E-Book, Deutsch, Band 1, 368 Seiten
Wilson Ein Mädchen namens Owl
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-96826-702-9
Verlag: Von Hacht Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 1, 368 Seiten
Reihe: Die Abenteuer der Tochter des Winters
ISBN: 978-3-96826-702-9
Verlag: Von Hacht Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sylke Hachmeister arbeitete nach ihrem Studium der Publizistik, Anglistik und Soziologie in Münster einige Jahre als Lektorin in einem Hamburger Kinderbuchverlag, bevor sie sich als Übersetzerin selbstständig machte. Sie lebt mit ihrer Familie bei Köln.
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5
Als ich aufwache, ist es dunkel, und meine Mutter hält nicht so viel vom Heizen, deshalb ist es eiskalt in der Wohnung. Noch im Bett ziehe ich mir dicke Socken an und setze eine Mütze auf, dann mummele ich mich in meine Decke ein und wanke zum Fenster hinüber.
Es war eine Nacht voller Träume. Von heulenden Wölfen und von blauen Fingern, die Eis auf Fenster malen. Von schneebedeckten Bergen und Alberics seltsamen kupferfarbenen Augen. Und als ich jetzt aus dem Fenster schaue, scheint die Welt mit mir im Einklang. Wölfe sind zum Glück nicht da, aber alles in der dunklen Straße, jedes Dach, jeder Balken und jeder Baum, ist mit zartem Raureif bedeckt. Die Autos glänzen sauber und weiß unter einem perlmuttschimmernden Himmel, und nur eine einzige Fußspur ist auf den glitzernden Gehwegen zu sehen, auf denen immer noch Herbstlaub liegt, das jetzt eingerollt und steif gefroren ist. Alles ist so still und schön. Durch die Geschichten meiner Mutter hat der Winter für mich wohl schon immer etwas Magisches gehabt. Der ganze Schmutz unter Schnee und Eis verborgen. Alles scheint möglich.
Mein Magen knurrt. Er schreit nach Haferbrei.
Ich schleife die Decke mit in die Küche. Der Wasserkocher läuft schon, und meine Mutter schaut mit abwesendem Blick aus dem Fenster.
»Jetzt ist er richtig da«, sagt sie. »Gestern hat er sich angekündigt, aber dieser Morgen ist wirklich traumhaft, oder?«
»Traumhaft«, sage ich, schlurfe zum Schrank und hole die Haferflocken heraus. Ein paar rieseln auf den Boden. »Aber es wär schon toll, wenn wir eine Mikrowelle hätten. Oder eine Heizung.«
»Die Heizung ist an, und warte, ich koche den Haferbrei.« Sie nimmt mir die Haferflocken aus der Hand. »Kümmer du dich um den Tee. Konntest du keinen Pulli finden? Mit der Decke ist es ein bisschen umständlich, oder?«
»Das geht schon«, sage ich, wickle sie fest um mich herum und mache mich daran, Becher und Milch zu holen. »Gemütlich.«
»Das meiste ist ja Einbildung«, sagt sie. »Man fängt an zu zittern, dann verkrampft sich der Körper, und selbst wenn man eigentlich gar nicht friert, denkt man, man würde frieren.«
»Mir ist aber wirklich körperlich kalt«, sage ich und gieße kochendes Wasser über die Teebeutel. Was wäre wohl, wenn meine Mutter je meine vereisten Hände sähe? War das echt? Könnte es noch mal passieren, einfach so?
»Mensch, Owl, du verbrühst dich noch«, schimpft sie und kommt herbei, als ich mühsam die Decke hochhalte, während ich den Tee umrühre. »Gib mal her.« Sie zieht mir die Decke weg.
»Hey!« Vor Schreck lasse ich den Löffel fallen. Meine Mutter legt die Decke über die Stuhllehne und wendet sich wieder dem Haferbrei zu. Dabei sagt sie irgendetwas, was ich nicht mehr höre, denn meine Haut bringt mich um – sie spannt sich, und etwas Blasses, Glitzerndes überzieht meine Fingerspitzen bis hoch zur Schulter. Es kringelt sich in meinem Nacken und wandert dann über die Kopfhaut, wie Sehnen aus Stahl, die mich einwickeln. Ich schaue zu meiner Mutter, ohne zu atmen, ohne mich zu rühren. Es passiert. Genau jetzt. Fast als hätte ich es vorausgesehen. Was soll ich tun? Sie rufen? Weglaufen? Stocksteif stehen bleiben, bis es vorübergeht? Geht es überhaupt vorüber? Was ist das?
Um mich herum wird es dunkler in der Küche, und es ist, als wäre die Zeit stehen geblieben, als wäre ich an einem anderen Ort gefangen, an dem alles größer wirkt. Ich sehe Risse in den Bodenfliesen, die mir noch nie aufgefallen sind, die Bleistiftmarkierungen an der Wand, wo wir mich über die Jahre gemessen haben. Der Haferbrei blubbert und spritzt, eine Geräuschlawine, die mich zu ersticken droht, und meine Mutter steht einfach da, in unserer normalen Küche und unserer normalen Welt, und gestikuliert mit dem Löffel, während sie redet, aber wenn sie sich umdrehen würde … was würde sie dann sehen? Würde sie schreien? Ich stelle mir vor, wie ihr der Löffel aus der Hand fällt, wie der Haferbrei überkocht, ihre Augen sich weiten vor Angst und Schreck. Und es gäbe kein Zurück. Wenn sie das hier sähe, wäre nichts je wieder normal. Ich schaue auf meine Arme, in der Hoffnung, dass ich es mir nur eingebildet habe, überwältigt vom Erblühen des Winters. Doch da breiten sich Kristalle wie Blumen über meine Unterarme aus.
Sie sind wunderschön.
Sie sind der reine Wahnsinn.
Ich reiße die Decke vom Stuhl, werfe sie über und flüchte in mein Zimmer. Ich mache die Tür zu, lehne mich dagegen, und ein heißes Schluchzen entfährt mir.
Langsam lasse ich die Decke sinken, atme tief durch und schaue ängstlich an mir hinab. Meine Haut ist wieder normal. Normal und kalt, ich habe Gänsehaut. Ich setze mich aufs Bett.
Was war das?
Es sah aus wie Raureif. War es Raureif? Aber wie kann Raureif einfach so auf meiner Haut entstehen? So etwas gibt es doch garantiert nicht – oder ist es jemals in der Geschichte der Menschheit jemandem gelungen, sich selbst zu gefrieren? Davon habe ich noch nie gehört. Es ist unmöglich.
»Das ist wie in Mums Märchen«, sage ich zu der Eule auf dem Bettpfosten. Der Gedanke gefällt mir nicht.
»Bescheuert«, sage ich laut.
Die Eule sieht mich mit ihren runden Holzaugen unheilvoll an, das ist alles andere als beruhigend.
»Owl? Kommst du?«, ruft meine Mutter.
»Ja«, antworte ich und schnappe mir meinen dicksten Pullover.
»Ich hab es mir bloß eingebildet«, sage ich zu der Eule. »So etwas kann gar nicht passieren. Oder?«
Die Eule blinzelt mit einem leisen Klacken.
Ich zucke zurück, mir stockt der Atem. Langsam und schaudernd beuge ich mich wieder vor.
»Hast du gerade geblinzelt?«, flüstere ich.
Sie antwortet nicht. Logisch. Ich starre sie an, bis mir die Augen wehtun und mir schwindelig wird. Dann atme ich auf. Die Eule bewegt sich nicht, sie macht gar nichts. Sie ist aus Holz, verdammt! Meine Mutter ruft mich noch mal, und ich gehe zurück in die Küche. Ich werde nicht weiter darüber nachdenken. Ich werde überhaupt nicht nachdenken.
Und wenn meine Mutter merkt, dass irgendwas nicht stimmt, werde ich ein paar vernünftige Antworten über meinen Vater verlangen. Damit nehme ich ihr den Wind aus den Segeln.
Zum Glück ist meine Mutter von ihrem neuen Projekt immer noch ziemlich beansprucht, sodass ich nach dem Haferbrei fünf Minuten im Internet recherchieren kann, wobei ich die völlig normale, reglose Holzeule im Auge behalte. Der Tag hat gerade erst angefangen, trotzdem kommt es mir vor, als hätte ich heute schon tausend Jahre hinter mir. Gefrorene Haut, zwinkernde Eulen – was kommt noch alles?
Mensch mit Raureif auf Haut: nur lauter Informationen über Erfrierungen, darunter ein paar echt abstoßende Fotos von Füßen.
Gefrorener Mensch: alles über Kryonik und wie man Menschen einfriert, um sie wieder zum Leben zu erwecken.
Raureif auf Haut: ein paar schräge Schönheitskuren und irgendwas über urämischen Frost, der mit einem schlimmen Nierenleiden zu tun hat. Deshalb gucke ich unter »Nierenleiden« und stelle fest, dass ich das nicht habe: Dann wäre ich richtig krank und hätte noch andere Symptome.
Mir geht es gut.
Und im Moment ist der Raureif auch gar nicht da. Falls es überhaupt Raureif war. Was ja gar nicht sein kann, denn so etwas gibt es bei Menschen nicht.
Als ich in der Schule ankomme, habe ich keine Lust, mich mit irgendwas anderem zu beschäftigen. Es gelingt mir so gerade noch, den ganzen Vormittag Mallorys besorgte Blicke und die Gegenwart des merkwürdigen Alberic über mich ergehen zu lassen. Ich schaue angestrengt in meine Bücher, höre so gut zu wie noch nie und schaffe es dann, dass wir in der Mittagspause mit Conor am Tisch sitzen, was eine private Unterhaltung unmöglich macht; er versucht die ganze Zeit, Mallory Chips zu klauen, und lästert über Alberic, der zum Glück nirgends in Sicht ist.
»Der Typ ist echt nicht normal«, sagt er, als hätten Mallory und ich danach gefragt. »Redet mit keinem, hängt nur alleine rum, dazu dieser irre Blick. Bestimmt hat er irgendwas Krankes angestellt und musste deshalb die Schule wechseln.«
»Zum Beispiel?«, fragt jemand.
»Was weiß ich«, sagt Conor und wirft die Haare zurück. »Vielleicht hat er die Sezierfrösche gefuttert oder so.«
Igitt. Ich höre weg und versuche mein Thunfisch-Sandwich zu essen. Auf einmal schmeckt es eklig und irgendwie froschig.
»Owl«, sagt Mallory schließlich. Sie hat mich auf dem Weg zu Erdkunde abgefangen. »Was hast du denn?«
»Mir geht’s gut«, sage ich lächelnd.
»Ich glaub dir kein Wort. Was ist los? Hast du deine Mutter nach deinem Vater gefragt? Hat sie dir was erzählt?«
»Zweimal nein.«
Bei den Spinden drängt sie mich mit entschlossener Miene in die Ecke. Mallory ist klein, einen Kopf kleiner als ich. Sie hat die braunen Haare ordentlich zurückgebunden. Ihre Schuluniform ist immer makellos, im Gegensatz zu meiner.
»Mallory!«
»Ich mache mir Sorgen. Du bist so anders.«
Ich spüre, wie sich meine Verwirrung über alles in meinem Kopf anstaut, während Mallory mich besorgt ansieht. Aber das ist ja kein normales Problem, von dem man der besten Freundin erzählt und zu dem sie dann etwas sagt, das einem weiterhilft. Es geht nicht um einen Schwarm oder einen Streit mit der Mutter. Was könnte sie schon dazu sagen? Was könnte sie tun?
»Bitte, Owl …«
»Du würdest mich für verrückt halten. Außerdem ist ja auch gar nichts.«
Sie zuckt mit den Schultern. »Dann erzähl mir von dem Garnichts. Sei verrückt. Kein Problem. Dann weiß ich es wenigstens.«
»Nicht hier«, sage ich, als...