E-Book, Deutsch, 346 Seiten
Witzel Die fernen Orte des Versagens
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7518-0938-2
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 346 Seiten
ISBN: 978-3-7518-0938-2
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Weißt Du, lieber Christian, wäre ich vermessen oder ein Autor von Renommee, dessen Arbeiten durchforstet, untersucht, analysiert und bis auf den letzten Satz nach Bedeutungen abgeklopft werden, würde ich sagen, dass man anhand dieser Abfolge von Erzählungen eine Poetologie meines Schreibens erstellen könnte, wenn es natürlich auch eine negative Poetologie wäre, mehr noch eine Poetologie des Verfehlens, denn es ist mehr von dem vorhanden, gegen das ich mich verwehre, das ich eben gerade nicht stilistisch verfolge, als von dem, was ich tatsächlich literarisch zu bieten hätte. Im Grunde liefere ich hier nichts anderes als die unzureichenden Versuche, mit Inhalten umzugehen, die mir aus irgendeinem Grund interessant erschienen und die ich deshalb gesammelt habe, um eines Tages »etwas aus ihnen zu machen«. Aber ist der Schriftsteller dazu da, aus etwas etwas zu machen? Sollte er nicht am besten ex nihilo schöpfen und sich nur auf sich verlassen, anstatt sich in die Knechtschaft von Orten und Zeiten, vor allem von Personen zu begeben, die nun ihr Recht einfordern, ihr Recht, gesehen und adäquat repräsentiert zu werden? Ich weiß, dass es eine Unzahl Kollegen gibt, die sich alle zehn Finger nach solchen Themen lecken würden, andere wieder, die ihr Leben lang nichts machen, als über die letzten Tage von Kafka, Hofmannsthal, Walser, Roth und so weiter zu schreiben, und das auf eine einnehmende Art und Weise, so dass aus mir am Ende nur der Neid spricht und mein Versuch, diese Erzählungen zu verfassen, unter Umständen nur dem Wunsch geschuldet ist, es ihnen gleichzutun und endlich auch einmal etwas Ansprechendes zu Papier zu bringen, auf das wir uns alle einigen können, gegen das es keine Einwände gibt, weil es seine Grenzen kennt und diese nicht überschreitet. Hier sind wir wieder beim Thema vom richtigen Maß, dass mir ja fehlt, und ästhetische Schönheit hat nun einmal mit diesem Maß zu tun, mit einer Ausgeglichenheit von Linie und Bewegung, von genau dem, was mir immer wieder entgleitet, weshalb ich mich mit einer gespielten Empörung trotzig dagegen auflehne, weil ich es zwar besser zu wissen meine, es aber schlicht und einfach nicht besser weiß, oder genauer gesagt: es vielleicht besser weiß, es aber nicht besser kann, und ein Wissen hat sich immer am Können zu messen, da es sonst hohl und leer bleibt. Hab keine Angst, lieber Christian, dass mein ohnehin bereits viel zu wortreicher Brief sich nun auch noch zu einer Brandrede erweitert, denn selbst zu Wut und Zorn reicht es bei mir nicht mehr. Wut ist immer der Versuch, sich mit Gewalt vom anderen abzutrennen, in der Regel, weil er einem zu nahe rückt, einen bedrängt und einschränkt … Nein, ich irre mich selbst hier, denn gerade wollte ich mir und Dir meine Wut mit dem Bekenntnis hinwegerklären, dass ich ja im Gegenteil auf die andere Seite wechseln möchte, um in vorgegebenen Bahnen und fest umzäunten Feldern endlich mein Talent entfalten zu können und nicht mehr in sinnlos ausholenden Bewegungen gegen alles und jeden wüten und wettern zu müssen, als mir klar wurde, dass meine Wut aus der schmerzlichen Erkenntnis stammen könnte, keinen Einlass auf dieser anderen Seite zu finden. Wie dem auch sei, letztlich versuche ich nur einen Umstand zu beschönigen, der längst offen zutage getreten ist und nicht länger verheimlicht werden kann. Wie sehr ich aber wohl unbewusst die »Literatur der letzten Tage«, wie ich sie für mich nenne, angestrebt habe, kannst Du an der nächsten Geschichte erkennen, denn dort, auch wenn ich mich in anderen Geschichten hier und da an realen Fakten oder Personen orientiert habe, geht es beinahe ausschließlich um Personen der Zeitgeschichte, und dieser Prüfstein lässt mein Verfehlen offensichtlich werden. Am Bahngleis beginnt wie die meisten Erzählungen mit einer Ortsbeschreibung, was der ursprünglichen Idee geschuldet ist, dass ich den Ort als verbindendes Element in den Mittelpunkt stellen wollte. Letztlich sind die Aufteilungen von Erinnerungen in Koordinaten von Raum und Zeit, von dem, was vor hundertfünfzig Jahren war, und den Ländergrenzen, die sich wie Moränen aus Schuttablagerungen des gemeinschaftlich Erlebten bilden, ein hilfloser Versuch, den alltäglichen Gefühlsüberschuss, diese ungerichtete, ziellose Bürde, abzuwerfen. Nicht anders verhält es sich mit den realen Linien, den Verkehrswegen, die vorgeben, Raum zu überwinden, wo sie doch nur Landschaft durchkreuzen. Wir sind dankbar, dass wenigstens Einzelne in ihrer Seinsvergessenheit Gewalttaten begehen und sich »ins Unglück stürzen«, weil sie uns von unserem gleichermaßen unaufhörlichen wie unbemerkten Unglück für kurze Zeit befreien. »Wissen Sie«, sagt der Psychologe Dr. Zimmermann, als ihm die Fotos von drei jungen Frauen gezeigt werden, deren unversehrte Leichen im Verlauf der letzten vier Wochen beinahe liebevoll an der Linie der S1 nach Freising abgelegt wurden, »zu Eisenbahnschienen, zu Bahnkörpern, haben die verschiedensten Menschen eine fast mystische Beziehung. Dass die Toten immer dort gefunden wurden, sagt gar nichts.« Tatsächlich wird sich später herausstellen, dass die Morde von dem Mitglied eines Bautrupps der Bahn begangen wurden, der zu dieser Zeit an der Strecke arbeitete und in der Nähe in einer Gemeinschaftsbaracke untergebracht war. Dr. Zimmermann hatte sich in diesem Punkt folglich geirrt, nicht aber in dem »womöglich problematischen Verhältnis zur Mutter«, zu der der Täter am Ende zurückkehrt und die er, anders als die Frauen zuvor, ersticht und nicht erwürgt und deren Leiche er auch nicht zur Bahnlinie trägt, sondern neben der er sitzen bleibt, um endlich gefunden zu werden. Dr. Wolfgang Zimmermann, Jahrgang 1920, ist Sohn des mittlerweile etwas in Vergessenheit geratenen Psychologen Julius Spier, der am 25. April 1887 in Frankfurt am Main geboren wurde, wo er nach Abschluss der Volksschule mit vierzehn Jahren eine Lehre bei der Metallverarbeitungsfirma Beer-Sontheimer begann, ohne zu ahnen, dass er die nächsten 25 Jahre dort bleiben wird. Schon immer von anderen Interessen getrieben, kündigt er 1926 seine Stelle und geht für eine zweijährige Lehranalyse zu Carl Gustav Jung nach Zürich. 1929 kehrt er lediglich nach Frankfurt zurück, um seine Wohnung aufzulösen und mit seiner Frau und dem neunjährigen Wolfgang nach Berlin zu ziehen, wo er eine psychologische Praxis eröffnet. Er entwickelt seine bereits in Frankfurt begonnene Lehre der Psycho-Chirologie weiter, eine Verbindung von Psychoanalyse und Handlesekunst, und gründet eine eigene therapeutische Schule, zu der auch Charlotte Wolff, damals Ärztin am Rudolf-Virchow-Krankenhaus, gehörte. Charlotte Wolff geht bereits 1933 ins Exil, zuerst nach Paris, dann nach London, wo sie bis zu ihrem Tod im Jahr 1986 lebt und als Psychologin arbeitet und veröffentlicht. »Ich schicke Ihnen ›Bisexualität‹ in deutsch und ›Love Between Women‹ (Die Psychologie der lesbischen Liebe) ((furchtbarer Titel))! Die deutsche Übersetzung des Buchs ist ausverkauft. Und so ist, Gott sei Dank ›Die Hand des Menschen‹. Das Buch war so unsinnig übersetzt, daß ich die Veröffentlichung verbieten wollte. Aber in 1973 (wenn es herauskam) wollte ich mich noch nicht auf einen eventuellen Prozess in Deutschland einlassen. Meine andern Bücher über ›A Psychology of Gesture‹ und ›The Hand in Psychological Diagnosis‹ sind lange nicht mehr in Druck.« Das schrieb Charlotte Wolff am 18. Mai 1983 in einem Antwortbrief an Christa Wolf, die mit ihr Kontakt aufgenommen hatte. Charlotte Wolff arbeitete damals gerade an einer Biographie über Magnus Hirschfeld, die sie nach fünfjähriger Arbeit ein Jahr vor ihrem Tod fertigstellte. Als Christa Wolf sie zwei Jahre später in einem Brief fragt: »Werden die Gefühle blasser, wenn man älter wird? Wird es inwendig stiller, mondenbleich? Manchmal, wenn ich wie jetzt krank bin und nicht arbeiten kann, kommt es mir so vor. Ein schweigendes und bleiches inneres Gelände, aus dem kein Sinn herauszugraben ist. Und jede Wiederbelebung, die irgendwann eintreten wird, wird Selbstbetrug sein, aber das wird man vergessen, froh, daß man wieder in Gang ist«, antwortet ihr Charlotte Wolff: »Selbstbetrug! Die ganze Gesellschaft ist Betrug! Es ist Ausnahme daß Menschen sich nicht gegenseitig dauernd betrügen – Und sich selbst!??! Ohne Selbstbetrug – irgendwo und irgendwann kann niemand in der Gesellschaft existieren. Selbstbetrug von sich zu sich – das ist etwas anders! Und da ist vielleicht ›Altern‹ manchmal wertvoll – In einer meiner ›Reflexionen‹ (in der 1. Autobiographie) schrieb ich ›The only reality we can know is the reality of self-awareness, of which sincerity is the foundation‹ – You may ask what has that to do with selbstbetrug – Answer: We only can get glimpses of reality – and absolute sincerity, even towards ourselves is like the (unleserlich) – Soweit wir vom milieu brain washed sind, soweit (u. das sind wir...