Wimmer Nellys Version der Geschichte
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-99039-001-6
Verlag: Limbus Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 232 Seiten
ISBN: 978-3-99039-001-6
Verlag: Limbus Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erika Wimmer, geboren und aufgewachsen in Bozen/Südtirol. 1971-1976 Besuch des Humanistischen Gymnasium-Lyzeums 'Walther von der Vogelweide' in Bozen. 1976-1983 Studium der Germanistik, Vergleichenden Literaturwissenschaft und Anglistik an der Universität Innsbruck. Seit 1983 Mitarbeiterin des Forschungsinstituts Brenner-Archiv der Universität Innsbruck, Arbeit mit Nachlässen, Editionen und literaturwissenschaftliche Forschungen. Veröffentlichungen in den Bereichen Prosa, Hörspiel, Drama und Lyrik.
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Nellys Figuren
Ich stehe an der hinteren Tür, denn hier betreten die Menschen den Saal. Meine Hände wissen nicht wohin, weshalb sie einander immer wieder im Rücken fassen. Ich sehe womöglich wie ein Funktionär aus, ein Empfangsherr mit guten Manieren und trainierter Zurückhaltung. In Wahrheit bin ich nur etwas nervös.
Alle müssen an mir vorbei, außerdem habe ich von hier aus einen guten Überblick auf den Saal. Ich beobachte das Geschehen, nehme wahr, wie die Leute hereinkommen, auf welche Art sie es tun. Manche setzen nur zögernd, fast ängstlich, einen Fuß vor den anderen, manche verbeugen sich respektvoll, nicht vor jemand Bestimmtem, sondern vor der Versammlung. Andere treten selbstsicher und forsch auf, ohne sich auch nur umzusehen. Wieder andere geben sich förmlich, sie tragen eine Art Panzer vor sich her, sodass niemand es wagt, ihnen entgegenzutreten, sie anzusprechen. Nicht einmal ich, obwohl dies meiner Funktion entspräche. Solche Leute lasse ich an mir vorbeigehen, ohne mich aufzudrängen.
Ich bemerke, welchen Stuhl jemand auslässt, welchen er für sich wählt. Es wird erkennbar, manche Sitzplätze sind begehrt, andere nicht, bestimmte Plätze bleiben frei, bis zuletzt. Obwohl es keine Bedeutung hat, entgeht mir nicht, wer den Raum verlässt, um zur Toilette zu gehen. Damen, die nach draußen gegangen sind, um sich, nachdem sie sich befreit haben, Lippenstift aufzutragen, werden von mir genauso registriert wie Herren, die noch vor Eintritt in das Gebäude eine Zigarette geraucht haben.
Es ist ein Kommen und Gehen, und je länger ich hier stehe, desto mehr Gefallen finde ich daran. Denn der Saal ist allmählich gut gefüllt, um nicht zu sagen gesteckt voll, was mich für dich sehr freut. Ein Aufgebot zu deinen Ehren. Du siehst, es sind so viele gekommen, dass nicht augenfällig wird, wer fehlt. Genugtuung finde ich auch daran, da und dort Hände prominenter Bekannter aus der Kulturszene zu schütteln; wenn Freunde eintreffen, ist mir dasselbe ein regelrechtes Vergnügen.
Man wartet auf den Gong und vergnügt sich einstweilen. Es werden Befindlichkeiten ausgetauscht, da und dort sogar, wie es scheint, richtige Gespräche geführt. Angeregte Unterhaltungen ringsum, Stimmengewirr, das zur Decke aufsteigt. Die Bühne ist leer, aber einladend beleuchtet. Mehrere Spots werfen von oben klares, dennoch warmes Licht herab. In der Mitte des Podiums steht ein schlichter Holztisch, ein dazu passender Stuhl, auf dem Tisch eine Leuchte, die schon eingeschaltet ist. So strahlt das Podium Erwartung aus.
Horst hat alles vorbereitet, trotzdem steht er an der seitlich postierten Kamera, wie um sie zu bewachen. Er dreht das Objektiv einmal nach links, einmal nach rechts und macht ein paar weitere Probeaufnahmen. Bei der Kamera handelt es sich um ein kleineres Format, das nicht auf den wuchtigen Steher passt, doch Horst sagt, für den Zweck sei das Ding perfekt geeignet, alles andere wäre lächerlich.
Mirjam sitzt in der ersten Reihe, nur ein paar Meter von Horst entfernt, daneben ihre Mutter mit Lena auf den Knien. Wally ist intensiv mit dem Kind beschäftigt, Schnuller hinein, Schnuller heraus, Sitzposition mit dem Gesicht zur Großmama, Sitzposition mit Freiblick zur Bühne. Das Kind ist übermütig, lacht und patscht mit seinen Händchen in Wallys Gesicht, was diese ambivalent aufnimmt. Horst zwinkert seiner Lena zu, Mirjam hebt die Hand und winkt in seine Richtung, es wirkt eher automatisch, jedenfalls geistesabwesend, denn allem Anschein nach ist sie mit ihrer Mutter in eine Plauderei vertieft.
Hinter den beiden Frauen und Lena, etwas weiter am Rand der Stuhlreihe, sitzen David und seine Frau. Ich habe vorhin ihre Hände geschüttelt. David hat Rita, eine Italienerin, als seine frisch Vermählte vorgestellt, sie sind erst seit einem halben Jahr verheiratet. David wirkt sehr entspannt und Rita sieht sympathisch aus, du wirst sie mögen. In der dritten Reihe, Mitte, sitzt Svea, die zwar mit Wally, Mirjam und Lena angekommen, aber bald darauf von einem Schweizer Schriftsteller, von dem ich dir erzählt habe, in Beschlag genommen worden ist. Die beiden sitzen dicht beieinander, Schulter an Schulter, wie alte Freunde. Sie scheinen sich prächtig zu verstehen. Svea sieht heute Abend, wie ich finde, ausnehmend schön aus, sie trägt ein Strahlen vor sich her und das eng anliegende dunkle Kleid steht ihr ausgezeichnet.
Weiter hinten, unter der Palme, die nicht wirklich in diesen Raum passt, hat Hanna Platz genommen. Sie ist mit zwei Kolleginnen angereist, Gertrud und Diana. Die nicht mehr ganz junge, resolut wirkende Gertrud leitet, wie ich höre, das Frauenhaus, in dem Hanna immer noch arbeitet. Diana, eine Serbin, wie Hanna sie vorgestellt hat, mag ebenfalls etwas mit dieser Einrichtung zu tun haben; was genau, ist mir entgangen. Diana ist groß, schlank und sehr blond, eine eindrucksvolle Erscheinung, Wassily hat sich gleich auf sie gestürzt und sie in ein Gespräch verwickelt, während er Hanna eher nüchtern begrüßt und dann links liegen gelassen hat.
Wassily ist, wenn es um Frauen geht, ein Tölpel und überaus egoistisch. Dass ich regelmäßig mit ihm zu tun habe und ihn engagiere, wenn ich an einem Filmprojekt arbeite, ist vermutlich nichts als eine alte Gewohnheit, Wassily ist ein passabler, keineswegs herausragender Tonmeister. Weshalb ich den Mann aber auch noch gut leiden kann, verstehe ich selbst nicht ganz. Es liegt wohl an seiner politischen Klarsicht, die ich schätze und die in Gesprächen immer dann aufblitzt, wenn er nüchtern und nicht gerade dabei ist, eine Frau erobern zu wollen. Angesichts schöner Frauen wird aus Wassily ein schlampiger, nicht selten unverschämter Dummkopf, und das liegt gewiss nicht an den Frauen, sondern einzig an ihm selbst.
Wassily hin oder her, Hanna, die mit ihm zu guter Letzt doch noch eine Affäre hatte, scheint ihm nicht nachzuweinen, sie ist gegenwärtig offenbar von Gertrud in Beschlag genommen; wann immer ich hinsehe, greift Gertrud, scheinbar beiläufig, nach Hannas Hand und drückt sie an ihre Brust, was mit einem Lächeln besiegelt wird. Die beiden haben ein inniges Verhältnis, das sieht man gleich.
Just in dem Moment, als meine Kollegen vom Film eingetroffen sind, in fröhlicher Gruppe, ist auch Julia in der Tür gestanden. Ich habe auf der Stelle von den Kollegen abgelassen und bin auf sie zugegangen. Julia, die ich zuletzt in Erinnerung behalten habe als eine vitale Frau mit einem monströs schweren Motorrad, schön, hager, mit einer unentwegt hin und her fliegenden blonden Mähne. Julia, die ich ursprünglich kennengelernt habe als eine zwar kluge und im Grunde lebenslustige, aber allzu sehnsüchtig auf David wartende Frau mit wenig eigener Kontur. Diese Julia ist für mich die Überraschung des Abends. In drei Jahren, so lange haben wir uns nicht gesehen, ist aus ihr eine reife Frau geworden, äußerlich nicht auffallend, wenn man einmal von dem kurz geschnittenen Haar absieht, von ihrem Wesen her aber besonders, eher zurückhaltend, doch offensichtlich mit Lebenserfahrung und einem Wissen, das nur wenige haben, ausgestattet. Julia, deren Hand beim Eintreten in der Hand eines nicht mehr ganz jungen Afrikaners liegt, gerade so, als würde sie immer dort liegen, löst sich von ihrem Begleiter und umarmt mich. Kein Feuerstuhl mehr, sagt sie als Erstes, sie sagt es mir ins Ohr. Dann wohl ein anderes Feuer, antworte ich und schüttle Benjamin die Hand, ahnend, dass aus dieser Begegnung noch etwas Außergewöhnliches entstehen könnte. Die beiden leben nach wie vor im Senegal, gemeinsam mit Julias Sohn Jakob.
Wenn ich so um mich sehe, ist das Publikum komplett. Nur wenige Stühle sind noch frei. Die Kollegen vom Film stehen in Fensternähe, sie haben sich Stühle reserviert, unterhalten sich aber im Stehen. Ich habe sie wegen Julia vernachlässigt, jetzt befinden sie sich am anderen Ende des Saales, aber das macht nichts. Ich habe es übrigens auch verabsäumt, die Kulturrätin zu begrüßen, ich sehe gerade jetzt, wie sie dir die Hand schüttelt. Deinen Freund, den britischen Botschafter, habe ich übersehen; keine Ahnung, wann er gekommen ist, jetzt sitzt er in der ersten Reihe neben Wally und reagiert lachend auf die kleine Lena, die auf Großmutters Knien auf und nieder hopst. Und dann sind da noch ein paar andere Bekannte, auch sie hätte ich gern begrüßt. Kümmere dich allem voran um die Freunde, hast du vorhin in der U-Bahn gesagt und ich habe mich über diese Aufforderung gefreut.
Die Saalfenster sind geöffnet, denn obwohl draußen November ist, ist es hier drinnen stickig geworden. Du hast ein volles Haus, Liebste, es wird dich freuen, deine Nervosität aber eher steigern als vertreiben. Ich suche dich mit meinen Augen, du stehst, etwas verdeckt von einer Gruppe junger Leute, vielleicht Schüler, mit deinem Verleger rechts von der Bühne. Ihr führt eine Unterhaltung und es sieht so aus, als wäret ihr ganz versunken darin, keineswegs abgelenkt von all den Menschen, die doch eigentlich nur auf euch warten. Mein Verleger und ich, hast du neulich gesagt, wir sind in den letzten Wochen tatsächlich zu Partnern geworden.
Was du heute Abend am Leib trägst, überrascht mich, ich habe zu Hause gar nicht darauf geachtet und unterwegs hattest du einen Mantel übergezogen. Über einer schwarzen Hose und einem leichten schwarzen Pullover trägst du die dunkelrote Jacke mit dem schräg verlaufenden Reißverschluss, die ich immer schon apart gefunden habe und die du vor mittlerweile mehr als zehn Jahren auf unserer Asienreise erstanden hast. Die kurze taillierte Jacke, nichts Modisches, nichts Elegantes, wirkt eigenwillig, ich vermute, genau deshalb hast du sie angezogen. Ihr habt mich wieder,...




