nicht auf Fluren, die stumm des Tages letzte Hitze und Heftigkeit ausatmend in die unergründliche Tiefe und brütende Stille der Dämmrung sanken, – so tapfer und herrlich diese Stunden und Stimmungen auch gewesen waren, sie waren es nicht, in denen ich das Mysterium, die Größe und die unsterbliche Schönheit Amerikas erfühlt und gefunden hatte. Ich hatte das dunkle Land im Herzen der Nacht, der dunklen, stolzen, geheimnisvollen Nacht gefunden; das unermeßliche und einsame Land lebte für mich im Gehirn der Nacht. Dann sah ich es vor mir hingebreitet mit seinen Ebnen, Strömen und Gebirgen, in seiner ganzen dunklen und unsterblichen Schönheit, seiner ganzen Weite und ungeheuren Entfaltungsfreudigkeit, seiner ganzen Einsamkeit, Wüstheit und Schreckhaftigkeit, seiner maßlosen und erlesnen Fruchtbarkeit, und mein Herz ward eins mit den Herzen aller, die die fremde, wilde Musik dieser Ebnen, Ströme und Gebirge vernahmen, und erfüllt von unbekannten Harmonien und tausend wilden und geheimen Zungen, die frohlockend und furchtbar von der wilden Erde, von Triumph und Entdeckung, die fremd und bitter wahrsagend von Liebe und Tod redeten und sangen. Denn da lebte etwas im nächtigen Lande, da wogte etwas Dunkles flutend durch die Herzen der Menschen. Wild, seltsam, mit seinem Jubel über die unermeßliche, schlafende Erde hinschwellend, hatte es in tausend Nachtwachen zu mir gesprochen, und alles, was seine dunklen und geheimen Zungen gesagt hatten, stand mir im Herzen geschrieben. Mit der rhythmischen Gehaltenheit mächtiger Fittiche war es über mir aufgerauscht, im rasenden Geheul des Winterwinds war es mit dämonisch-ekstatischem Geschrei über mich hinweggesaust wie Kugeln, aus den dumpfweichen Himmeln der Schneeluft war es mit leiser Benommenheit in dunkel andrängenden, wildfreudigen Vorahnungen über mich gekommen, und dunkel, wild und heimlich hatte es überm stillen Lande gebrütet und überm erschütternden, dynamischen Schweigen der Weltstadt gehangen, verstummt zwar in den Millionen Schlafzellen, aber immerdar nächtig bebend im fernen, mächtigen Murmellaut der Zeit. Durch mein Wissen und Leben gehörte ich mit unzweifelhafter Gewißheit zur großen Gesellschaft derer, die bei Nacht leben, um das Mysterium der Nacht wissen und die Nacht lieben. Alles, was diese Leute freut, plagt und erregt, freute, plagte und erregte auch mich. Mit allem, was nachts auf Erden geschieht, hatte ich Bekanntschaft gemacht, und schließlich auch nachts jene drei Gefährten kennengelernt, mit denen ich meines Lebens besten Teil zubrachte, – den stolzen Tod und dessen Geschwister, die strenge Einsamkeit und den großen Schlaf. Nachts in aller Schlafstille der Erde hatte ich als ihr Freund mit der Einsamkeit gelebt, gearbeitet und geschafft, und tausendmal hatte ich in Schlafgesichter geblickt und die dunklen Schlafrosse anrücken hören. Und in dunklen Mittwachen der Nacht hatte ich meinen Bruder und meinen Vater sterben sehen und die Gestalt des stolzen Todes beim Eintreten erkannt und geliebt. Dreimal bereits hatte ich das Antlitz des Tods in der Weltstadt gesehn, und nun in jenem Frühling sollte ich es noch einmal sehen. Eines Nachts – es war eine kaleidoskopische Nacht von Wahnsinn, Trunkenheit und Wut, wie ich sie damals oft durchlebte, eine Nacht, in der ich auf der großen Straße der Dunkelheit von Licht zu Licht, von Mitternacht bis zum Morgen, herumlief, – sah ich einen Mann in der New-Yorker Untergrundbahn sterben. Der Mann starb so ruhig, daß wir Zuschauer es zunächst gar nicht wahrhaben wollten, daß er tot war, so ruhig, daß sein Tod nur ein augenblickliches und stilles Aufhören der Lebensbewegung war und so friedlich und natürlich eintrat, daß wir alle mit faszinierten, ungläubigen Augen hinstarrten und das Antlitz des Todes zwar gleich mit jenem furchtbaren Erkenntnisschauder erkannten, der uns sagte, wir hätten den Tod schon von jeher gekannt, aber doch in unsrer Bestürztheit und Verängstigung nicht zugeben wollten, daß es der Tod war, den wir da miterlebten. Und obschon ich den Großstadttod schon dreimal furchtbar und gewalthaft hatte kommen sehen, war es gerade dieser stille Tod, der sich mir endgültig ins Gedächtnis prägte mit einem Schrecken, einer Majestät und einer Größe, die die drei andern Todesfälle nicht gehabt hatten. Der erste dieser Todesfälle, der nun bereits vier Jahre zurücklag, hatte sich im April meines ersten New-Yorker Jahres ereignet, und zwar an einer Straßenecke im schmierig-trüben, überschwärmten Upper-East-Side-District, und in der Art, wie er sich zutrug, war etwas Erbarmungsloses, Zufälliges und Gleichgültiges, etwas, das bei weitem furchtbarer war, als es berechnete und absichtliche Grausamkeit je sein kann, etwas, das jäh und gräßlich durch die glänzende Luft, durch all die Freudigkeit und den Zauber der Jahreszeit hindurch und in die Menschen hineinfuhr und allen Frohsinn, alle Hoffnung in den Herzen derer, die den Tod miterlebten, auslöschte. Ich kam eine dieser trüben Querstraßen im oberen East-Side-District entlang, – eine Straße, in der noch allenthalben mit ihren unschönen, kantigen Schauseiten jene alten Braunsandsteinhäuser stehn, die einst zweifellos Heime wohlhäbiger Leute waren, nun aber vom Rost, Ruß und Schmutz vieler Jahre geschwärzt sind. Im ganzen Viertel brodelte und trubelte es von heftigem, unordentlichem Leben, dem Auf- und Abschwall eines Stroms von dunkelhäutigen, dunkeläugigen Menschen fremder Zunge, eines Stroms von Zahl- und Namenlosen, deren Gehaben jene verflüssigte, flutgezeitenartige, schwarmhafte Gelöstheit hatte, die den Völkern dunklen Bluts und dunkler Rasse eignet, so, daß das hager-genaue, einzelgängerische und strenge Gebahren, wie es Menschen nordischer Art auszeichnet, wie etwas Einsames, Kleines, kläglich und doch großartig auf sich selbst Gestelltes beim Anprall dieser dunklen Gezeitenwoge augenblicklich zerschellt, denn augenblicklich offenbart er sich, der zahl- und alterslose Menschenschwarm der Erde, in seinem ganzen, bodenlosen Grauen, und er sucht einen später im Traum heim, selbst wenn man nur ein halbes Dutzend dieser dunklen Gesichter auf einer Straße gesehen hat. Dort, wo die beschwärmte Querstraße auf eine jener großen, schmutzigen Hauptverkehrsadern trifft, die New York der Länge nach durchziehen, vom Hochbahnstrang verdunkelt und stets vom heftig-wüsten Hochbahnverkehr belärmt, so, daß nicht nur das durch das rostige Gerüst aus Eisenpfeilern und -streben fallende Licht, sondern auch aller Verkehr auf den Bürgersteigen und dem Fahrdamm einem harsch und gehetzt, bedrückt und gewaltsam, bestürzt und verworren vorkommt, – dort, an so einer Ecke kam der Mensch ums Leben. Er war Italiener, ein Mann in mittleren Jahren, und besaß so einen windigen Restaurationskarren, für den er dort am Rinnstein einen Standplatz hatte. Was er feilbot, eine schäbige Auswahl, waren allerlei Zigaretten, Zuckerzeug und in Flaschen abgefüllte, alkoholfreie Getränke; ferner Orangeade, aus einer großen, fettig aussehenden, in einen verdällerten Zapfbehälter aus weißem Emaille gestürzten Flasche; schließlich verschiedne Gerichte, vor allem Würstchen und Spaghetti, die in ein paar Töpfen auf einem kleinen Petroleumherd ständig warm gehalten wurden. Gerade als ich die diesem Verkaufsstand gegenüberliegende Straßenecke erreichte, ereignete sich der Unfall. Nach Norden und Süden, unter der...