Witzel | Komplexe Strukturen | E-Book | www2.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 362 Seiten

Witzel Komplexe Strukturen


1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7518-1034-0
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 362 Seiten

ISBN: 978-3-7518-1034-0
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Das, was nach außen hin als schlichte Erzählung, kurze Anekdote, nebensächliche Beschreibung erscheinen mag, weist bei genauer Betrachtung oft eine Anzahl weitverzweigter Verbindungsstränge auf, die in historische, philosophische, psychoanalytische Tiefen führen. Solchen »komplexen Strukturen« ist Frank Witzel in seinem neuen Buch mit dem gleichnamigen Titel auf der Spur. In achtzig Texten untersucht der Autor auf eine gleichzeitig erzählende wie selbstreflektierende Weise Strukturen, die von der Harmlosigkeit bis zur Demütigung, von der Parabel bis zur Schulpause, von der Verpuppung bis zur Willenskraft reichen. So entsteht das eigenwillige Panorama einer Enzyklopädie des Zufalls, die jedoch gerade dadurch, dass sie sich weder auf einen Stil noch auf ein Thema beschränkt, eine pulsierende, beständiger Veränderung unterworfene Systematik offenlegt. 

In abgründig virtuosen Texten voll abenteuerlicher Fabulierlust, die sich mal als Erzählung, mal als Anekdote entpuppen, rüttelt Frank Witzel an den Grundfesten einer Welt, die sich selbst recht unzureichend zu kennen scheint.

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DIE KOMPLEXE STRUKTUR DES ANFANGS


»Am Anfang fehlte das Wort, und dieses Fehlen des Wortes war beim Menschen.«

Ich fand diesen Eintrag in einer alten Kladde, als ich mein Zimmer aufräumte, konnte aber nicht mehr sagen, ob es sich um eine Notiz handelte, die ich während einer Vorlesung von Professor Ahrend angefertigt hatte, oder ob der Gedanke von mir selbst stammte. Darunter die Frage: »Fehlt dem Menschen nicht generell der Anfang, weil alles immer schon da ist, auch er selbst, sobald er ein Bewusstsein erlangt?« Ich versuchte mich an meine Studienzeit zu erinnern, doch das Einzige, was mir zu Professor Ahrend einfiel, war seine angeblich fragwürdige Vergangenheit, von der immer wieder die Rede gewesen war. Hatten wir deshalb von ihm gelernt, ausnahmslos alles infrage zu stellen?

Um viele Fragen nicht nur beantworten, sondern überhaupt stellen zu können, fehlte mir damals der Überblick. »Bewusstsein« etwa stellte ich mir als Keksdose vor, die jemand außerhalb meiner natürlichen Reichweite auf einem Schrank platziert hatte. Stand dieser Schrank im Wohnzimmer oder in der Küche? Ich war unfähig, das zu sagen, wusste nur, dass das Bewusstsein insofern einer Keksdose glich, als man es erlangen musste. Aber half es, sich dazu auf einen Stuhl zu stellen? Und womit wäre dieser Stuhl zu vergleichen? Mit dem, was Professor Ahrend als »Grundlagen der Theoriebildung« bezeichnete und in einem Seminar zu erläutern versprach, das ich allerdings nicht besuchte?

War es Zufall, dass ich nicht mehr wusste, wer die in meiner Handschrift notierten Sätze formuliert hatte? Denken ist ein Adaptionsprozess. Leben ebenso. »Der Theoretiker«, so Professor Ahrend, »steht außerhalb der Lebensprozesse. Er hat den archimedischen Punkt gefunden. Der Hebel, den er anlegt, wird zur Wippe zwischen Erkenntnis und Einflusslosigkeit.« Ich übersetzte dieses Aussagen in ein konkretes Bild und sah mich auf einem wackligen Stuhl stehen, nach der Keksdose schielen und der Frage nachgehen, ob es eine akzidentelle oder essenzielle Eigenschaft von Keksdosen war, sich auf Schränken zu befinden.

Die Welt schien meinem Zugriff entzogen. War ich aber deshalb schon Theoretiker? Die Formulierung »außerhalb aller Prozesse«, die Professor Ahrend benutzte, erschien mir im Nachhinein beinahe prophetisch, da er schon kurze Zeit später im Verlauf eines juristischen Prozesses mit der Tatsache konfrontiert wurde, wie fragwürdig und fragil diese Position tatsächlich war. Selbst der Begriff »dauerhaft« bekam schon bald einen bitteren Beigeschmack für ihn. Es war Herbst, die Zeit, in der sich die Keksdosen langsam zu füllen beginnen. In einer Illustrierten erschien ein Foto von Professor Ahrend, unter dem stand: »Auch Professoren müssen lernen, dass vor Gericht andere Regeln gelten als in der Welt der Wissenschaft.« Sein Blick wirkte unsicher auf diesem Foto. Fast so, als hätte er bereits während der Aufnahme den Satz geahnt, mit dem die Abbildung kommentiert werden würde. Die Richter schienen froh, Professor Ahrend mit ihren Gesetzen konfrontieren zu können. Die Journalisten schienen froh, Professor Ahrend daran erinnern zu können, dass die Regularien der akademischen Welt für sie keine Gültigkeit besaßen. Professoren neigen dazu, das zu vergessen. Sie neigen dazu, die von ihnen entwickelten Verfahrensregeln zu überschätzen.

Dass wir aufgerufen wurden, als Zeugen auszusagen, hätte sich Professor Ahrend denken können. Nicht allerdings, dass wir in Uniform vor Gericht erscheinen würden. Manchmal ändern sich Dinge über Nacht. Manchmal steht eine Keksdose auf einem Schrank, ohne dass sich Kekse darin befinden. Ich fragte mich, ob sich der Punkt bestimmen lässt, an dem eine Keksdose nicht mehr als Keksdose bezeichnet werden kann, zum Beispiel wenn Patronen in ihr aufbewahrt werden oder Mikrofilme. Dann überlegte ich, wie Professor Ahrend diese Frage beantwortet hätte. Wie würde er die Nachricht aufnehmen, dass ich mein Studienfach inzwischen gewechselt hatte und nicht länger Philosophie, sondern Jura studierte? Der Jurist sieht die Keksdose auf dem Schrank mit völlig anderen Augen als der Philosoph. Für ihn mag es zum Beispiel eine Rolle spielen, ob sich diese Keksdose außerhalb der Reichweite von noch nicht strafmündigen Kindern befindet. Zudem hat er die zweckentfremdende Benutzung eines Stuhls in Erwägung zu ziehen. Darüber hinaus die Bedeutung des Schranks. Ebenso die Bedeutung des Zimmers, in dem sich dieser Schrank befindet. Ebenso die Bedeutung der Personen, die sich zu diesem Zimmer Zugang verschaffen. Ebenso die Bedeutung der Uniformen, die diese Personen tragen. Der Philosoph kann diese Eigenschaften allesamt vernachlässigen. Er muss sie sogar vernachlässigen. Allerdings spricht er in diesem Zusammenhang nicht von »Vernachlässigung«, da der Begriff Vernachlässigung in der Philosophie eine grundlegend andere, nämlich positive Bedeutung hat. Professor Ahrend sprach in seinen Einführungsveranstaltungen immer wieder über die »notwendige Vernachlässigung des instinktiven Realitätssinns« als Voraussetzung für das Philosophieren.

»Teil einer Gemeinschaft sein«, etwas Vergleichbares hörten wir von Professor Ahrend, soweit ich mich erinnern kann, nie. Er sprach von der Form, aber nie von der Uniform, obwohl ihm diese doch als die gesellschaftliche Verwirklichung der Form hätte erscheinen können. Wir lernten Generalisieren, ohne je einen Gedanken an den General zu verlieren. Wir sprachen über Aufklärung, ohne diese mit der Tätigkeit des Soldaten in Verbindung zu bringen. Und doch ist es vor allem der Soldat, der die Aufklärung aktiv betreibt. Was nützt mir ein archimedischer Punkt, wenn ich nichts über strategische Punkte weiß? Bietet nicht auch der Begriff »Nachschublinie« Stoff für tiefgründige Reflexionen?

Ja, den Menschen fehlt der Anfang, und sie tragen dieses Fehlen als ewigen Makel mit sich. Doch sind sie diesem Fehlen deshalb noch lange nicht hilflos ausgeliefert. Der Mensch hat die Möglichkeit eines Neuanfangs. Das unterscheidet ihn vom Tier, das zwar mit sich identisch zu sein vermag, aber Veränderung nur bemerkt, wenn der Mensch sich seiner annimmt. Ich muss nur die Augen schließen, um Professor Ahrend bestimmte Begriffe erläutern zu hören, selbst wenn wir diese Begriffe in seinen Seminaren niemals behandelt haben. Diese Eigenschaft befähigt mich, in den Zeugenstand zu treten. Ich weiß, dass Professor Ahrend jeder Neuanfang suspekt war. Hätte er erkennen können, dass im Wort suspekt das Emporschauen (suspicere) enthalten ist, etwa zum Olymp (ad Olympum) oder zum Himmel (in caelum), wäre ihm deutlich geworden, dass wir gerade im Denken einer anderen Kraft unterstehen, wir uns folglich immer »unterstehen« zu denken. Um es zusammenzufassen: Wir müssen wieder lernen, uns dem Suspekten zu unterstellen. Und erneut die Kraft des Einfältigen entdecken.

Ich stelle mir das Einfältige als Tuch vor, das nur einmal gefaltet wird. Es besteht aus Damast oder Brokat und wird nur an hohen Feiertagen aufgelegt. Würdig, einen Altar zu bekleiden, liegt es über den Küchentisch gebreitet, und andächtig stehen wir vor ihm, den Schrank mit der Keksdose im Rücken, und blicken auf die mit Suppe gefüllte Terrine. Die Schöpfkelle, das Tafelsilber, alles Begriffe, die neu gedacht und historisch eingeordnet werden müssen.

Ist der Mittagstisch abgeräumt, drängt es die Familie nach draußen, um einen verschlungenen Feldweg zwischen Äckern entlangzugehen. Durch die vogelleere Luft über ihr treibt eine einzige Wolke, die keine besondere Form hat. Dort die Haushaltsschule, dort der Wald, dort der Weg, dort der Seitenarm des Flusses. In seiner Zelle beschreibt Professor Ahrend die Rückseite des Bogens, auf dem ihm der Erhalt seiner wenigen Habseligkeiten zur Aufbewahrung quittiert wurde. Unter anderem ist dort zu lesen: »Die Worte und Sätze wurden in ihrer mythologischen Leere sichtbar. Man hatte sich einzugestehen, dass Reden nichts weiter als eine Form des rituellen Austauschs war und weder etwas aussagte noch bewirkte. Sprechen ist Ritus ohne Mythos. Geschichte, nicht retrospektiv betrachtet, sondern als das Zu-Erstrebende, verfällt der Vorstellung einer ungestalteten Zeit, der wir hinterherhetzen.«

Es vergingen Monate, bis ich wieder etwas von Professor Ahrend hörte. Fast hätte ich ihn vergessen, als mich eines Morgens ein Brief mit behördlichem Siegel und der knappen Nachricht erreichte, es sei Professor Ahrends Wunsch gewesen, dass ich seine letzten handschriftlichen Aufzeichnungen erhalte. Ich setzte mich an den tischtuchlosen Küchentisch und las: »Für einige Tage wurde es sehr ruhig. Kein Geräusch war auf den Gängen zu hören, niemand kam zu mir herein. Draußen fielen Blüten. Vielleicht war es aber auch Schnee, der den Hof langsam füllte. Die verschluckten Eisennägel lagen in meinem Magen und schliefen. Und ich schlief auch. Meine Gedanken schliefen, und mein Körper bewegte sich nur versehentlich. Alles sah auf mich herab: die Decke der Zelle, die Wände der Zelle, das Fenster der Zelle. Dann spürte ich eine Katzenpfote auf meiner Stirn und dann den vorsichtig pickenden Schnabel einer Krähe. Dann war ich wieder vernehmungsfähig und musste aufstehen und einem Mann in Uniform den Gang entlang folgen, durch eine doppelte Tür und noch eine, in eine Art Schleuse, in der ich diesem Mann für einen Moment sehr nah kam, weil wir warten mussten, dass sich die zweite Tür öffnete. In diesem Moment hätte ich ihn erwürgen können, wäre ich nicht so kraftlos gewesen. Ich hätte ihm das Genick brechen können und beide Türen wären verschlossen geblieben und erst aufgegangen,...


Witzel, Frank
Frank Witzel veröffentlichte seit seinem ersten Lyrikband 1978 mehr als ein Dutzend Bücher, darunter den Roman Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969, für den er den Deutschen Buchpreis 2015 erhielt. Für das gleichnamige Hörspiel gewann er den Deutschen Hörspielpreis 2017. Für seinen Roman Direkt danach und kurz davor war er für den Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2017 nominiert, mit seinem Roman Inniger Schiffbruch war er 2020 erneut auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Er hatte die Poetikdozentur der Universitäten Heidelberg, Tübingen und Paderborn inne und war 2017/2018 Inhaber der Friederichs-Stiftungsprofessur an der Hochschule für Gestaltung Offenbach. Von seinen zahlreichen Hörspielen ist die vom BR 2018 produzierte Hörspielserie Stahnke, und das zuletzt 2024 vom HR gesendete Hörspiel Gerhart Preßler – Ein Leben im Ton, alle in der Regie von Leonhard Koppelmann, zu nennen. Die in Stuttgart aufgeführte Oper Dora von Bernhard Lang, für die Witzel das Libretto schrieb, wurde 2024 zur Uraufführung des Jahres gewählt. Im selben Jahr erhielt Witzel den Crespo Wortmeldungen Literaturpreis für seinen Essay Die Möglichkeit einer Micky Maus.

Frank Witzel veröffentlichte seit seinem ersten Lyrikband 1978 mehr als ein Dutzend Bücher, darunter den Roman Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969, für den er den Deutschen Buchpreis 2015 erhielt. Für das gleichnamige Hörspiel gewann er den Deutschen Hörspielpreis 2017. Für seinen Roman Direkt danach und kurz davor war er für den Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2017 nominiert, mit seinem Roman Inniger Schiffbruch war er 2020 erneut auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Er hatte die Poetikdozentur der Universitäten Heidelberg, Tübingen und Paderborn inne und war 2017/2018 Inhaber der Friederichs-Stiftungsprofessur an der Hochschule für Gestaltung Offenbach. Von seinen zahlreichen Hörspielen ist die vom BR 2018 produzierte Hörspielserie Stahnke, und das zuletzt 2024 vom HR gesendete Hörspiel Gerhart Preßler – Ein Leben im Ton, alle in der Regie von Leonhard Koppelmann, zu nennen. Die in Stuttgart aufgeführte Oper Dora von Bernhard Lang, für die Witzel das Libretto schrieb, wurde 2024 zur Uraufführung des Jahres gewählt. Im selben Jahr erhielt Witzel den Crespo Wortmeldungen Literaturpreis für seinen Essay Die Möglichkeit einer Micky Maus.



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