Witzel | Bluemoon Baby | E-Book | www2.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Witzel Bluemoon Baby

Roman
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-86438-190-4
Verlag: Edition Nautilus GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-86438-190-4
Verlag: Edition Nautilus GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Frank Witzels rasanter Roman erzählt aus dem Leben ganz unterschiedlicher Menschen während eines langen Wochenendes; wie es war, wie es ist, wie es hätte sein können: die Geschichte des Gymnasiallehrers Hugo Rhäs oder der Professorin für Gender Studies Sabine Rikke; die der alternden Schlagersänger Tamara Tajenka und Bodo Silber; des Gratful-Dead-Fans Abbie Kofflager oder des Psychiaters Rubinblad und anderer in Deutschland, den USA und Kenia. Begegnen sie sich zufällig oder ist doch alles vom CIA arrangiert? Sind Paranoia und 'Lethephobie' gerechtfertigt, wird Wirklichkeit konstruiert oder suggeriert? Ein ebenso intelligenter wie satirisch-komischer Roman, der den Leser den Boden unter den Füßen verlieren läßt. Frank Witzel ist der Gewinner des Deutschen Buchpreises 2015 mit dem Titel 'Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969'.

Frank Witzel, geb. 1955 in Wiesbaden, lebt als Schriftsteller, Musiker und Illustrator in Offenbach. Zuletzt erschien sein Roman Vondenloh (2008).
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Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Erster Teil


Do I understand the question, man, is it hopeless and forlorn?

Bob Dylan

1


Siebzehn Jahre Deutschunterricht im staatlichen Dienst haben Hugo Rhäs nicht gut getan.

Am Freitag dem 9. Juli gegen halb sechs biegt er mit seinem alten Buckelvolvo von der Erich-Ollenhauer-Straße in den kleinen namenlosen Pfad neben der Papierfabrik Achenkerber ab. Schon seit Tagen ist es unerträglich heiß. Wie soll das erst im August werden? Er versucht, den Schlaglöchern auszuweichen. Auf der Rückbank werden Lehrbücher, Ordner und Manuskripte durcheinandergeworfen. Aus einer abgegriffenen Ledertasche rutschen Disketten. John Malkovich, der aus dem übersteuert aufgedrehten Kassettenrekorder auf dem Beifahrersitz Auszüge aus Naked Lunch liest, klingt stellenweise wie unter Helium. Für Hugo Rhäs ist Burroughs Höhe- und Endpunkt der Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts. Wenn nicht sogar der Literatur überhaupt.

In knapp drei Jahren wird Hugo Rhäs fünfzig. Da hatte Burroughs schon seine Frau unter die Erde gebracht und war wieder aus Tanger zurück. Nicht, daß es hier auf dem stillgelegten Fabrikgelände gänzlich harmlos zuging. Anders eben. Einsamer. Manchmal huschten nachts finstere Schatten über das Grundstück, aber wenn er das Schlafzimmerfenster geräuschvoll öffnete und sich in die Nachtluft hinaus räusperte, schienen die auch schnell wieder verschwunden. Ab und zu wurden in einer der leeren Werkshallen ein paar Scheiben eingeworfen. Hugo Rhäs hatte mit der Wachgesellschaft telefoniert und erfahren, daß deren Vertrag noch zwei Jahre lief. So lange wie seine Schonfrist in dem ehemaligen Hausmeisterhäuschen. Nach dem Anruf sah er nachts hin und wieder einen Mann in schwarzem Leder über das Gelände schlendern und ihm, während er hinter den Gardinen am Fenster stand, mit der Taschenlampe in einer Art Geheimzeichen zublinken.

Burroughs hätte bestimmt näheren Kontakt zu dem Wachmann gesucht, ihn hereingebeten auf einen Kaffee, besser einen Whiskey, später dann zu noch härteren Drogen und noch später hätten sie mit großkalibrigen Gewehren herumgefeuert, selbst ein paar Scheiben zertrümmert oder sogar einen kleinen Brand gelegt. Warum auch nicht? Manchmal muß man dem dumpf ablaufenden Schicksal eben zuvorkommen.

Für andere mochte der Schuldienst Erfüllung genug sein. Die würden erst was merken, wenn sie mit Frau und Kindern auf dem Sonntagsausflug an den noch frisch dampfenden Trümmern der alten Papierfabrik vorbeikommen und das rotglühende Signet seiner verzweifelten Wut erkennen würden. Nachdem nun schon sein theoretisches Werk durch fremde Hand in Flammen aufgegangen war, warum nicht das Ganze zu Ende denken und mit Hilfe einiger Benzinkanister auch selbst bewerkstelligen?

„Sag mal, hat da nicht dieser komische Kollege von dir gewohnt?“

„Ja, ich überleg auch grade. Hoffentlich ist da nichts weiter passiert. Ich hab nämlich nicht die geringste Lust, am Montag seine Stunden zu übernehmen.“

Stunden! Viel weiter reichte deren Horizont wirklich nicht. Höchstens noch bis zu den Pausen zwischen den Stunden. Aber daß es eine geistige Verfassung gibt, einen Zustand, der völlig Besitz von einem ergreift und noch nicht mal mehr die kleine Pause um neun, geschweige denn die große um viertel vor zehn, zuläßt, davon hatten diese Beamtenseelen natürlich nicht die geringste Ahnung.

Es sind diese sich regelmäßig Freitagabend einstellenden Gewaltphantasien, die Hugo Rhäs so erschöpfen, daß er am nächsten Tag erst am frühen Nachmittag mit ausgetrocknetem Mund aus einem schweren Schlaf erwacht. Das fröhliche Samstageinkaufslicht fällt beunruhigend durch die Ritzen der Läden. Allein der Gedanke, daß es unten im Wohnzimmer schon lange hell ist und seine Kollegen sich gerade nach einem kleinen Bummel durch das Menschengewühl der Innenstadt auf Eiscaféterrassen breit machen, läßt die kurz vergessene Wut wieder in einem stechenden Schmerz auflodern.

Mit sieben durfte er einmal das ganze Wochenende nicht raus, weil seine Mutter auf den blöden Reporter wartete. Er war auf dem Linoleumboden in der Küche immer im Kreis gerannt und hatte das Heulen einer Sirene nachgemacht. Jetzt rasen die Krankenwagen mit amerikanisiertem Signalhornklang an seinem Häuschen vorbei zu mediokren Auffahrunfällen. Neben ihm auf dem Nachttisch, hinter den Burroughsbänden in Schlangenlederimitat, tickt der beige Wecker wie eine dilettantisch selbst zusammengebastelte Zeitbombe. Burroughs lebte die letzten zwanzig Jahre in einem umgebauten Keller. Genies sind wie zarte Aquarelle: sie scheuen das Licht.

2


Die Julisonne ist in den Vereinigten Staaten von Amerika greller und fast beißend. Am Nachmittag desselben 9. Juli bescheint sie um sieben Stunden zeitversetzt das etwa vier Kilometer weit abgesperrte Stück einer Landstraße parallel zur Bundesstraße 52 im Bundesstaat Wisconsin, etwas nördlich eines Ortes mit Namen Polar. Die Hitze macht dort vor allem den Beamten gewisser Geheimdienststellen zu schaffen, die eine Arbeit außerhalb klimatisierter Räume oder gleichermaßen klimatisierter Dienstwagen nicht gewohnt sind.

Der Asphaltbelag scheint zu schmelzen. Durch das Flimmern hindurch erkennt man in ungefähr sechshundert Meter Entfernung eine Farm. In dieser Farm halten sich religiöse Fanatiker auf. Erste Schätzungen gehen von mindestens 25 Sektenmitgliedern aus. Der harte Kern der Vereinigung. Nicht gerechnet die unschuldigen Opfer, darunter auch Kinder, die diese fehlgeleiteten und zum Äußersten bereiten Wahnsinnigen in ihrer Gewalt haben. Man vermutet, daß diese mindestens noch einmal soviel zählen.

Die Aufklärungshubschrauber kreisen über dem beinah fünf Hektar großen Grundstück. In einem gebührenden Sicherheitsabstand haben die Fernsehstationen Zelte aufgebaut und ihre Übertragungswagen abgestellt. Regelmäßig versuchen Schaulustige, in die Nähe des Gebietes zu gelangen. Manchmal kommt es zu vereinzelten Zwischenfällen. So zum Beispiel als ein mit vier Schülern besetztes Auto eine der Straßenabsperrungen durchbricht, sich dabei überschlägt und gegen einen Baum prallt. Die Einsatzkräfte befreien die stark angetrunkenen Jugendlichen, die wie durch ein Wunder mit ein paar Schürfwunden und dem Schrecken davongekommen sind, und übergeben sie den Eltern. Dann kehrt auf dem abgesperrten Abschnitt wieder der Alltag des Wartens ein.

3


In einer Stadt in Mittelhessen steht eine 43 Jahre alte Professorin für Frauenstudien fertig zum Ausgehen und mit dem Schlüssel in der Hand vor dem laufenden Fernsehgerät. Sie will zu einer Vernissage in die Grundwiesenstraße. In einem ehemaligen Buchladen, der jetzt einem Schmuckmacherkollektiv gehört, wird Perlenschmuck gezeigt. Es gibt Borschtsch zu essen und italienischen Landwein zu trinken. Die Broschen liegen in mit Sand gefüllten Blecheimern und werden mit kleinen Strahlern angeleuchtet. Die Ringe hängen an langen Zimmermannsnägeln, die man in die unverputzt belassenen Dachbalken geschlagen hat, und die Ketten sind um Stamm und Ast einer großen Yukka geflochten.

Der Lebenspartner der Professorin für Frauenstudien, ein zur Zeit arbeitsloser Spieleerfinder aus Graubünden, ist freitagabends regelmäßig zum Schach verabredet und deshalb schon aus dem Haus.

Die Professorin ist gerade noch von dem Beitrag des politischen Magazins eines öffentlich-rechtlichen Senders fasziniert. Nicht weit entfernt von Polar im Bundesstaat Wisconsin wird zur Stunde ein ohne Knochen geborener Siebzehnjähriger in einen Schacht gelassen, um mit Hilfe einer an seinem Kopf befestigten hochsensiblen Infrarotkamera, die ihre Bilder wahlweise in Bombenangriffsgrün oder Nachtüberwachungsblau liefert, herauszufinden, ob es über die Kanalisation einen Zugang zu dem Hauptquartier einer gefährlichen Sekte geben kann. Die Sekte nennt sich, so erfährt man nicht nur durch die Sprecherin, sondern auch auf einer vorbereiteten Tafel übersetzt „Die nackten Zeugen von Armagehdon“ (The bare witnesses of Armagehdon). Professorin Rikke lacht auf, denn man hat in der Fernsehredaktion das Wort „Armageddon“ falsch geschrieben.

In der Eile der sich überstürzenden Ereignisse läßt sich nicht jedes Detail recherchieren. So beantwortet das grobgerastert eingeblendete Foto von Douglas Douglas Jr., dem jungen Mann ohne Knochen, auch nur sehr unzureichend die Frage, was „ohne Knochen“ genau bedeutet. Eine Art Schädel scheint er jedenfalls zu besitzen, auch wenn er vielleicht etwas schmal erscheinen mag. Professorin Rikke schaltet auf Teletext. Um zehn soll in einer Sondersendung ausführlich über Douglas Douglas Jr. und die Hintergründe der Geiselnahme berichtet werden. Vielleicht ist sie bis dahin zurück.

Sie schaltet den Fernseher aus und verläßt das Haus. An der immer noch heißen Luft, die in den Straßen steht und sich sofort auf ihre Kopfhaut legt, wird...


Frank Witzel, geb. 1955 in Wiesbaden, lebt als Schriftsteller, Musiker und Illustrator in Offenbach. Zuletzt erschien sein Roman Vondenloh (2008).



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