E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Wilson Hier gibt’s nix zu sehen
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-641-26818-3
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-641-26818-3
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Lillian und Madison waren ungleiche und doch unzertrennliche Freundinnen im Elite-Internat Iron Mountain – bis Lillian nach einem Skandal unerwartet die Schule verlassen musste. Seitdem haben sie kaum voneinander gehört. Doch jetzt braucht Madison Hilfe: Ihre Zwillingsstiefkinder sollen bei der Familie einziehen, und Madison möchte, dass Lillian sich um die beiden kümmert. Der Haken: Die Kinder gehen spontan in Flammen auf, wenn sie aufgeregt sind. Im Laufe eines schwülen, anstrengenden Sommers lernen Lillian und die Zwillinge, einander zu vertrauen – und cool zu bleiben. Überrascht von den eigenen intensiven Gefühlen und ihrem erwachenden Beschützerinstinkt bemerkt Lillian, dass sie die seltsamen Kinder genauso dringend braucht, wie diese sie brauchen.
Mit scharfzüngigem Witz, viel Herz und bestechender Zartheit erzählt Kevin Wilson eine höchst ungewöhnliche Geschichte über elterliche Liebe und Kinder mit bemerkenswerten Fähigkeiten.
Kevin Wilson begann mit dem Schreiben, weil er einsam war und glaubte, sobald er gute Geschichten schrieb, würde er unwiderstehlich werden. Heute lebt er mit seiner Frau Leigh Anne Couch und ihrem gemeinsamen Sohn Griff in Tennessee, wo Wilson geboren und aufgewachsen ist. Er unterrichtet Kreatives Schreiben an der University of the South. Seine Erzählungen und sein Roman "Die gesammelten Peinlichkeiten unserer Eltern in der Reihenfolge ihrer Erstaufführung" begeisterten Kritiker wie Leser.
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EINS Im Frühjahr 1995, wenige Wochen nach meinem achtundzwanzigsten Geburtstag, erhielt ich eine Nachricht von meiner Freundin Madison Roberts. Für mich war sie damals eigentlich immer noch Madison Billings. Vier- oder fünfmal im Jahr schrieb sie mir, wie es ihr ging, schickte mir Briefe, die sich lasen, als kämen sie vom Mond. Ihren Lifestyle findet man gewöhnlich nur in Zeitschriften. Sie war mit einem Senator verheiratet, der älter war als sie, und sie hatte mit ihm einen kleinen Sohn, den sie in Matrosenanzüge steckte, in denen er wie ein kostspieliger, lebendiger Teddybär aussah. Ich hatte damals zwei Jobs, jeweils als Kassiererin bei konkurrierenden Lebensmittelketten, rauchte Gras und hauste bei meiner Mutter auf dem Dachboden. Aus meinem Kinderzimmer hatte sie einen Fitnessraum gemacht, kaum dass ich achtzehn geworden war. Ein riesiger Crosstrainer stand dort, wo ich meine unglückliche Kindheit verbracht hatte. Von Zeit zu Zeit ging ich mit einem Jungen, der mir nicht das Wasser reichen konnte, sich das aber einbildete. Man kann sich vorstellen, dass Madisons Briefe an mich hundertmal interessanter waren als meine an sie, aber sie ließ unseren Kontakt nicht abreißen. Jene Nachricht im Frühling unterbrach den vorhersehbaren Rhythmus unserer Korrespondenz. Stutzig hat mich das jedoch nicht gemacht. Madison und ich schrieben uns übrigens nur auf Papier. Ich besaß noch nicht einmal ihre Telefonnummer.
Während meiner Pause im Save-a-Lot hatte ich zum ersten Mal Gelegenheit, ihren Brief zu lesen. Sie forderte mich auf, zu ihr nach Franklin, Tennessee, zu kommen. Sie hatte einen interessanten Job für mich. Fünfzig Dollar für das Busticket waren beigefügt. Sie wusste, dass mein Auto Entfernungen von über fünfundzwanzig Kilometer nicht mehr schaffte. Um was es sich genau handelte, verriet sie nicht, aber es konnte kaum schlimmer sein, als sich mit den Lebensmittelmarken des Hilfsprogramms für Bedürftige herumzuschlagen oder die verdammte Waage zu überreden, gammelige Äpfel richtig zu wiegen. In den letzten fünf Minuten meiner Pause fragte ich also meinen Chef Derek, ob ich ein paar Tage freihaben kann. Dass er ablehnen würde, war mir klar, aber sauer war ich darüber nicht. Ich war weit davon entfernt, eine gewissenhafte Arbeitskraft zu sein. Es war schwierig, zwei Jobs gleichzeitig zu haben, weil ich meine Chefs zu unterschiedlichen Zeiten enttäuschte und manchmal den Überblick verlor, in welchem Laden ich gerade besonders viel verbockt hatte. Meine Gedanken wanderten zu Madison, der wohl schönsten Frau, die mir jemals im Leben begegnet war. Sie war unheimlich intelligent und sah in allen Lebenslagen immer die Chancen. Wenn sie einen Job für mich hatte, würde ich ihn annehmen. Den Dachboden bei meiner Mutter würde ich aufgeben und mein ganzes Leben komplett entsorgen. Wenn ich ehrlich war, viel würde mir nicht fehlen.
Eine Woche nachdem ich Madison meinen Ankunftstermin geschrieben hatte, wartete ein Mann im Busbahnhof von Nashville. Er hatte eine Sonnenbrille auf der Nase und trug ein Polohemd. Mein erster Eindruck war, dass er eine besondere Schwäche für Armbanduhren hatte.
»Lilian Breaker?« Ich nickte. »Mrs. Roberts hat mich beauftragt, Sie abzuholen. Ich heiße Carl.«
»Sind Sie der Fahrer?«, fragte ich. Mich plagte die Neugier. Zu gern hätte ich gewusst, wie reiche Leute wirklich leben. Im Fernsehen hatten sie zum Beispiel alle einen Chauffeur, aber das hielt ich für ein Fantasieprodukt Hollywoods, ohne Entsprechung in der realen Welt.
»Nicht nur. Ich bin gewissermaßen für alles zuständig. Ich helfe Senator Roberts und, wenn erforderlich, auch Mrs. Roberts.«
»Haben Sie eine Ahnung, was ich hier soll?« Ich wusste, wie Bullen redeten, und in meinen Ohren klang Carl wie einer. Da sich meine Begeisterung für Ordnungshüter in Grenzen hielt, wollte ich ihm auf den Zahn fühlen.
»Ich habe eine Vermutung, aber Mrs. Roberts wird selbst mit Ihnen sprechen. Ich gehe davon aus, dass es ihr lieber ist, wenn ich ihr nicht vorgreife.«
»Was für ein Auto fahren Sie? Gehört es Ihnen?«
Nach den Stunden im Bus mit Menschen, die nur trocken gehustet oder merkwürdig geschnüffelt hatten, wollte ich hören, wie meine Stimme im Freien klang.
»Ich fahre einen MX-5 Miata. Er gehört mir. Sind Sie bereit, Ma’am? Kann ich Ihr Gepäck zum Auto bringen?« Carl war eindeutig auf dem Sprung und wollte seinen Auftrag möglichst schnell hinter sich bringen. Er hatte den Polizistentick, Ungeduld mit äußerster Höflichkeit zu tarnen.
»Ich habe kein Gepäck.«
»Wenn Sie mir nun folgen wollen, bringe ich Sie unverzüglich zu Mrs. Roberts.«
Bei seinem Miata angekommen, einer echt heißen Kiste, fast zu klein für die Straße, fragte ich, ob wir ohne Verdeck fahren könnten, aber er meinte, das sei keine gute Idee. Seine Weigerung schien ihm peinlich zu sein, oder vielleicht machte es ihn verlegen, dass ich den Wunsch geäußert hatte. Ich konnte Carl schlecht einordnen, also machte ich es mir im Auto bequem und ließ die Landschaft an mir vorüberziehen.
»Mrs. Roberts sagte mir, Sie seien ihre älteste Freundin«, kam es von Carl, der Konversation machen wollte.
»Das könnte hinkommen«, erwiderte ich. »Wir kennen uns schon eine Weile.«
Ich verkniff mir die Bemerkung, dass Madison vermutlich außer mir keine Freundinnen hatte. Ich kreidete es ihr nicht an. Schließlich hatte ich auch keine. Ich verschwieg ebenfalls, dass ich mich fragte, ob wir überhaupt Freundinnen waren. Was wir einander bedeuteten, war seltsamer. Aber das eignete sich nicht für Carls Ohren, deshalb setzten wir die Fahrt schweigend fort. Aus dem Radio kam sanfte Musik. Bei mir weckte sie den Wunsch, in heißem Badewasser unterzutauchen und davon zu träumen, alle, die ich kannte, umzubringen.
Kennengelernt hatte ich Madison auf einer piekfeinen Mädchenschule, die versteckt auf einem Berg am Ende der Welt lag. Vor hundert Jahren oder vielleicht noch früher waren Männer, die es in dieser Einöde zu Geld gebracht hatten, zu der Erkenntnis gelangt, dass sie eine Schule brauchten, auf der ihre Töchter für die Ehe mit einem reichen Mann vorbereitet wurden, damit sie die gesellschaftliche Leiter hinaufklettern konnten, bis sich niemand mehr an die Zeit erinnerte, als sie noch nicht vorbildlich waren. Man holte sich einen Briten nach Tennessee, und er führte die Schule, als seien die wohlhabenden Töchter Prinzessinnen. Bald schickten wiederum andere reiche Männer aus unfruchtbaren Gegenden ihre Töchter zu ihm. Nachdem sich das oft genug wiederholt hatte, hörten finanzkräftige Leute in richtigen Städten wie New York und Chicago von dieser Schule und begannen, ihre Töchter dort anzumelden. Eine Schule, die so ein Glück hat, kann sich jahrhundertelang auf ihren Lorbeeren ausruhen.
In dem Tal, das zu diesem Berg gehörte, bin ich aufgewachsen, gerade arm genug, um mir vorstellen zu können, von dort abzuhauen. Ich wohnte bei meiner Mutter und ihren ständig wechselnden Verehrern. Mein Vater war entweder tot oder hatte sich aus dem Staub gemacht. Meine Mutter äußerte sich nur vage über ihn, ein Foto von ihm gab es nicht. Als hätte sie ein griechischer Gott in Hengstgestalt geschwängert, bevor er zurück zu seinem Wohnsitz auf dem Olymp galoppiert war. Wahrscheinlicher ist, dass mein Vater nur ein Widerling war, der in einem der feinen Häuser wohnte, wo meine Mutter putzte. Vielleicht ein Stadtrat, den ich mein ganzes Leben gesehen hatte, ohne zu ahnen, wer sich in Wirklichkeit hinter ihm verbarg. Meine Lieblingsfantasie war jedoch, dass mein Vater mich nicht aus meinem Unglück herausholte, weil er nicht mehr lebte.
Die Iron Mountain Girls Preparatory School vergab alljährlich ein oder zwei Unterrichtsstipendien an vielversprechende Mädchen aus dem Tal. Ich war damals verdammt vielversprechend, auch wenn das heute kaum zu glauben ist. In meiner Kindheit hatte ich die Zähne zusammengebissen und war mit dem Kopf durch die Wand, nur damit ich einsame Spitze war. Mit drei Jahren brachte ich mir das Lesen bei, indem ich das, was aus dem kleinen Lautsprecher kam, mit den Wörtern im Bilderbuch verglich. Ich war acht, da machte mich meine Mutter zur Verwalterin unserer Finanzen. Das Bargeld in den Briefumschlägen, mit denen sie abends heimkam, bildete die Grundlage meines Budgets. Von der Schule brachte ich nur Einser nach Hause, anfangs aus dem instinktiven Wunsch heraus, die Beste zu sein, als ahnte ich, was in mir steckte, und müsste meine Grenzen testen. Kaum hatten die Lehrer jedoch durchblicken lassen, dass es ein Stipendium für Iron Mountain gab, konzentrierte ich meine Anstrengungen darauf. Ich hatte natürlich keine Ahnung, dass diese Schule nur eine Art Abzeichen war, das reichen Mädchen auf ihrem Weg in eine vorbestimmte Zukunft angeheftet wurde. In meiner Fantasie war Iron Mountain eine Arena für Amazonen. Bei Rechtschreibewettbewerben brachte ich nun meine Klasse zum Heulen. Ich schrieb ganze wissenschaftliche Arbeiten einfach ab, streute ein paar schwache Stellen ein und sicherte mir so einen Preis bei den Bezirksmeisterschaften. Ich lernte Gedichte der Harlem Renaissance auswendig und trug sie linkisch den Freunden meiner Mutter vor, die mich fortan für einen bösen Geist hielten, der in Zungen redete. Weil es kein Basketball-Mädchenteam gab, spielte ich als Point Guard in der Elitemannschaft der Jungen. Die Einwohner meiner Stadt betrachteten mich mit Wohlwollen, ob sie arm waren oder zur Mittelschicht, insbesondere zur oberen Mittelschicht, gehörten, als fänden mich alle gut, mich, das Paradepferd unseres kleinen, hinter dem Mond gelegenen Landkreises. Zu Großem war ich nicht auserkoren, das war mir klar, aber ich versuchte, Leute...