E-Book, Deutsch, Band 55, 64 Seiten
Reihe: Lore-Roman
Winter Lore-Roman 55 - Liebesroman
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-7325-8137-5
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Vom Leben unbesiegt
E-Book, Deutsch, Band 55, 64 Seiten
Reihe: Lore-Roman
ISBN: 978-3-7325-8137-5
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Vom Leben unbesiegt
Eine tapfere Frau meistert ihr Schicksal
Von Helga Winter
Judy Gudani ist die Tochter eines ungarischen Großgrundbesitzers, in Luxus geboren und in Luxus erzogen, doch hier in den trostlosen Flüchtlingsbaracken, da ist sie nur ein einfaches Pusztamädchen, armselig gekleidet, nervlich zermürbt und schrecklich einsam. Es sind Menschen überall, dicht an dicht, sitzen, liegen und schlafen sie, es gibt kein Entrinnen und kein Alleinsein. Wie viele andere hat Judy ihr Land überstürzt verlassen, um irgendwo neu zu beginnen. Sie hat an die Freiheit geglaubt - und ein Lager gefunden. Alles hat sie zurückgelassen, einzig ihre geliebte Spieldose konnte sie mitnehmen.
Ortwin hat sie ihr geschenkt, damals in jenem Sommer in Ungarn. Geküsst hat er sie und ihr die Liebe versprochen, der gut aussehende österreichische Student. Sie hat ihn nie vergessen. Und eines Tages steht er tatsächlich vor ihr. Er befreit sie aus dem Lagerelend, er glaubt, sie sei für ihn eine kleine Schwester, für die er sorgen muss. Judy liebt ihn, mit jeder Faser ihres Herzens, aber der Weg zu Ortwin ist nicht frei. Der angesehene Attaché ist verlobt ...
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Vom Leben unbesiegt
Eine tapfere Frau meistert ihr Schicksal
Von Helga Winter
Judy Gudani ist die Tochter eines ungarischen Großgrundbesitzers, in Luxus geboren und in Luxus erzogen, doch hier in den trostlosen Flüchtlingsbaracken, da ist sie nur ein einfaches Pusztamädchen, armselig gekleidet, nervlich zermürbt und schrecklich einsam. Es sind Menschen überall, dicht an dicht, sitzen, liegen und schlafen sie, es gibt kein Entrinnen und kein Alleinsein. Wie viele andere hat Judy ihr Land überstürzt verlassen, um irgendwo neu zu beginnen. Sie hat an die Freiheit geglaubt – und ein Lager gefunden. Alles hat sie zurückgelassen, einzig ihre geliebte Spieldose konnte sie mitnehmen.
Ortwin hat sie ihr geschenkt, damals in jenem Sommer in Ungarn. Geküsst hat er sie und ihr die Liebe versprochen, der gut aussehende österreichische Student. Sie hat ihn nie vergessen. Und eines Tages steht er tatsächlich vor ihr. Er befreit sie aus dem Lagerelend, er glaubt, sie sei für ihn eine kleine Schwester, für die er sorgen muss. Judy liebt ihn, mit jeder Faser ihres Herzens, aber der Weg zu Ortwin ist nicht frei. Der angesehene Attaché ist verlobt …
„Hast du Ausgang?“, fragte die schwarzhaarige Ilona das neben ihr sitzende Mädchen, das einen Schein in der Hand hielt.
Judy Gudani nickte. „Aber ich habe keine Lust zu gehen“, erwiderte sie müde, und ihr Blick ging an Ilona vorbei gegen die Bretterwand der Baracke.
Ihre Nerven waren durch das Eingesperrtsein in diesem Lager zermürbt. Menschen überall, dicht an dicht, saßen, lagen und schliefen sie, es gab kein Entrinnen und kein Alleinsein.
Ilona verstand sie nicht, denn sie gehörte zu den unproblematischen Naturen, die es verstehen, aus jeder noch so schlechten Situation das Beste herauszuholen.
„Zeig mal.“ Ilona nahm ihr den Passierschein, vom ungarischen Lagerführer unterschrieben und abgestempelt, einfach aus der Hand. „Ausgang bis zweiundzwanzig Uhr“, las sie ehrfürchtig ab. „Menschenskind, ich wünschte, ich dürfte auch einmal so lange draußen bleiben. Was könnte man da alles anfangen!“
„Ja, was könnte man anfangen?“, wiederholte Judy müde.
Spazierengehen, die Auslagen der Schaufenster bewundern, die Flüchtlingen wie ihr unerreichbar waren; man konnte die gut gekleideten und gut gelaunten Menschen anstarren und sich fragen, ob die nichts von dem Lagerelend wussten, das unmittelbar vor Salzburg herrschte.
Sie waren Almosenempfänger geworden, diese Menschen, die ihr Land überstürzt verlassen hatten, um irgendwo neu zu beginnen. Sie hatten an die Freiheit geglaubt – und ein Lager gefunden.
Ordnung muss sein, Judy wusste es genau, aber sie litt unter dieser erzwungenen Ordnung, die ihr die Individualität nahm und sie zu einem Stück Masse degradierte. Sie ertrug es manchmal kaum, ständig in Tuchfühlung mit anderen zu leben, mit fremden Menschen, die sie gar nichts angingen, die neben ihr aßen, rauchten, spuckten und liebten.
„Um zwanzig Uhr wird es schon dunkel“, sagte Ilona an ihrer Seite, und als Judy den Blick wandte, sah sie, dass ein verwegener Ausdruck in ihrem hübschen Gesicht stand. „Und zwei Stunden hätte man Zeit …“ Sie brach ab, faltete das kostbare Papier zusammen und reichte es Judy zögernd zurück. „Aber solche Scheine gibt es nur für bessere Menschen.“
Diese Anspielung auf ihre Herkunft ließ Judy kalt – sie hatte sie in den letzten Wochen und Monaten viel zu oft gehört, um noch darauf zu reagieren. Sie gehörte nicht zu denen, mit denen sie hier zusammenleben musste, sie war etwas Besseres und konnte es nicht verleugnen, obwohl sie die gleichen schäbigen Sachen trug wie alle anderen.
Sie war die Tochter eines Großgrundbesitzers, in Luxus geboren und in Luxus erzogen, sie beherrschte mehrere Sprachen, konnte Klavierspielen und über Bücher sprechen, deren Autoren den anderen unbekannt waren.
Wer gefallen ist, der muss getreten werden, und hier im Lager war Judy bekannt. Man wusste, wer sie war und rief ihr höhnische Worte nach, wenn sie durch die breite Lagerstraße ging, an der auf beiden Seiten die verwitterten, farblosen Baracken standen.
Der Lagerführer bevorzugte Judy Gudani keinesfalls, jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit, aber das Mädchen spürte manchmal doch seine Anteilnahme, wenn er auch versuchte, sich hinter barscher Rauheit zu verbergen.
„Da, nimm den Wisch“, hatte er heute Vormittag gesagt und ihr den Passierschein über den Schreibtisch geworfen. „Vielleicht kannst du dir draußen einen anlachen.“
Das, was er ihr riet, war der Wunschtraum der unzähligen Frauen und Mädchen, die hier zum Warten verdammt waren. Viele, die meisten von ihnen, wollten arbeiten, aber gerade das durften sie nicht. Österreich hatte genug Arbeitslose, man legte keinen Wert darauf, ihre Zahl durch unerwünschte Fremde noch zu erhöhen.
„Ja, ich weiß.“ Judy stand langsam auf, als bereite jede Bewegung ihr unerträgliche Mühe. Sie war einerseits froh, dieser Enge ein paar Stunden lang entgehen zu können, fürchtete aber andererseits den Blick in die frohe, unbeschwerte Welt, die jenseits des Zaunes begann.
„Ich wollte, ich könnte mit“, äußerte Ilona sehnsüchtig. „Du, du hast doch Beziehungen, könntest du Radecki nicht beschwatzen, mir auch solch ein Ding zu geben? Ich … wäre auch bereit, mich zu revanchieren“, verhieß sie augenzwinkernd.
Judy wusste, was sie damit meinte. Die Frauen und Mädchen hier hatten nicht viel, womit sie bezahlen konnten. Nur sich selbst.
Es war eine gängige Münze, die die Lagerpolizei gern annahm. Unwillkürlich verzog Judy den Mund, und Ilona lachte amüsiert, als sie es bemerkte.
„Es sind nicht alle so wie du, mein Schatz“, meinte sie leichthin. „Hier muss man sehen, dass man nicht gefressen wird, und ich, das sage ich dir, ich bleibe nicht mehr lange in diesem Käfig. Hier erstickt man ja!“
Judy nickte ihr nur zu und ging jetzt schnell davon, weil ihr die Nähe dieser kaltschnäuzigen Person lästig fiel. Seit ihrer Flucht vom elterlichen Gut hatte sie einen Einblick in die Wirklichkeit bekommen, vor der es sie nur schauderte.
Sie hatte kein Geld, Geld brauchten sie nicht, man gab ihnen ja alles, was ein Mensch zum Leben nötig hat. Nur ein Heim, Arbeit, eine Aufgabe, das gab man ihnen nicht. Sie ging allein, denn nur wenige bekamen Passierscheine. Kurz vor den ersten Häusern der Stadt wurde sie angerufen.
Judy blieb verwirrt stehen und wandte erschreckt den Kopf.
„Ich bin es nur, Ilona!“, rief das Mädchen, das mit klettenhafter Zähigkeit an ihr hing. In ihrem gebräunten Gesicht blitzten die Augen unternehmungslustig.
„Hast du auch einen Schein bekommen?“
Ilona schnippte Daumen und Mittelfinger vor ihrem Gesicht zusammen.
„Es geht auch so, mein Kind“, sagte sie und zwinkerte ihr zu. „Die Posten sind auch nur Menschen, sogar schwache, denn es sind Männer.“ Sie hatte Grund, die Männer für schwach zu halten, für schwach und für dumm.
„Das wirst du auch noch lernen“, meinte sie gutmütig. „Warte ab, es ist nur am Anfang schwer, später macht es dir nichts mehr aus.“
Vor einem halben Jahr war sie im Herrenhaus gewesen, und Judy dachte an die riesige Halle mit den vielen Geweihen, und sie sehnte sich unsagbar nach all dem, was sich mit der Heimat für sie verband, vor allem aber nach der unbedingten Sauberkeit, die sich nicht nur auf das tägliche Waschen bezog, sondern vor allem auf den Charakter.
„Ich möchte nur einmal wissen, wie es in dir aussieht“, meinte Ilona an ihrer Seite nachdenklich. „Sag mal, hast du noch niemals was mit einem Mann gehabt? Du siehst doch ganz hübsch aus, wenn du auch ein wenig dünn bist.“ Sie wiegte sich selbstbewusst in den Hüften hin und her.
Allmählich begriff Judy, weshalb sie Seidenstrümpfe trug und sogar Geld hatte. Ilona lud sie in ein Café ein und knisterte herausfordernd mit ein paar Geldscheinen.
„Danke, ich … ich möchte mich hier ein wenig umsehen … ich wollte schon immer gern einmal nach Salzburg.“
„Diese alten Gemäuer, die kannst du immer noch sehen, und was gibt es da auch schon zusehen? So’n paar Steine, die sind überall gleich. Weißt du, im Café, da kann man vielleicht irgendeinen netten Mann kennenlernen.“
„Danke, ich … möchte nicht …“
Judy riss sich los und lief davon und blieb in einer schmalen Seitengasse keuchend stehen. Die Häuser standen eng zusammen, altmodische Häuser mit schmalen, vielfach unterteilten Fenstern, Häuser mit Verzierungen an der Fassade, mit ausgetretenen Treppenstufen und altmodischen Türen.
Von einer Kirche ertönte ein Glockenspiel, eine Mozartweise. Mit anderen zusammen blieb Judy Gudani stehen und lauschte, und als sie die Augen schloss, war sie nicht mehr hier, sondern zu Hause.
Die Spieldose. Ortwin hatte sie ihr geschenkt, eine kleine, reizende Spieldose, die die gleiche Melodie spielte. Ortwin, wie...