E-Book, Deutsch, 236 Seiten
Wirth Auszeit vom Ich
3. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7557-6282-9
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Vom Loslassen und Wiederkehren. Ein Bericht.
E-Book, Deutsch, 236 Seiten
ISBN: 978-3-7557-6282-9
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Laurin Stromberger war viele Jahre lang ein beliebter Radiomoderator. Doch als ein neuer Chef den Sender übernimmt und seine Sendungen absetzt, er nach einer galligen letzten Moderation in die Nachrichtenredaktion strafversetzt wird, scheint sein beruflicher Niedergang besiegelt zu sein. Zudem hatte er zuvor eine Affäre mit einer Praktikantin begonnen, die später, als er Schluss mit ihr macht, aus verletztem Stolz an ihm Rache nimmt und ihm das Leben schwer macht. Gefrustet und desillusioniert verlässt er daher nach einem finalen Streit mit dem Nachrichtenleiter nach 18 Jahren den Sender. Diese Schmach von damals und andere unverarbeitete Ereignisse, die dem sensiblen nunmehr 50-Jährigen zunehmend zusetzen, lassen ihn kurz nach seinem runden Geburtstag das Weite suchen. Und so fährt er, ohne seine Familie einzuweihen, in einer spontanen Aktion mit seinem alten Benz nach Portugal. Dort, in seinem Lieblingsland, hofft er, jene Ruhe und Gelassenheit wiederzufinden, die er in den vergangenen Jahren nicht mehr vorfand und die verlorengegangen schien. Doch jene Levitation, die er sich erhofft, findet er zunächst nicht. Dafür erwarten ihn an seiner Destination, mehr als 2000 Kilometer von zu Hause, so einige Überraschungen, und auch die Vergangenheit holt ihn das eine oder andere Mal ein -- ob er es nun möchte oder nicht...
Markus Wirth, Jahrgang 1969, arbeitete lange Jahre als Zeitungsredakteur, bevor er seine Passion, Geschichten zu erzählen, nun mit seinem Erstlingsroman "Auszeit vom Ich" in die Tat umgesetzt hat. In seiner Freizeit beschäftigt er sich mit Geschichte und Geologie, mit Oldtimern und sammelt Vinyl-Schallplatten. Er lebt mit seiner Familie in der Kurpfalz im Nordwesten Baden-Württembergs.
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7. Lissabons Schattenspiele
„I drive on her streets, cause she‘s my companion, I walk through her hills, cause she knows who I am“ (Red Hot Chili Peppers, „Under the bridge“, 1991) Laurin drosselte sein Tempo etwas. Obwohl er bergab lief, war ihm warm, zu warm. Der Schatten in einer der zahlreichen Altstadtgassen Lissabons verhieß kaum Abkühlung. Der letzte Schluck der „Bica“, da heiß getrunken, intensivierte das Gefühl aufkommender Wärme noch. Auch ein leichter Wind, der vom Tejo her wehte, vermochte keine Erfrischung zu bringen. Er hielt inne und sah sich die wundervollen Azulejos mit biblischen Szenen an einem jener unzähligen alten Häuser des Bairro Alto an, die, könnten sie reden, so viel zu erzählen hätten. Etwa von Zeiten, als hier Eselkarren die Straßen bevölkerten. Von Zeiten, als Lissabon und somit das gesamte Land an die Kandare genommen worden war und jahrzehntelang unter der Knute des autoritären Diktators Antonio de Oliveira Salazar und seinen Schergen und Linientreuen stand. Von Zeiten, als der Ruhm Portugals als frühere Seefahrernation endgültig verblassen sollte und das Land am Rande Europas zu dessen Armenhaus, zum Vorzimmer der Hölle zu verkommen drohte. Und von Zeiten, als gerade diese Lähmung durch die Nelkenrevolution des 25. April 1974 unblutig beendet wurde. Hätten die Häuser wie jenes, das sich Laurin anblickte, die Gabe zu singen gehabt, weiß Gott, sie hätten ebenfalls in José Afonsos Revolutionslied „Grândola, vila morena“ mit eingestimmt und dem jahrzehntelangen diktatorischen Spuk ein friedliches Ende bereitet. Hätten auf die vielen roten Nelken geblickt, welche die Bürger den Soldaten in die Gewehrmündungen steckten. Die Nelke als Symbol der Sozialisten, gewiss, aber auch, zumal an jenem denkwürdigen Tag, ein Symbol des friedlichen Widerstands gegen eine Diktatur, die schon lange nicht mehr Herr ihrer Lage gewesen war. Es waren Geschichten wie diese, die Laurin so an Portugal mochte. Geschichten über das Verharren in der Vergangenheit, in der erfreulichen Vergangenheit, das Glorreiche hervorhebend und das Böse, das war, vergessend. Böig wehte der Wind durch die Gasse, zerrte an Laurins dunklen, in den vergangenen Jahren jedoch auch zunehmend ergrauten Haaren. Irgendwoher knurrte Iggy Pop „I am the passenger, and I ride and I ride“ aus den Lautsprechern und vermischte sich mit den getragenen, ebenso seidenfeinen wie erdenschweren Fado-Klängen von Mísias „Paixões diagonais“ ein paar Fenster weiter in einer Wohnung auf der gegenüberliegenden Seite des Altstadtgässchens. Hier der sehnige „Stooges“-Chef und ewige Punk-Ikone aus den USA, dort die ätherisch wirkende Fadista aus dem äußersten Südwesten Europas. Die Musikwelt – ein Widerspruch. Lissabon – ein Widerspruch. Ein Mikrokosmos zwischen gestern und morgen, dabei zeitweilig noch nicht ganz im Heute angekommen und doch schon die Zukunft beschnuppernd. Lissabon – Laurins stadtgewordener Traum. Lissabon – du Unerreichte! Laurin gefiel sich in Schwärmereien. In Schwärmereien, die das Hier und Jetzt auffüllten wie noch heißer, flüssiger Asphalt die Lücken und Spalten einer brüchig gewordenen Straßendecke. Schwärmereien, die dazu dienten, ihn abzulenken und um das, was ihn bedrückte, somit wenigstens zeitweilig – wenn auch mühselig und nur provisorisch – zu verdecken. Gedankenschweife wie diese, die gestattete er sich, gerade auch und gerade, um die Zweifel zu vergessen, die Schuldgefühle, sich bei Tina und Charlotte bislang nicht gemeldet zu haben und wiederum die Angst vor ebendiesem Schritt, dem begreiflicherweise viele Fragen nach dem Warum folgen würden. Mehr als 2300 Kilometer war er, nachdem er eilig seinen Koffer gepackt hatte, unterwegs gewesen, Tag und Nacht, ohne große Pausen, fast ohne Schlaf. Wie in Trance, dabei drei Länder und verschiedene Landschaften und Regionen durchfahrend. War auf Autobahnen, Schnellstraßen und Provinzrouten unterwegs, polterte über bessere Feldwege. Geriet in der Gascogne in einen heftigen Landregen. Wirbelte in der schon knochentrockenen Extremadura Spaniens den Straßenstaub auf. Schaute dort immer wieder auf die Silhouette des berühmten „Osborne“-Stiers. Trank an Raststätten bittere, überteuerte und säuerlich schmeckende Filterplörre, die an anderen Orten kaum als Kaffee durchgegangen wäre. Biss in belegte Brötchen, die an Pappkarton erinnerten. Trank nicht, weil es schmeckte, sondern um wach zu bleiben. Aß nicht, um zu genießen, sondern um den bohrenden Hunger zu stillen. Sah die Sonne unter- und den Mond aufgehen. Und umgekehrt. Jetzt, am Ziel, fühlte er sich jedoch nicht etwa freier. Zumindest nicht so frei, so befreit, wie er es sich erhofft hatte. Er war auch hier sich selbst im Weg. Hatte den Menschen, den er wenigstens temporär hatte abstreifen wollen, eins zu eins mitgenommen. Mitsamt seinen Fehlentscheidungen, die ihn immer mehr zu einem Zauderer, einem Hinterfrager, einem kritischen Geist werden ließen. Laurin atmete durch. Doch Erleichterung, nein, die machte sich nicht breit. „Mist!“, fluchte er in sich hinein. Dabei wollte er doch nur eine Auszeit nehmen. Alleine sein. Nachdenken, was in den vergangenen Jahren schief gelaufen, wo er vielleicht, beabsichtigt oder wider besseren Wissens, falsch abgebogen war. Freiheit spüren ohne Einengungen. So genannte Einengungen. Und temporär ohne jene Menschen, die ihm so wichtig waren, die ihm Halt gaben: seine Frau, seine Tochter, seine Eltern und sein Bekannten- und Freundeskreis. Gut, die meisten der Letztgenannten waren nur selten zu greifen, gerade die ehemaligen Schulkameraden, selbst Treffen mit seinem besten Freund Jonas, mit dem er ab und an telefonierte und ihm Mails schickte, waren eher rar gesät. Zu anderen Leuten hielt er über Facebook sporadisch Kontakt, gerade um zu sehen, dass es sie noch gibt und auch, dass er ihnen zeigen konnte, dass es auch ihm gut geht. All das war der Mörtel, der sein soziales Leben, seinen Schutzwall um ihn herum zusammenhielt. Aber vielleicht schnürte er ihn auch ein? Wie zum Beweis für den gerne bemühten, sich selbst rechtfertigenden „Mein Haus, mein Auto, meine Familie“-Habitus – die sozialen Netzwerke ersetzten den Stammtisch ebenso wie die Klassentreffen -- grüßten er, Tina und Charlotte von Sylts nördlichstem Punkt, dem Leuchtturm am „Ellenbogen“ von List, winkten bei der Poolparty im eigenen Garten vom vergangenen Sommer in die Kamera und zeigten sich vor einer der antiken Straßenbahnen Lissabons. Viele derjenigen, die auf Facebook ein „Gefällt mir“ unter diese Bildnisse heilen Familienlebens setzten, konterten mit Aufenthalten in Kanada, Südfrankreich, New York, San Francisco. Sendeten Grüße vom Snowboard-Kontest in Ischgl. Josch gab den Elefantenbezwinger auf Sri Lanka, Laura erklomm die Etschtaler Alpen: Stillleben auf der Alm mit Räucherspeck, Wurzen, Scheiben von wagenradgroßem Bauernbrot und einem Weißbier. Und Steffen schließlich posierte – sozusagen als uneinholbarer „Like“-König -- mit seinem kleinen Severin mitten im australischen Outback vor dem Heiligtum der Aborigines, dem „Uluru“, international auch bekannt unter dem Namen „Ayers Rock“. Nett anzuschauen, und dennoch irgendwie geschönt, optimiert, perfektioniert, inszeniert, dachte Laurin immer wieder. Eine heile Welt, die nicht heil war. Wunderschöne Landschaften wie Potemkinsche Dörfer. „Wie unsere gesamte heutige Gesellschaft, auf tönernen Füßen stehend, auf Sand gebaut und mit Lug, Trug und dem Schein des Unwahren verputzt“, dachte er einmal mehr, wenn er dies alles im Internet betrachtete. Vielleicht, und er war gewiss kein Pessimist, waren gerade diese Bilder auf Facebook die eilig vorgeschobene Rechtfertigung dessen, dass es den Genannten nur allerhöchstens vordergründig gut ging, meinethalben nur für die Dauer des Urlaubs, für die Dauer dieser schönsten Wochen des Jahres, vielleicht auch nur allenfalls für die Dauer, bis der Auslöser der Kamera oder das Smartphone dieses doch brüchige Scheinglück für die Ewigkeit konserviert hatte. „Shiny happy people“, kam Laurin in den Sinn – ja, dieser Song von R.E.M aus dem Jahr 1991, der passte. Mit diesem vordergründig optimistischen, aber doch irgendwie nachdenklich machenden und klugen Text voller Anspielungen auf das doch so zerbrechliche Glück. Immer und immer wieder, zu allen möglichen und unmöglichen Anlässen. Er passte wie ein Maßanzug auf die allzu gelackte, selbstverliebte Oberfläche der heutigen Gesellschaft. Leise summte Laurin vor sich hin, kickte einen kleinen Kieselstein über das wellig-rutschige Kopfsteinpflaster gegenüber des Bahnhofs „Cais do Sodré“. Er erschrak, weil die Schiffssirene eines der hier Station machenden Ozeanriesen mit Wucht drei Mal ohrenbetäubend dumpf-dröhnend die ansonsten bislang nunmehr recht angenehme Stille durchbrach. Selbst der rauschende Mittagsverkehr rund um den „Praça do Comércio“ und die nach...




