Wolfe / Lubrich | Eine Deutschlandreise | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 416 Seiten

Wolfe / Lubrich Eine Deutschlandreise

Literarische Zeitbilder 1926–1936 - mit 8 Originalseiten aus den Notizbüchern des Autors und 20 historischen Fotos
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-641-26902-9
Verlag: Manesse
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Literarische Zeitbilder 1926–1936 - mit 8 Originalseiten aus den Notizbüchern des Autors und 20 historischen Fotos

E-Book, Deutsch, 416 Seiten

ISBN: 978-3-641-26902-9
Verlag: Manesse
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein US-Amerikaner mit deutschen Wurzeln blickt liebevoll-kritisch auf das Deutschland zwischen 1926 und 1936

Er schlenderte mit James Joyce durch Goethes Geburtshaus, schunkelte auf dem Münchner Oktoberfest und durchzechte mit seinem Lektor Heinrich Maria Ledig-Rowohlt Berliner Sommernächte. Kein Autor der amerikanischen Moderne drang tiefer in deutsche Kultur und Mentalität ein als Thomas Wolfe, und so sind seine Deutschlanderkundungen zwischen 1926 und 1936 auch Reisen zu sich selbst. Im liebevollen und zugleich kritischen Blick des großen Erzählers lässt sich jene entscheidende Epoche miterleben, als die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts die denkbar fatalste Wendung nahm.

Dieser Band enthält drei Stories («Dunkel im Walde, fremd wie die Zeit», «Oktoberfest», «Nun will ich Ihnen was sagen»), den Zeitschriftenartikel «Brooklyn, Europa und ich» sowie weitere faszinierende Fundstücke aus den Notizbüchern und Briefen des Autors in Erst- und Neuübersetzung, exklusiv zusammengestellt von Oliver Lubrich. Im Spannungsfeld zwischen Zeitdokumenten und erzählender Literatur entsteht ein beeindruckendes Panorama deutsch-amerikanischer Kulturgeschichte.

Mit 8 Originalseiten aus den Notizbüchern des Autors und 20 historischen Fotos

Schon als Sechsundzwanzigjähriger, bei seinem ersten Besuch, schwärmt Wolfe für die Heimat von Dürer, Goethe und Beethoven. Als er wiederkommt, steht er staunend vor den Schaufenstern deutscher Buchhandlungen, pilgert durch deutsche Museen und Bierkeller. Er besingt die Schönheit des Rheins, lässt sich bezaubern von den Altstadtidyllen Frankfurts und Nürnbergs, vom märchenhaften Schwarzwald, vor allem aber von der gastfreundlichen Aufnahme durch ein Kulturvolk, das sich seine Herzlichkeit und seinen liebenswerten Eigensinn bewahrt zu haben scheint. Keineswegs blind für bedenkliche Zeitsymptome, überwiegen doch die positiven Eindrücke bei Weitem. Nicht einmal eine blutige Wiesn-Schlägerei heilt den amerikanischen Dauergast von seiner akuten Germanophilie. Mitte der 1930er kehrt Wolfe als Weltberühmtheit in das Land seiner Vorväter zurück, wo man den Autor von «Schau heimwärts, Engel» euphorisch feiert. Er wird Zeuge des nationalsozialistischen Massenwahns und der Selbstinszenierungsorgie des «Dark Messiah» (wie er Hitler nennt) während der Olympischen Spiele 1936. Was Thomas Wolfe lange nicht wahrhaben wollte, wird ihm nun schlagartig klar: «Good old Germany», die Heimstatt von Humanität und unbedingtem Freiheitsstreben, gibt es nicht mehr. Und so endet die Liebe zu Deutschland, seiner zweiten Heimat, mit der schmerzlichen Abkehr und dem Abschied für immer.

«I have the deepest and most genuine affection for Germany, where I have spent some of the happiest and most fruitful months of my life.» Thomas Wolfe
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NOTIZBUCH-EINTRÄGE


Der rasierte Schädel eines Hunnen1 scheint oberhalb seines Nackens abgesägt und passgenau aufgesetzt worden zu sein, der gezahnten Speckfalten wegen.

*,2 Stuttgart: *3 Der Nacken. Der Nacken.

Sing sunk gesank4 in einem neuen Land – Wer kann das so gut wie ich?

Stuttgart, Dienstagabend [7. Dezember 1926]:

*5

Als ich den Rhein heute von Straßburg her überquerte – fügte ich ein weiteres Land hinzu – Abends in meiner Unterkunft warf ich mich in die Brust von wegen: «Ha, ihr Saubande, das könnt ihr mir nie mehr nehmen!» Das flache Land spult sich endlos weit ab in den verwischten halb dunklen Wäldern.

Der Hunnenkopf – klein kompakt über einem vollen länglichen Gesicht – sieht aus wie irgendwas zum Schlagen zum Zerschmettern zum Damitfahren.

Stuttgart:

* von Bernhard Shaw.6

In den hiesigen Buchhandlungen gibt es Ausgaben britischer und amerikanischer Schriftsteller – Galsworthys «Forsythe Saga», Shaw, Chesterton, Cooper, Mark Twain, Wilde.7

*

*

Stuttgarter Hügel – breit, mit hellen, perligen Hügellichtern zwinkernd des Abends – Die Stadt in der Ebene – Der Marktplatz, Rathaus und die [Bild einer Gabel]8 gegabelten vorkragenden hellfarbigen Spielzeughäuser.

Ein Tal, das zwischen den Hügeln dahinströmt wie ein Fluss.

Cannstatt – ein Vorort von Stuttgart.

Der Ausflug von Stuttgart aus: Friedrichshafen, Augsburg, Ulm – Auf dem ersten Teil der Reise die romantische Landschaft – die steilen Hügel dicht an dicht – das Arbeitspferd – langsam sich drehende Maschine – Die Felder gegen den dunklen Himmel – die Grasstreifen und gepflügte Erde – einförmiger als Frankreich, finde ich.

Der alte Deutsche bei mir im Waggon. Das geschlossene Abteil – Wir schliefen beide ein, von der Hitze betäubt – Der Schaffner mit der hochgeschlagenen Uniform.

München – Vororthaltestellen rauschen vorbei – Nahverkehrszug und Elektrische warten – Ähnlichkeit aller Großstädte überall im Industriezeitalter – der Bahnhof – der Prellbock.

Nach dem Passieren der Schranke warte ich außerhalb in zunehmender Ekstase. Während er mit dem * zur * geht.

Der alte Mann mit dem Wägelchen – die sarkastischen Bemerkungen auf dem Weg durch die überfüllten *straßen – Hotel *.

Später – das * – Untere Mittelschicht9 – Das großartige Bier, dunkel dunkel dunkel – Das Lokal schmuddlig und erfüllt von der Kraft des Biers und Rauchs und der ungemein fröhlich-lebhaften Vitalität seiner zwölfhundert Stimmen.

[Zeichnung eines Maßkrugs] Der Hunnenchauffeur oder -pförtner mir gegenüber. Die rubinroten, bierfeuchten Lippen tropfend vor ausgerülpstem Bier. Die Hutkante [Zeichnung] – Die Kellnerinnen in ihren schwarzen Kleidern – zahnlose, böse fröhliche Gesichter – Schlüssel an der Hüfte – Sehniger und knochenhintriger Gang – blonder junger Mann in Alpentracht – Alter Mann zieht Brot durch die Bierpfütze, bevor er es isst – Hinreißender Landstreicher mit Bart, der sich eine lange Pfeife anzündet [Zeichnung einer geschwungenen langen Pfeife] – Verbeugt sich förmlich, aber blödsinnig vor den Leuten am Nachbartisch.

Betrunkene aufgekratzte Stimmen erheben sich draußen über den Lärm – Ecke nass von Pisse – Teniers10 – Morgen Sonntag, aber alles geöffnet, die letzten zwei vor Weihnachten. […]

* – Ungeheuer faszinierend – Die kleinen deutschen Jungen, die mit den Maschinen spielen durften – Leibnitz, Ohm, Röntgen – * – die Energie – das Bild von der Luftpumpe und ihre Vorführung in Magdeburg – Pferde konnten nicht auseinanderziehen.11

Aber ach, die Flugzeuge – ich begriff sie, weil sie zunächst von Verrückten ersonnen wurden – Menschen wie ich, bar jeder Wissenschaft.

Sonntagnacht [12. Dezember]

12 *13: Eine Revue wie die meisten andern, französische und amerikanische – Kleine Tische auf dem Balkon, wo ich saß – Das kindliche Entzücken des Publikums über die amerikanische Tänzerin – Die fette blonde Komödiantin – Sie war lustig – alle aßen und tranken in der Pause.

Danach: Das *14 – *-Gulasch – Warum sind Zigaretten in Deutschland so teuer?

Heute Morgen *15 – Zwei Briefe vom Juden16.

Glyptothek: Der feinste Apoll, den ich je gesehen habe17 [Zeichnung darunter].

*

*

*

Die Bücher über Amerika und England in den Fenstern.

Die Studenten mit den Wangenverwundungen nach dem Theater im * – Einer war da mit einer zolllangen Wangenwunde, die gerade erst heilte – Die Bewegung der Menschen auf den Straßen – Dieser Augenblick für immer vergangen und eingefangen.

Die teure, die unschätzbare Seite an Jungen ist ihr Eifer. Die Jungen in Frankreich und Deutschland, die mir nach New York schreiben werden.

Dienstag: Spät aufgestanden – Deutscher Kellner lachte, als er mich so dösen sah. Ging zum *18 – Kein Telegramm – Ging in die großartige Frauenkirche [Zeichnung] – Wie zwei steife Schwänze19 sind die Türme.

Im dunklen und eingefrorenen Maximilianeum habe ich mir den Fuß *staucht.20 Jetzt tut er weh. Wie der dunkle Fluss strömte – Greifbar – Kaskade um eine Insel – die Holzteilchen darin eingekeilt.

[Zeichnung eines Kopfs mit Beschriftung] Hunnenkopf, Schwerthieb, die Nackenlinie.

Was tut die fernere Welt?

Heute Abend: Shaws  – Dargeboten mit teutonischer Gründlichkeit – Das Zwischenspiel in der Hölle21 – Wie sehr es ihnen gefiel – Gott, was für ein Bühnenbild – und wie unerfreulich der Anblick mancher Leute war – Aber hübsche Frauen.

[Zeichnung] Hunnenhelm.

* heute Abend hervorragende Aufführung – Ich war im fünften und obersten Rang, eingeklemmt zwischen *, die mir Löcher in die Nieren stießen. Aber umwerfend – Die gewaltige Größe der Riesen – Die Düsternis, die großen, die Düsternis durchblasenden Hörner – das flammend rote Ufer, wie der Schrecken des Bösen – der Degen22 in der gigantesken Düsternis. […]

Die Tausende deutscher Studenten, die schlagenden Verbindungen angehören – Der Säbel schneidet in ihre Gesichter – Wangenknochen, normalerweise – [Zeichnung] Nasenwunde.

Ein Mann mit gebrochener Nase. Ein Säbelhieb aber nicht so schlimm wie der Hieb, den die Jahre versetzen. [Zeichnung] […]

Die Tausende deutscher Studenten, die schlagenden Verbindungen angehören – Der Säbel schneidet in ihre Gesichter – Wangenknochen, normalerweise – Nasenwunde. – CORPSSTUDENTEN IN VOLLWICHS BEIM FESTCOMMERS.

Wenn dich einer dieser narbengesichtigen Jungen herausfordert, beantwortest du seine Herausforderung, indem du seinen Kopf mit einer Flasche oder sein Gesicht mit deiner Faust zerschmetterst – Sie sind Messer gewohnt, stolz auf die Narbe – Wollen doch mal sehen, wie ihnen Fingerköchelarbeit gefällt.

Die Kunst des Hassens – Sie ist so selten, so großartig als Kunst, dass sie nur von Menschen mit einem großen Herzen erfolgreich ausgeübt werden kann.

Unsere Freude über die Niederlage der Deutschen war zum Teil gerechtfertigt – Erfreulich ist es, den Mann, der sich in Erwartung eines Kampfes Kriegslust antrainiert, geschlagen zu sehen. […]

Für und Wider eines subventionierten Theaters – Das großartige Deutsche * – Wie ein Regierungsgebäude – massive Hallen und Treppenhäuser.

*23 Das bayerische Vaudeville24 – Vielleicht das Interessanteste, was ich in...


Wehrli, Irma
Irma Wehrli, geboren 1954, ist seit 1984 freie Übersetzerin und widmet sich mit Vorliebe den Klassikern der englischen und US-amerikanischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. 2011 erhielt sie das Zuger Übersetzerstipendium für ihre Arbeit an Thomas Wolfes "Of Time and the River".

Wolfe, Thomas
Thomas Wolfe (1900-1938) wurde als letztes von acht Kindern in Asheville, North Carolina, geboren. Aus bescheidenen Verhältnissen stammend, schaffte es der hochbegabte Junge bis nach Harvard und wurde Dozent für amerikanische Literatur an der New York University. Kaum hatte sein Schaffen weltweit Anerkennung gefunden, als er im Alter von nur siebenunddreißig Jahren starb.

Lubrich, Oliver
Oliver Lubrich, 1970 in Berlin geboren, lehrt Literaturwissenschaften an der Freien Universität. Er war Kurator der Ausstellung "Zeichen des Alltags", die in jüdischen Museen Deutschlands und Österreichs zu sehen war. Zuletzt zeichnete er (zusammen mit Ottmar Ette) für die Neuedition von Alexander von Humboldts Kosmos in der Anderen Bibliothek verantwortlich. Weitere Publikationen: Shakespeares Selbstdekonstruktion (2001), Postkoloniale Poetiken (2004).



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