E-Book, Deutsch, 528 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Winawer Die Liebenden von Siena
18001. Auflage 2018
ISBN: 978-3-8437-1739-7
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 528 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-1739-7
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dr. Melodie Rose Winawer ist außerordentliche Professorin für Neurologie an der Columbia Universität in New York. Sie hat über 40 medizinische Artikel und Buchbeiträge geschrieben. 'Die Liebenden von Siena' ist ihr Debütroman.
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II
Weiter als dieses Tor
Diese Episode verblasste nicht wie die anderen – ich sah und hörte nichts. Sekunden verstrichen, und ich bekam Panik. Wenn ich nun für immer in diesem Zustand verharrte? Allmählich drangen wieder Geräusche zu mir durch, und ich begann Umrisse zu erkennen, dann Details. Meine Angst ließ nach. Es ist einfach Abend, und die Lichter sind aus, sagte ich mir. Doch der Trost dieser Erklärung verflüchtigte sich schon bald. Vor einer Minute war es noch nicht dunkel gewesen.
Schwaches Mondlicht drang durch die Fenster des Doms. Ich hatte im hellen Licht des Nachmittags gelesen. Wie hatte ich Stunden verlieren können, ohne es zu merken? Ich ging alle möglichen Diagnosen durch. Komplexer partieller Anfall? Schlecht. Transiente globale Amnesie? Nicht ganz so schlecht, denn die war laut Definition vorübergehend.
Ich stand noch immer neben dem Marmorlöwen, ich streckte die Hand aus, um seinen Rücken zu berühren und mich abzustützen. Die Oberfläche fühlte sich jetzt anders an, rauer. Außer dem Löwen hatte ich nichts in den Händen – Gabrieles Tagebuch war verschwunden. Bens Rucksack trug ich jedoch noch immer, die Riemen schnitten in meine Schultern. Ich beugte Arme und Beine, um sicherzustellen, dass ich es noch konnte. Jetzt hatte ich in beiden Schläfen merkwürdige Kopfschmerzen. Konnte alles eine komplizierte Migräne sein? Migräne hatte ich noch nie. Hirnaneurysma? Mein Gott, hoffentlich nicht. Ich stolperte über einen hölzernen Chorstuhl und setzte mich. Irgendwo im Dunkeln begann eine körperlose Stimme die Abendmesse auf Lateinisch zu singen.
Dann fiel mir etwas sehr Seltsames auf. Auf dem hohen Gesims entlang des Kirchenschiffs fehlten die Büsten der Päpste, die ich gerade gezählt hatte; der Platz unter dem Fenstergeschoss war leer. Das Herz schlug mir bis zum Hals, als ich zu den großen Eingangstüren des Doms ging, meine Schritte hallten im leeren Kirchenschiff wider. Die Fensterrose in der Fassade war verschwunden und hatte ein klaffendes Loch zurückgelassen, hinter dem der Nachthimmel zu sehen war.
Ich taumelte durch die Türen des Duomo, die sich auf rätselhafte Weise von Bronze in Holz verwandelt hatten, nach draußen. Nirgendwo brannten Lampen. Kein Laternenpfahl, kein warmer gelber Lichtschein aus einem Café-Fenster, der Reisende anlockte. Und niemand war auf der Straße. Ich hatte noch nie eine Stadt so unheimlich leer gesehen. Ich überquerte den Campo, dessen Schräglinien im silbernen Mondlicht geheimnisvoll wirkten. Ein Traum? Für einen Traum schien es zu realistisch. Bewusstseinseinengung? Nervenzusammenbruch? Mir gingen die Diagnosen aus.
Die Straßen waren nicht beschildert, aber ich kannte den Weg zu Bens Straße auswendig. Sobald ich um die Ecke bog, war es so finster, dass ich die Hand vor Augen nicht sehen konnte. Die Gebäude neigten sich einander zu und schlossen das Mondlicht aus, Markisen verdunkelten die schmalen Gassen noch mehr. Ein Stromausfall? Ich tastete mich an den Mauern entlang.
Eine Votivkerze in einer Nische, die ein Bildnis der Jungfrau Maria beherbergte, warf ein schwaches Licht auf meine Straße. Als ich den Eingang von Bens Haus – meinem Haus – fand, fiel mir ein Stein vom Herzen. Jetzt konnte ich die Treppen zu meinem Schlafzimmer hinaufgehen, ins Bett schlüpfen und einschlafen. Alles würde wieder gut werden.
Irrtum. Das Schloss sah fremdartig aus, und mein Schlüssel passte nicht. Ich versuchte, ihn andersherum einzustecken, aber es war offensichtlich der falsche Schlüssel. Wie konnte das sein? Ich tastete die verputzte Mauer entlang nach der Klingel von Ilario und Donata. Aber da war keine. Statt der flachen Fassade des Gebäudes mündete die Mauer in eine verriegelte Ladenfront, die ich noch nie gesehen hatte. Zitternd wickelte ich mich in den Schal, den ich am Morgen eingesteckt hatte, hockte mich auf die Treppe vor dem Haus, in das ich nicht heimkehren konnte, und wartete auf den Sonnenaufgang.
Glockenläuten ließ mich noch vor dem Morgengrauen aus meiner verkrampften Schlafhaltung aufschrecken. Aus Donatas Hauseingang trat eine Mutter Arm in Arm mit ihrer Tochter, beide für eine Palio-Parade herausgeputzt, in knöchellangen Kleidern mit langen, eng anliegenden Ärmeln. Die jüngere Frau starrte mich an, während ihre Mom missbilligend mit der Zunge schnalzte und die Straße hinuntereilte, die Tochter hinter sich herziehend. Weitere Türen öffneten sich, und Menschen strömten heraus, die sich zur Piazza del Duomo auf den Weg machten. Ich schloss mich der Gruppe an und folgte dem Glockengeläut zur Morgenmesse in den gestreiften Dom.
Ich setzte mich ganz nach hinten, umgeben von Fremden, die meine Nachbarn hätten sein sollen, aber wie Schauspieler in einer historischen Aufführung wirkten. Begingen sie einen großen Feiertag, vielleicht den des Lieblingsheiligen im Ort? Das Gesicht des Priesters tauchte auf, von Kerzen erleuchtet und ernst unter einer Mitra. Es musste ein besonderer Feiertag sein, dass der Bischof die Messe las. Aber sobald der Bischof anfing zu sprechen und sein Latein durch das Kirchenschiff hallte, scheiterten auch meine letzten beharrlichen Versuche, vernünftig zu denken.
Feria Sexta Iulii Anno domini mille tres centum quadraginta et septem …
Den Rest des Gottesdienstes nahm ich nicht mehr wahr, da mein eingerostetes Highschool-Latein aus der Versenkung aufgetaucht war und mir begreiflich gemacht hatte, dass es der 6. Juli 1347 war. Mir schwirrte der Kopf. Diese Zeitverschiebung war unmöglich. Ich hatte mir häufig vorgestellt, dass ich irgendwann im Leben jemanden verlieren würde, den ich liebte, und das war geschehen. Aber ich hatte nie die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass ich meinen Platz im Hier und Jetzt verlieren könnte.
Nach dem Gottesdienst blieb ich sitzen, während die anderen Kirchgänger nach und nach den Dom verließen. Ein Wort geisterte mir durch den Kopf, immer und immer wieder: unmöglich, unmöglich, unmöglich. Wenn man ein Wort oft genug ausspricht, verliert es seinen Sinn. Das ist unmöglich. Aber das hieß nicht, dass es nicht passierte.
Panik hielt mich auf meinem Sitz fest. Ein Junge in weißem Gewand schritt zum Altar und begann die Kerzen zu sortieren, entfernte die abgebrannten und ersetzte sie durch neue. Die Vorstellung war unbegreiflich, aber ihre Realität war offensichtlich; ich war ins Siena des vierzehnten Jahrhunderts zurückversetzt worden, in einem ärmellosen Leinenkleid. Ich kannte niemanden. Ich hatte kein Zuhause, nichts zu essen und kein Geld. Ich hatte keine Ahnung, wie ich hierhergekommen war, und, noch wichtiger, wie ich wieder zurückkehren sollte. Ich vernahm meinen Atem, flach und schnell, und spürte, wie mein Herz hämmerte. Ich stand kurz davor, entweder einen Nervenzusammenbruch oder einen Herzinfarkt zu erleiden.
Die meisten Menschen finden es nicht entspannend, die Namen der Arterien an der Schädelbasis in der richtigen Reihenfolge aufzusagen, aber die meisten sind auch keine Neurochirurgen. Um nicht völlig durchzudrehen, schloss ich die Augen und griff zu meiner Lieblingsstrategie, verfeinert durch jahrelanges Training. Ich stellte mir die netzartige Form des Arterienrings im Hirn vor, und die Adern, die davon abzweigten. Vordere Halsschlagader, Arteria communicans anterior, innere Halsschlagader, mittlere Halsschlagader, hintere Halsschlagader, Basilararterie, Wirbelsäulenschlagader … Vordere Halsschlagader, Arteria communicans anterior, innere Halsschlagader … Nach der dritten Wiederholung schlug mein Herz langsamer, und ich konnte wieder normal durchatmen. Der Messdiener war mit den Kerzen fertig und kam durch das Kirchenschiff auf mich zu. Ich schlang mir den Schal um die nackten Arme und Schultern und verließ den Dom.
Ich konzentrierte mich auf das, was ich am dringendsten brauchte: eine Toilette und passende Kleidung. In einer Gasse hinter dem Dom entdeckte ich eine stinkende Jauchegrube, in die wahrscheinlich das Nachtgeschirr entleert wurde, und erreichte mein erstes Ziel. Ich hielt die Luft an, bis ich wieder auf der Piazza war.
Auf dem Campo fingen Händler an, ihre Marktstände aufzubauen, doch ich sah keine Kleidung, die zum Verkauf angeboten wurde, und besaß ohnehin kein mittelalterliches Geld. Auf dem Campo herrschte unterdessen dichtes Gedränge. Ein paar Menschen schauten mich neugierig an. Vielleicht könnte ich zum Trocknen aufgehängte Wäsche finden, um mich einzukleiden – hier musste doch Wäsche gewaschen werden. Wichtig war, dass ich nicht beim Stehlen erwischt wurde, denn ich wollte nicht als Diebin gehängt werden. Meine Gedanken überschlugen sich, kramten meine sämtlichen Geschichtskenntnisse hervor in der Hoffnung, etwas Nützliches zu finden. Ich suchte mir eine beliebige Straße aus, bog nach rechts ab, dann nach links. Weiter entfernt vom Dom wurden die Straßen schmaler und dunkler, bis ich die Gebäude zu beiden Seiten mit ausgestreckten Armen berühren konnte. Die Wäscheleinen, die ich mir erhofft hatte, fand ich nicht. Wahrscheinlich gab es Höfe hinter den Häusern, doch ich gelangte nicht dorthin. Ich ging immer weiter und wünschte, nicht mehr allzu lange im vierzehnten Jahrhundert verweilen zu müssen, bekleidet mit dem mittelalterlichen Äquivalent von Unterwäsche.
Ein Tropfen fiel auf meinen Kopf, und ich schaute auf, rechnete mit einer Taube. Immerhin war ich in New York City aufgewachsen. Stattdessen ragte ein meterlanger Holzpfahl aus der Fassade eines dreistöckigen Stadthauses. Er sah aus wie eine Fahnenstange, aber an diesem Pfahl hing ein nasser Umhang.
Ich hatte mir ein Kleid erhofft, wollte mich aber mit dem zufriedengeben, was ich kriegen konnte. Leider war der Pfahl hoch über...