E-Book, Deutsch, 177 Seiten
Wölfling / Beutel / Bengesser Computerspiel- und Internetsucht
2. erweiterte und überarbeitete Auflage 2022
ISBN: 978-3-17-037164-4
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein kognitiv-behaviorales Behandlungsmanual
E-Book, Deutsch, 177 Seiten
ISBN: 978-3-17-037164-4
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dr. Klaus Wölfling, Director of Psychology, and Dr. Kai W. Müller, Head of Research and Diagnosis in the Outpatient Department for Gambling Addiction in Mainz; Prof. Manfred E. Beutel, Director of the Department of Psychosomatic Medicine at Mainz University Medical Centre; and Isabel Bengesser, psychotherapist at Salus Hospital, Friedrichsdorf, are all involved in the treatment of behavioural addictions.
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A
Theoretische Grundlagen des Therapieprogramms
Mit beeindruckender Geschwindigkeit ist das Internet fester Bestandteil in unser aller Leben geworden. War der Besitz eines eigenen Internetzugangs vor zwanzig Jahren noch eher die Ausnahme, so stellt sich der heutige Stand der Dinge längst umgekehrt dar. Nach Schätzungen betrug im Jahre 2008 die Zahl der aktiven Internetnutzer ca. 1.319 Millionen weltweit (EIAA Mediascope News and Population Stats), heute sind allein in Deutschland 66,6 Millionen Menschen im Internet aktiv (STATISTA 2021). Längst sind es auch nicht mehr nur jüngere Altersgruppen, die von den zahlreichen Möglichkeiten des Internet Gebrauch machen; das Internet ist mittlerweile in allen Altersklassen angekommen, auch wenn sich einzelne Nutzungsgewohnheiten generationenübergreifend teils anders darstellen.
Gerade unter den sog. »Digital Natives«, also jüngeren Menschen, die mit dem Internet als eine selbstverständliche Ressource aufgewachsen sind, ist es zu einer deutlichen Veränderung der Kommunikationsgewohnheiten und der Freizeitgestaltung gekommen (Feierabend et al. 2019). Es darf vermutet werden, dass auch das Freundschaftskonzept von jungen Menschen nicht mehr auf Face-to-Face-Kontakte beschränkt ist, sondern innerhalb von sozialen Netzwerken eine Vielzahl von Kontakten, potenziellen Freunden, erreicht wird und virtuelle Kontakte etabliert werden, auch ohne diesen Menschen jemals in der offline Welt begegnet zu sein. Darüber, inwieweit diese virtuellen Sozialkontakte ähnliche Qualitätsmerkmale aufweisen wie realweltliche Freundschaften, kann nach wie vor lediglich spekuliert werden, konkrete empirische Untersuchungen existieren kaum.
Neben kommunikationsbasierten Plattformen bietet das Internet natürlich etliche weitere Möglichkeiten. Ein wesentlicher Bereich betrifft das Thema Unterhaltung, beispielsweise in Form von internetbasierten Computerspielen. Wurden bis in die 1990er Jahre diese zumeist noch über Spielkonsolen oder als Single-Player-Games am PC konsumiert, eröffnet das Internet Spielenden die Gelegenheit, nicht länger allein gegen vom Computer generierte Gegner anzutreten, sondern über Server mit tausenden Gleichgesinnten in virtuellen Umwelten zu interagieren, zu kooperieren und zu wetteifern. Gegenwärtig geben knapp zwei Drittel der deutschen Jugendlichen an, täglich oder doch zumindest mehrmals pro Woche Computerspiele zu nutzen (Feierabend et al. 2020), was demonstriert, dass das Internet nicht nur den sozial-kommunikativen Bereich beeinflusst, sondern auch unsere Freizeitkultur entscheidend verändert (z. B. die frühen, jedoch nach wir vor aktuellen Überlegungen hierzu in Bergmann und Hüther 2006).
Es ist sicherlich unstrittig, dass das Internet eine ganze Menge von Vorteilen einbringt, angefangen bei Erleichterungen in der täglichen Lebensführung, etwa dadurch, dass der Zugang zu Informationen erheblich vereinfacht wird oder die Möglichkeit der orts- und zeitungebundenen Onlinekommunikation, die durchaus eine Vergrößerung des unmittelbar verfügbaren Sozialkontaktes mit allen verbundenen Vorteilen bedingen kann (Amichai-Hamburger und McKenna 2006). Auch die Nutzung von Computerspielen kann mit positiven Effekten einhergehen (z. B. Trepte et al. 2012). Sie kann auch überhaupt keine nennenswerten Auswirkungen zeigen. Es können aber auch deutlich nachteilige Folgen auftreten – und diese rücken gerade in der klinischen Psychologie seit Jahren immer stärker in den Blickpunkt. Bereits früh fanden sich Hinweise, dass eine intensive Internetnutzung zu einer Abnahme der intrafamiliären Kommunikation und einer Verkleinerung des sozialen Netzes führen kann und hiernach mit erhöhten Einsamkeitsgefühlen verbunden ist (Kraut et al. 2000). In einer Pionieruntersuchung von Kraut et al. (2002), welche unmittelbar nach der erstmaligen Verfügbarmachung des Internets durchgeführt wurde, führte gerade bei Menschen mit hoher Ausprägung des Persönlichkeitsmerkmals Introversion eine intensive Onlinekommunikation zu einer Abnahme des psychosozialen Wohlbefindens, wohingegen extrovertierte Nutzende über eine Steigerung des Wohlbefindens berichteten. Dieses sog. »The Rich get Richer Model« deutet darauf hin, dass der Interaktion zwischen personalen Merkmalen und Internetangeboten einige Bedeutung hinsichtlich zu erwartender Effekte beizumessen ist, was heutzutage auch in vielen Störungsmodellen zur Erklärung der Entstehung einer Internetsucht als Gedanke inhärent ist (z. B. im InPrIS Modell von Müller und Wölfling 2017). In jedem Fall bleibt festzuhalten, dass eine einseitige Betrachtung der Auswirkung einer Nutzung unzureichend ist und der Komplexität der zugrunde liegenden Zusammenhänge keinesfalls gerecht werden kann.
Was die klinische Relevanz der weiter zunehmenden Digitalisierung anbetrifft, so zeichnet sich nun schon seit vielen Jahren ein besorgniserregender Trend ab. Nicht nur im deutschen Versorgungssystem tauchen immer mehr Jugendliche und Erwachsene auf, die über eine ausufernde, suchtartige Nutzung von Computerspielen, zunehmend aber auch von anderen Internetanwendungen, wie etwa Online-Pornografie und sozialen Netzwerken klagen (Wessel et al. 2009; Beutel et al. 2011a; Müller et al. 2014b; Thorens et al. 2014). Internationale Prävalenzschätzungen weisen aus, dass zudem von einer hohen Dunkelziffer in der Allgemeinbevölkerung auszugehen ist. Viele Betroffene bzw. Symptomträger kommen aus verschiedenen Gründen also gar nicht im Hilfesystem an, obgleich ihr Nutzungsverhalten längst psychosoziale Probleme bedingt und sowohl mit einer hohen Funktionsbeeinträchtigung als auch psychopathologischen Symptomen einhergeht (z. B. Rumpf et al. 2013; Cheng und Li 2014; Müller et al. 2017b). Ergänzend zeigen Studien an klinischen Stichproben, dass unter Patientinnen und Patienten, die sich wegen anderer psychischer Störungen in Behandlung befinden, die Rate komorbider Internetnutzungsstörungen besonders hoch ausfällt (z. B. Müller et al. 2012; Floros et al. 2014; Kuss und Lopez-Fernandez 2014; Scherer et al. 2021). Zunehmend beschäftigt sich auch die Forschung mit diesem Thema aus verschiedenen Blickwinkeln. War die Forschungslage noch vor etwa zehn Jahren eher spärlich, so existieren mittlerweile solide Befunde zur Epidemiologie, Diagnostik, klinischen Merkmalen, Risikofaktoren und neurowissenschaftlichen Charakteristiken.
Das vorliegende Behandlungsmanual beschreibt sowohl die wissenschaftlichen Erkenntnisse als auch das in der Grüsser-Sinopoli Ambulanz für Spielsucht entwickelte Behandlungskonzept bei Internetnutzungsstörungen. Nach Vorstellung der theoretischen Grundlagen der Erkrankung wie
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Störungsmodell
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Epidemiologie
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Komorbidität
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Methoden der störungsspezifischen Diagnostik
werden eingehend störungsspezifische therapeutische Interventionen praxisnah und anwendungsbezogen beschrieben. Die einzelnen Interventionen sind als Behandlungsmodule konzipiert, welche je nach Bedarf und Problemlage der Patientinnen und Patienten individuell kombinierbar und anwendbar sind. Sie umfassen
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psychoedukative Elemente
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konkret veränderungsorientierte Behandlungsstrategien auf kognitiv-behavioraler Basis wie z. B.
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das Führen von Wochenprotokollen
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Erstellen von Mikroanalysen des Problemverhaltens
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Aufbau von Emotions- und Problembewältigungsstrategien
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Etablierung alternativer Freizeitaktivitäten
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Übungen zum psychischen Wohlbefinden
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Stärkung der Kompetenzerwartung und insbes. sozialer Kompetenzen
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Expositionstrainings
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Rückfallprophylaxe
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Die vorgestellten therapeutischen Interventionen wurden in der Mainzer Ambulanz für Spielsucht im ambulanten einzel- und gruppentherapeutischen Setting erprobt und mittels einer multizentrischen klinischen Studie erfolgreich evaluiert (Wölfling et al. 2019). Sie sind jedoch nicht auf den o. g. Rahmen beschränkt, sondern können auch stationär oder in einer rein einzeltherapeutisch ausgerichteten Behandlung durchgeführt werden. Illustriert ist das Manual mit zahlreichen individuellen Fallbeispielen sowie Materialvorlagen für die Therapie.
Auf den folgenden Seiten wird nicht durchweg von Patientinnen und Patienten oder Klientinnen und Klienten gesprochen, sondern auch das generische Maskulinum genutzt. In diesem Fall sind stets sowohl weibliche als auch männliche und diverse Personen angesprochen. Ganz grundsätzlich ist allerdings festzuhalten, dass im klinischen Versorgungssystem nach wie vor Männer deutlich häufiger wegen Internetnutzungsstörungen Hilfe suchen als Frauen und dies, obwohl die Prävalenzraten in der Allgemeinbevölkerung zwischen beiden Geschlechtern annähernd gleich hoch ausfallen. Somit basiert ein großer Teil der verfügbaren klinischen Erfahrung auf der Diagnostik und Behandlung...