E-Book, Deutsch, 289 Seiten
Wolf Land aus Staub und Schatten
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7487-2825-2
Verlag: BookRix
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 289 Seiten
ISBN: 978-3-7487-2825-2
Verlag: BookRix
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Jeden Morgen hofft Jari, dass Falkor ihn endlich, nach achthundert Jahren Buße, freilässt. Vergeblich. Für Jari kann es keine Vergebung geben. Jeden Morgen wacht Neni auf und sieht neue Geister. Die Toten haben schon lange ihren Schrecken verloren, doch in letzter Zeit werden es immer mehr Seelen - und sie gehen nicht mehr weg. Jeden Morgen muss Nenis Bruder Micha sich dazu zwingen, in den von Schatten bevölkerten Stollen der Zeche einzufahren. In das Labyrinth, in dem sein Vater einst ums Leben kam. Dann erwachen die Schatten unter Tage und ziehen wie eine Plage über die Zechensiedlung. Menschen wachen nicht mehr aus ihrem Schlaf auf und niemand weiß, wie die rätselhafte Krankheit zu stoppen ist. Als auch Neni ins Visier der Schatten gerät, muss Micha sich eingestehen, dass es mehr zwischen Himmel und Erde gibt, als er begreifen kann. Und dass er sich seinen Ängsten stellen muss, um sie alle zu retten. Neuauflage des 2015 erschienenen 'Zechengeister'.
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Kapitel 1
Die Zeche schlief nie, nicht einmal sonntags. Nicht feiertags, nicht in der Nacht, erst recht nicht am Tag. Nur manchmal, wenn ein Grubenunglück Alba erschüttert hatte und der Zugang zu den Stollen nicht möglich oder zu gefährlich war, wurde es ruhig. Das Förderrad hörte auf, sich zu drehen und in den Häusern und Straßen ringsherum hielten die Leute die Luft an. Wenn die Stille die Zeche Alba und die angrenzende Siedlung aus rotbraunem Backstein überfiel, wusste jeder Bergarbeiter, jede Mutter und jedes Kind, dass der Tod umging. Auf den Straßen weinten die Frauen oder sie belagerten die eisernen geschlossenen Eingangstore der Zechenanlage und sprachen stumm Gebete. Der Lärm, der die Gebäude der Zeche und die angrenzende Kokerei zu jeder Tageszeit umgab, bedeutete Leben. Er bedeutete, dass Männer in den Stollen herabfuhren, hundert, tausend Meter und mehr, und am Ende der Schicht schwarz vor Kohlenstaub wohlbehalten wiederkehrten. Dass die Männer Lohn mitbrachten. Geld, von dem Brot gekauft und die Miete bezahlt werden konnte. Er bedeutete, dem Tod wieder einmal ein Schnippchen geschlagen zu haben. Es mochte nicht viel von dem Lärm nach außen dringen, aber im Innern tobte die Zeche. Micha hörte den Lärm fast nicht mehr, wenn er unter Tage fuhr. Nur wenn er zur Arbeit ging oder beim Frühstück saß oder nachts erschöpft ins Bett fiel, dann schien sein Schädel zerspringen zu wollen. Micha hatte zwanzig Jahre in der Nachbarschaft zu Alba gelebt und jeder, einschließlich ihm selbst, wusste, dass er noch weitere zwanzig dort verbringen würde. Vielleicht dreißig oder vierzig, falls ihn nicht vorher eine Lawine unter Tage begrub, oder die Staublunge ihn das Leben kostete. Auf jeden Fall, und das war so sicher wie das Amen in der Kirche, würde das Grollen der Eisenhämmer und das Dröhnen der Hochöfen und das Rattern der Fördergerüste ihn bis zu seinem Tod begleiten. »Auf Caledonia gab es ein Unglück«, hörte Micha die Stimme seiner kleinen Schwester. Bei den Worten krampfte sich Michas Magen so stark zusammen, dass Micha kurz stehenblieb und sich am Türrahmen festhalten musste. Augenblicklich dröhnte es wieder in seinen Ohren, spürte er, wie sich die Luft veränderte. Er hörte die Todesschreie, das Rufen seines Vaters. Micha blinzelte, spürte sein Herz klopfen. Schweiß war ihm auf die Stirn getreten. Seine Finger waren schwach und fanden kaum Halt an dem kalten Türrahmen. Nur eine Erinnerung. Es war bloß eine Erinnerung gewesen. Er befand sich in Sicherheit. Durchatmen, befahl er sich. Einfach durchatmen. »Woher willst du denn das jetzt wieder wissen?«, fragte ihre Mutter. Das fragte Micha sich auch. Draußen war es noch dunkel. Wenn Neni nicht zufällig mit den Vögeln sprechen konnte, dann war die Wahrscheinlichkeit, dass irgendwer es ihr erzählt hatte, ziemlich gering. »Ich habe es gehört.« Endlich hatte Micha sich wieder soweit unter Kontrolle gebracht, dass er sich unter die Augen seiner Familie wagte. Er schlurfte in die Küche. Neni, ihr blondes Haar zu zwei Zöpfen geflochten, wuselte geschäftig umher. Sie stellte Teller und Tassen auf den Tisch und versuchte, nicht über den Haufen von Hemden und Röcken, die geflickt werden mussten und sich auf dem Boden türmten, zu stolpern. Sie sang ein Lied, dessen Text Micha nicht verstand, aber polnisch klang. Vermutlich hatte Neni wieder Zeit mit den verfluchten Polackenkindern verbracht. »Hast du heute Nacht ein Telegramm bekommen oder woher weißt du das?«, fragte Micha betont beiläufig, während er sich an den Tisch setzte. Neni zupfte an einem ihrer Zöpfe, blickte ihren Bruder misstrauisch an, und zuckte dann mit den Schultern. »Du wirst schon sehen«, murmelte sie. Also doch die Polen. Schlich sie sich etwa nachts raus, um mit ihnen umherzustreifen? Wenn die Nachbarn das mitbekamen … Neni kannte die Geschichten, die herumerzählt wurden. Geschichten von Polen, die kleine Mädchen entführt und sich an ihnen vergangen hatten und von Italienern, die zum Spaß Deutsche durch ihre Straßen jagten, bis sie tot umfielen. Aber diese Geschichten störten Neni nicht. Die Italiener, die sie kenne, sagte sie, seien alle furchtbar nett. »Du sollst dich abends nicht rausschleichen«, ermahnte er sie. »Eines Tages passiert dir noch etwas.« »Ich war nicht draußen«, beharrte Neni. Micha spürte, wie die Wut in ihm zu kochen begann. Konnte Neni nicht ein einziges Mal einfach etwas akzeptieren? Micha hatte keine Zeit, um sich mit so etwas herumzuschlagen. Noch jetzt schmerzte ihm jeder Knochen im Leib von der anstrengenden Arbeit. »Lüg mich nicht an«, zischte er. Zu barsch, das wusste er in dem Moment, als ihm die Worte herausrutschten. Neni verengte die Augen und presste die Lippen aufeinander. »Ich lüge nicht«, sagte sie kühl. Hilflos sah Micha zu ihrer Mutter, die am Herd stand und der ganzen Auseinandersetzung stumm und blass zusah. Vor drei Jahren, in dem Jahr nach Vaters Tod, hatte eine schwere Lungenentzündung sie erwischt. Dieselbe Lungenentzündung, an der auch Elisabeth, Michas jüngste Schwester, gestorben war. Zerfressen über den Verlust ihrer Tochter war ihre Mutter in das Loch gefallen, das Elisabeth hinterlassen hatte. Nun bildeten Neni und Micha das Herzstück der Familie. »Du solltest einfach aufhören, zu den Polacken rüber zu laufen«, brummte Micha und streckte seine Beine aus. Die Gelenke knackten, das Geräusch wurde von allen vier Wänden des kleinen Rechtecks auf ihn zurückgeworfen. »Sei nicht so grob mit deiner Schwester«, ging seine Mutter schließlich doch dazwischen. Um ein Haar hätte Micha die Augen verdreht. Dass ihre Mutter sich auf Nenis Seite schlug, hätte er vorher wissen müssen. Manchmal fragte er sich, warum er überhaupt noch versuchte, die Familie zusammenzuhalten. Neni, die eigentlich nach ihrer Großmutter Helene hieß, nahm die Kanne vom Herd und stellte sie mit einem lauten Rums auf den Tisch. In Nenis Blick lagen Trotz und Triumph nah beieinander. Seine Schwester forderte ihn heraus, das wusste Micha, aber er ging nicht darauf ein. Nicht an einem Sonntagmorgen, nicht, wenn ihm noch seine Schultern schmerzten und seine Lunge sich anfühlte, als habe er einen Sack Kohle verschluckt. Er zuckte die Schulter und Neni richtete sich mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck auf. Seine Schwester verfügte über die Gabe, Streite durch Worte zu gewinnen. Sie konnte ihren Bruder mit guten Gründen und Gegenargumenten so lange in den Wahnsinn treiben, bis ihm der Schädel brummte. Micha hätte, müde und erschöpft, wie er war, doch nur den Kürzeren gezogen. In den vergangenen Jahren hatte er ein paar Mal versucht, die ›ich bin der Mann im Haus‹-Karte auszuspielen, aber Neni hatte bloß ihre Augenbrauen hochgezogen und Micha zweifelnd angeschaut. Es war nie einfach mit ihr. Micha ließ den Blick über den kleinen Raum schweifen, in dem Nenis Zeug verstreut über dem Boden lag. Es passierte nicht selten, dass, wenn Micha nach Hause kam, Neni dabei war, im schlechten Licht der Öllampe Strümpfe zu stopfen oder Hosen zu flicken. Neni war nicht besonders geschickt in der Handarbeit, war es nie gewesen, und ihre Mutter war kaum eine Hilfe dabei. An manchen Tagen weinte sie stundenlang und schaffte es nicht einmal aus dem Bett. Also mühte sich seine Schwester mit Nadel und Faden ab, stach sich die Finger dabei wund und schaffte es nur mehr schlecht als recht, zwei Fetzen Stoff aneinanderzunähen. Micha versuchte, das flaue Gefühl in seinem Magen zu unterdrücken. Ganz gleich, woher Neni die Neuigkeiten hatte, über ein Grubenunglück hätte sie keine Lügen erzählt. Nicht nachdem, wie ihr Vater ums Leben gekommen war. Augenblicklich dröhnte es wieder in seinen Ohren, spürte er, wie sich die Luft veränderte. Er hörte die Todesschreie, das Rufen seines Vaters. Micha blinzelte, spürte sein Herz klopfen. Schweiß war ihm auf die Stirn getreten. Nur eine Erinnerung. Es war bloß eine Erinnerung gewesen. Er befand sich in Sicherheit. »Gibt es viele Tote?« Die Frage war nicht mehr als ein Murmeln, weil ihm plötzlich die Luft fehlte. Er zog seine Hände vom Tisch und schob sie in seine Hosentaschen, die schwitzigen Innenflächen juckten, als er sie gegen das raue Material der Hose schob. Neni drehte sich um. »Hundertdreizehn«, sagte sie tonlos. Micha öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Er wollte fragen, woher Neni die genaue Zahl der Opfer wusste, als die Tür aufging und Schritte auf den Holzdielen ertönte. Micha erkannte schon am Schlurfen, dass es Peter sein musste. Peter war ihr Kostgänger. Er schlief auf einem Klappbett in der Küche und bezahlte den Kellers dafür ein wenig Miete. Dass er in der Küche sein Lager hatte, wo es mitunter laut werden konnte, wenn Neni nach Hause kam, schien ihn nicht zu stören. Er schlief wie ein Toter. Peter musste sich bücken, wenn er durch die Tür trat und wirkte, als seien seine Arme und Beine zu lang geraten. Sein Haar war hellbraun und sorgsam gescheitelt, wenn er zur Arbeit ging und wüst und zerzaust, wenn er morgens heimkehrte. Peter schob Nachtschichten, auch sonntags. Wenn er nach Hause kam, müde und nach Kohle riechend, wusch er sich schnell und setzte sich dann für gewöhnlich erst noch mit an den Frühstückstisch, bevor er sich schlafen legte. Micha wusste nicht wie, aber Peter schaffte es, nie mürrisch oder missmutig zu sein. Peter stammte ursprünglich aus der Nähe von Hannover, doch die Aussicht auf Arbeit hatte ihn ins Ruhrgebiet gelockt. Über eine genaue Jahreszahl wollte er sich nicht auslassen und es interessierte Micha nicht genug, um zu fragen. Peter hatte wohl mal hier und mal dort gearbeitet, war von einer...




