E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Wilson Ich bin Brian Wilson
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-7325-3954-3
Verlag: Eichborn
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-7325-3954-3
Verlag: Eichborn
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Brian Wilson ist genialer Musiker, der uns unzählige Welthits wie 'Surfin USA' oder 'Good Vibrations' und das Jahrhundertalbum 'Pet Sounds' geschenkt hat. Der amerikanische Rolling Stone hat ihn unter die 20 wichtigsten Künstler aller Zeiten gewählt. Brian Wilson ist auch ein labiler Mensch, der sich mit Tabletten, Drogen und Alkohol immer wieder in Zonen bewegt hat, aus der man ohne fremde Hilfe nicht heil herauskommt. Viele Jahre verschwand Brian Wilson entmündigt in Kliniken, bis seine zweite Frau ihn sprichwörtlich rettete: Für die Bühne, für neue Musik, für das Vermächtnis des einzigen Überlebenden der Beach Boys. In diesem Buch erzählt er von seinen dunkelsten Stunden, vom Glück einer großen Liebe und warum er noch lange nicht genug hat.
Brian Wilson, geboren 1942 in Kalifornien, ist Mitbegründer der Beach Boys und hat die meisten ihrer großen Hits, darunter Klassiker wie "Surfin' USA", "Good Vibrations" oder "Surfer Girl", geschrieben. Nach längerer Krankheit ist der in zweiter Ehe verheiratete Wilson seit Ende der 90er Jahre wieder verstärkt musikalisch aktiv und gilt heute als einer der großen Legenden der Popmusik - in Würde gealtert, ohne seine musikalischen Ideale zu verraten.
Autoren/Hrsg.
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Ouvertüre
Royal Festival Hall, London, 2004
Es war schwer, und es war leicht. Meistens war es beides zugleich. Mein Freund Danny Hutton hat mit seiner Band Three Dog Night den Song »Easy to be Hard« gecovert, den ich manchmal in Gedanken singe. Darin heißt es: »It’s easy to be hard, it’s easy to be cold.« Jetzt ist es kalt. London im Winter 2004, ich sitze in der Royal Festival Hall und bereite mich auf den Auftritt vor. Einige Songs, die ich singen werde, handeln von Sonne und Strand. Im Augenblick sucht man beides vergeblich. Immerhin gibt es Wasser – die Royal Festival Hall liegt direkt am Fluss –, und in einigen Songs geht es auch darum.
Nach meiner Ankunft bin ich hier ein bisschen rumgelaufen, und jemand hat mir erzählt, dass die Konzerthalle 1949 errichtet und im Herbst 1964 umgebaut wurde. 1964 war ein wichtiges Jahr. In diesem Jahr passierte alles. Die Beach Boys waren auf Welttournee. Im Januar waren wir mit Roy Orbison in Australien, im Juli in allen großen Städten der Vereinigten Staaten. Summer Safari – so hieß die Tournee, und wir traten mit Leuten wie Freddy Cannon oder den Kingsmen auf. Wenn wir nicht auf der Bühne standen, nahmen wir Songs auf: »Fun, Fun, Fun« und »The Warmth of the Sun« am Anfang des Jahres, »Kiss Me, Baby« gegen Ende des Jahres, und dazwischen unzählige andere. Wir veröffentlichten vier Platten – drei Studio-Alben (darunter das Christmas Album) und einen Live-Mitschnitt. Und das alles, nachdem wir schon 1963 rund um die Uhr beschäftigt gewesen waren: drei Album-Veröffentlichungen und das ganze Jahr über auf Tournee.
Heute höre ich mir die alten Sachen nur noch selten an. Aber ich denke oft über sie nach und versuche mir vorzustellen, was mir damals durch den Kopf ging. Das Bild ist nicht immer scharf. Manchmal ist es nur bruchstückhaft. Sich in sein früheres Ich hineinzuversetzen, ist gar nicht so leicht. Im Lauf der Jahre habe ich neue Sachen gespielt, und ich habe alte Sachen gespielt. In der Royal Festival Hall habe ich beides gespielt: 2002 war ich mit meiner Band hier und habe das gesamte Pet Sounds-Album aufgeführt. Den Leuten hat’s gefallen. Es war Sommer. Aber heute Abend ist es anders. Seit Monaten habe ich Angst vor diesem Abend, seit Jahren habe ich ihn mir vorgestellt. Heute Abend werden wir in der zweiten Konzerthälfte SMiLE aufführen, das Beach-Boys-Album, das es nie gab. Welcher Teufel hat mich bloß geritten? Wieso habe ich das jemals für eine gute Idee gehalten? SMiLE sollte Mitte der 1960er als Nachfolgealbum von Pet Sounds herauskommen. Aber aus verschiedenen Gründen wurde nichts daraus. Aus allen erdenklichen Gründen wurde nichts daraus. Einige Songs, die auf SMiLE erscheinen sollten, wurden im Lauf der Jahre auf anderen Platten veröffentlicht, aber das eigentliche Album ging unter und tauchte erst Jahrzehnte später wieder auf. Irgendwann habe ich es mir noch mal vorgenommen und fertiggestellt. Mit über sechzig habe ich geschafft, was ich mit zwanzig nicht hinbekommen konnte. Und das hat mich nun nach London geführt.
Ich sitze in der Konzerthalle. Alle sind mit letzten Vorbereitungen beschäftigt. Was hat mich nach London geführt? Es fällt mir schwer, meine Gedanken zu ordnen. Hier laufen so viele Menschen, so viele Musiker herum. Ich höre, wie sie ihre Instrumente stimmen und Licks austauschen, aber ich höre sie auch reden, die Musiker hier und die Musiker aus der Vergangenheit. Ich höre Chuck Berry, der als einer der Ersten aus Boogie-Woogie Rock’n’Roll entwickelte. Was hätte Chuck von den vielen Streichern und Bläsern gehalten? Vermutlich hätte er eine x-beliebige Band engagiert, wäre mit ihr auf die Bühne marschiert und hätte die Streicher und Bläser ignoriert. Ich höre Phil Spector, der in den 1950er und frühen 1960er Jahren hinter jeder großartigen Platte stand. Phils Stimme macht mir Angst, immer fordert sie mich heraus, immer erinnert sie mich daran, dass er zuerst da war. »Wilson«, höre ich ihn in meinem Kopf sagen, »du wirst ›You’ve Lost That Lovin’ Feeling‹ oder ›Be My Baby‹ niemals toppen, also versuch’s gar nicht erst.« Aber vielleicht will er, dass ich es wenigstens versuche. Mit ihm ist es nie ganz einfach, schon gar nicht, wenn er in meinem Kopf herumspukt. Einfachheit war nie sein Ding. Einige behaupten, wir hätten Pet Sounds ihm zu Ehren so benannt: Sehen Sie sich mal die Anfangsbuchstaben an.
In meinem Kopf höre ich auch meinen Vater. Seine Stimme ist lauter als die anderen: »Was ist mit dir los, Junge? Hast du keinen Mumm? Warum so viele Musiker? Für Rock’n’Roll braucht man zwei Gitarren, Bass und Schlagzeug. Alles andere ist nur fürs Ego.«
Sobald ich die Stimmen höre, versuche ich, sie auszublenden. Ich versuche, ein Gefühl für den Raum zu entwickeln und mir vorzustellen, wie die Songs darin lebendig werden könnten. Außerdem versuche ich ein Gefühl dafür zu entwickeln, wo ich hineinpasse. Mit den Beach Boys bin ich nie gern auf die Bühne gegangen. Die Leute haben geschrieben, ich würde steif wirken. Sie schrieben, ich hätte Lampenfieber. Ein merkwürdiger Ausdruck. Ich hatte schließlich kein Fieber. Ich hatte Angst vor den vielen Augen, die mich beobachteten, hatte Angst vor den Lichtern, hatte Angst, alle zu enttäuschen. Im Studio konnte ich viele Erwartungen erfüllen, aber auf der Bühne erwarten die Leute etwas anderes. Wenn das Publikum mitgeht, ist es wie eine Welle, auf der man reitet. Ein fantastisches Gefühl. Aber manchmal erlebt man das Publikum auch als eine Welle, die einen unter sich begräbt.
Neben Chuck Berry, Phil Spector und meinem Vater höre ich noch andere Stimmen. Die sind wesentlich schlimmer. Sie sagen schreckliche Sachen über meine Musik. Deine Musik taugt rein gar nichts, Brian. An die Arbeit, Brian. Du bist auf dem absteigenden Ast, Brian. Manchmal lassen sie meine Musik außen vor und greifen mich direkt an. Jetzt bist du dran, Brian. Du bist erledigt, Brian. Wir werden dich töten, Brian. Die Stimmen klingen wie niemand, den ich kenne, aber sie sind mir dennoch vertraut. Mit Anfang zwanzig habe ich sie zum ersten Mal gehört. Ich habe sie oft gehört, und wenn sie einmal ausblieben, hatte ich Angst, sie würden bald wiederkommen.
Mein ganzes Leben habe ich nach einem Weg gesucht, mit ihnen fertigzuwerden. Ich habe versucht, sie zu ignorieren. Das hat nicht funktioniert. Ich habe versucht, sie mit Alkohol und Drogen zu vertreiben. Das hat nicht funktioniert. Man hat mir alle möglichen Medikamente gegeben, und wenn es, wie so oft, die falschen waren, hat es ebenfalls nicht funktioniert. Ich habe alle möglichen Therapien ausprobiert. Einige waren furchtbar und hätten mich beinahe erledigt. Andere waren gut und haben mich stärker gemacht. Letzten Endes musste ich lernen, mit der Krankheit zu leben. Wissen Sie, wie das ist, wenn man jeden Tag seines Lebens dagegen ankämpfen muss? Ich hoffe, nicht. Aber viele Leute wissen, wie das ist, oder kennen einen, der es weiß. Jeder, der mich kennt, kennt einen. Unzählige Menschen auf diesem Planeten müssen mit einer psychischen Krankheit fertigwerden. Das ist mir im Lauf der Jahre klar geworden, und dadurch fühle ich mich nicht mehr so allein. Es ist ein Teil meines Lebens. Kein Weg führt daran vorbei. Meine Geschichte handelt von Musik, Familie und Liebe, aber auch von psychischer Krankheit.
London ist ein Teil der Geschichte. Die Stadt ist meine spirituelle Heimat. Das Londoner Publikum weiß meine Musik besonders zu schätzen. Auch das SMiLE-Konzert spielt in der Geschichte eine Rolle. Dadurch konnte ich etwas in die Gegenwart holen, das sonst für immer der Vergangenheit angehört hätte. Zur Beruhigung meditiere ich, bis ich in der Musik drin bin. Musik ist der Schlüssel. Musik trägt das, was in mir ist, in die Welt hinaus. Sie ist mein Mittel, den Leuten das zu zeigen, was ich ihnen sonst nicht zeigen kann. Music is in my soul – das habe ich vor langer Zeit mal geschrieben. Es ist einer meiner besten Texte.
Mir fällt wieder ein, woran ich gerade gedacht habe: an die Vergangenheit. SMiLE aus der Versenkung zu holen, betrifft die Vergangenheit und die Gegenwart. Weil wir das Album damals nicht fertiggestellt haben, blieb auch ein Teil von mir unvollendet. Können Sie sich vorstellen, wie das ist, sein Meisterwerk vierzig Jahre lang in einer Schublade wegzuschließen? Die Schublade hat sich nur langsam geöffnet. Sie hat sich ein bisschen geöffnet, als ich auf einer Weihnachtsfeier bei Scott Bennett »Heroes and Villains« am Klavier spielte, und ein bisschen weiter, als David Leaf mich gebeten hat, das Stück beim Tribute-Konzert in der Radio City Music Hall zu spielen. Darian Sahanaja hat sie schließlich fast ganz aufgezogen. Darian ist Sänger und Songwriter, genau wie ich, nur viel jünger. Er steht auf die Musik, die wir früher gemacht haben, und hat einen frischen Blick darauf. Er spielt Keyboard in meiner Band und ist für mich so etwas wie ein Musikminister. Beim Konzert in der Radio City Music Hall, ein paar Monate nach der Weihnachtsfeier, interpretierten andere Sänger wie Paul Simon, Billy Joel, Vince Gill und Elton John meine Songs. Die großen Hits waren darunter, aber auch zwei Stücke, die wir für SMiLE aufgenommen hatten und die nun so dargeboten wurden, wie wir es uns damals vorgestellt hatten. Vince Gill, Jimmy Webb und David Cosby spielten »Surf’s Up«, und das Publikum spendete ihnen – und dem Song – ein paar Minuten lang stehenden Beifall. Ich konnte es...




