Wilm | Winterjahrbuch | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 456 Seiten

Wilm Winterjahrbuch

Roman

E-Book, Deutsch, 456 Seiten

ISBN: 978-3-7317-6166-2
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Er ist ein fremder Gast unter Palmen, am Meer, in einer Stadt, in der immer die Sonne scheint, und das ist sein Unglück. Jan Wilm ist ein perspektivloser Philologe, der aus dem deutschen Wissenschaftsbetrieb ausgeschieden ist und - um die Arbeitslosigkeit hinauszuzögern - ein fremdfinanziertes Forschungsjahr in Los Angeles verbringt. Der Gegenstand seiner Untersuchung ist - ausgerechnet in Kalifornien - Schnee. Wilm soll durch die Jahreszeiten hinweg den Nachlass des verschollenen Schnee-Fotografen Gabriel Gordon Blackshaw (*1898 ?1950) sichten. Doch wie ein Buch über Schnee schreiben an einem Ort, an dem es nie schneit? Wie eine verlorene Frau vergessen, die einen an die Heimat bindet, weil man sie noch lieben muss und nicht vergessen möchte?Verlust, Selbstverlust, Tod und Verortung in der Welt - wie lässt sich dafür eine Sprache finden, die gleichzeitig archiviert und auslöscht? Jan Wilms Roman unternimmt diesen Versuch. So meisterlich wie neu erweitert er die Möglichkeiten von Literatur, weist eindringlich in die Zukunft und zeigt dabei immer die Schultern der literarischen Riesen, auf denen wir stehen.

Jan Wilm, geboren 1983, ist Schriftsteller und Übersetzer. Unter anderem übertrug er Werke von Maggie Nelson, Arundhati Roy und Frank B. Wilderson III. 2016 erschien das Buch The Slow Philosophy of J. M. Coetzee, 2019 sein Roman Winterjahrbuch. 2019 gab er im Rahmen der Ror Wolf Werke den Supplementband Alles andere später. Über Ror Wolf II heraus und 2022 das Freundschaftsbuch Ror.Wolf.Lesen. Mit Joshua Cohen arbeitet er schon lange zusammen, hat seine Bücher besprochen und ihn als Moderator auf Lesereisen begleitet. Jan Wilm lebt in Frankfurt am Main.
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WHITE CEDAR · THE MOUNTAIN GOATS In Blackshaws Papieren seines schlimmen Jahres steht der Satz: In der Farbe des Schnees liegt Erkenntnis. Der Satz wäre auch übersetzbar mit den Worten: Die Farbe Schnee weiß etwas. Doch was genau weiß sie? Welche Erkenntnis liegt in der Farbe Schnee? Was sagt der Schnee, was seine Farbe weiß – oder verheimlicht sie ihr Wissen? Der Schnee weiß von einer anderen Zeit, in der eine Herkunft beginnt, aus der seine Farbe heraus lautlos zu mir herunterspricht. Allerdings liegt dieser Zeitgehalt des Schnees doch nicht im Wesen seiner Farbe. Auch der Regen ist zeitgesättigt. Aufsteigen des Wassers als Dampf, die Dichtung des Wassers in den Wolken. Dies allein macht den Schnee noch nicht einzigartig. Jedes Wetterphänomen ist ein Träger von Zeit, der Regen, auch der Wind, der ein Reisender ist, und die Sonne, die, anders als Regen, Schnee und Wind, mit jedem Strahl reinste Fremde auf die Erde schickt, jeder Lichtstrahl ein Schuss unüberbrückbare Weite, erdenfremde Ferne. Ich weiß nicht, was Blackshaw mit seinem Satz über die Farbe zu wissen meint. Vielleicht ist es der Eindruck, die Farbe auf diese Weise ausschließlich im Schnee finden zu können, der Eindruck, es gebe kein Weiß, das schneeweißer ist als Schnee. Vielleicht findet er eine Reinheit in der Farbe Schnee, das Weiß am reinsten im Schneekristall und dort zum letzten Mal ohne Ideologie von Reinheit. Doch wenn der Schnee etwas weiß, dann erklärt er es nicht, genau wie Blackshaw. Auch hat der Schnee viele Schattierungen und Abstufungen. Weiß ist eben nicht nur Weiß, sondern eine Farbe, und wie eine Farbe kennt das Weiß Ton und Intensität. Vielleicht ist das Wissen des Schnees aber ein trügerisches Wissen, eben kein Wissen, das der Schnee selbst von sich besitzt, sondern eines, mit dem er seine Leere kaschiert, vielleicht ist dieses Wissen eben eine Lüge. Oder eine Fiktion. Vielleicht liegt es allein in der Idee von Weiß. Würde es weiß vom Himmel regnen, wäre dieser Regen dann auch Schnee? HATE IT HERE · WILCO Ich hatte nicht gewusst, wie regnerisch und windig es in Southern California sein kann, doch oft höre ich nun nachts lauten Frühjahrswind, und bin ich auf der Straße, fliegt mir der Staub der Stadt ins Gesicht und beißt in den Augen, ich brauche keinen Grund für Tränen, thanks. Morgens steckt der Bus jetzt manchmal noch länger im Verkehrssumpf, weil Teile der Freeways wegen Überschwemmungen gesperrt sind, und die Pendler früher und ungeduldiger in die Stadt strömen. Wie traurig sie alle sind, wie einsam, jedes Auto trägt einen Menschen, wie einen Gefangenen, wie ein Herz in einem Körper, die meisten reden mit ihren Smartphones, gebärtete Hipsterbübchen und pferdeschwänzelnde Frauen, die im Automatikauto mit der freien Schalthand ihre Telefone hochhalten, als läge ein Stück Pizza auf ihrer Handfläche, während sie hineinplappern, als hätten sie etwas zu sagen. Man erzählt sich, dass die vielen Verkehrsstaus in der Stadt dadurch verstärkt werden, dass die meisten Autos Automatikgetriebe haben. Denn während ein Fahrzeug mit Schaltgetriebe die Möglichkeit erlaubt, im Leerlauf auf der Straße zu stehen oder im Standgas ganz gemächlich zu rollen, ohne mit dem Bremslicht zu schwänzeln, fährt ein Wagen mit Automatikgetriebe automatisch langsam, aber dezidiert los, sobald die Bremse gelöst wird, und besonders im stockenden Verkehr ist der Fahrzeugführer oder die Fahrzeugführerin fortwährend genötigt, auf die Bremse zu treten, um nicht in den Vorderwagen zu krachen. Dieses plötzliche Bremsen führt für den Wagen dahinter wiederum zu einem kurzen Schreckmoment, Bremssignal ist Bremsbefehl. Auf diese Weise wird ein jedes Bremsen im Stadtstau von LA wie eine Staffelung von Schreckmomenten nach hinten weitergereicht, setzt sich über die geschwungenen Freeways fort bis ins Unendliche, wo der Smog die Sicht verwischt. Ich frage mich häufig, was die Leute alle an ihren Telefonen machen, wenn sie im Verkehr stehen. Mein Telefon behalte ich nun die meiste Zeit über in meiner Hosentasche, wo es meine Zeugungsfähigkeit überwacht, während ich vom Staat überwacht werde, und ich beobachte die Menschen, als säßen sie alle einzeln in kleinen, fahrenden Aquarien, die von einem seltsamen, fremden Wesen beim Alltäglichsten beobachtet werden. Kaum einer schaut jemals zurück in den Bus, der brummend neben ihnen steht. Sie müssen die Beobachtung gewohnt sein, wie die Fische die plattgedrückten Nasen an der Scheibe, sie müssen alle von hier sein, oder perfekt assimiliert, um die fremden Lauerblicke nicht auf sich brennen zu spüren. Mein Beobachten der Menschen von LA ist ein Zeichen meiner Fremdheit an diesem Ort. Wer beobachtet, ist fremd. Künstler, Wissenschaftler, sie sind alle Fremde im Moment ihrer Tätigkeit als Beobachtende. Doch beobachte ich nicht nur, weil ich hier fremd bin. Auch das Busfahren selbst verleitet zur Beobachtung. In die Passivität gedrängt, ist man auf eine andere Weise auf die Stadt und auf die Beobachtung angewiesen, als man es wäre, säße man in seinem eigenen Wagen. Mit einem Wagen würde mir diese Stadt gehören. Ich muss an Blackshaw denken, der einmal schreibt, er habe keinen Führerschein gehabt, und all seine Reisen an die Schneeorte des Kontinents unternahm er mit dem Zug und fotografierte selbst vom Zug aus den Schnee auf fernen Bergen, verschleiernde Fensterspiegelungen inklusive. Ein Beobachter, überall fremd. Selbst in seiner Einsiedlerhütte war er, der fortwährend den Vorhang des weißen Fallens vor seinem Fenster beobachtete, noch ein Fremder. Dennoch, auch das ewige Head-Down ist ein kleiner Moment des Fremdelns, auf seine egologische Weise ein Ausbruchsversuch, ein Mikromoment des Teleportierens. Wo wollen alle diese Menschen hin, die hier in ihren Autos sitzen? Ich genieße es, Bus zu fahren, auch wenn ich dort gerade so einsam bin wie die Autopendler. Aber nein, eigentlich bin ich das nicht, denn ich bin weniger einsam, wenn ich beobachten kann, ich habe eine mir wertvolle Beschäftigung, ich lerne sehen, wie Rilkes Malte im Museum, in meinem Menschenmuseum von LA. Und manchmal, wenn man durch die belaubten, ausscherenden Kurven des UCLA-Campus gefahren ist, und die vielen undokumentierten Arbeitenden in Bel Air ausgestiegen sind, kommt der Bus auf dem Weg zum Getty zur Ruhe, und manchmal kann ich dann ein wenig lesen, nicht viel, aber behutsam, als wollte ich es nicht übertreiben, ein paar Zeilen Lyrik, ein wenig Schnee. Lange konnte – wollte – ich nicht lesen, und ich bezog meine Unlust am Text auf dich, auf wen sonst. Würde es dich eigentlich schmerzen zu wissen, wofür ich dich alles verantwortlich mache? Es entgeht mir nicht, dass meine neuerliche Lust am Lesen ein Zeichen dafür ist, wie weit ich mich schon von dir entfernt habe. Obwohl ich vor mir selbst das Gegenteil behaupte, in meinen Gedanken vehement meine Abhängigkeit beteuere, werden die Gedanken an dich weniger, die Reflexe, die noch vor wenigen Wochen aus Assoziationen Erinnerungen an dich wiederbrachten, werden seltener, fremder. Étrange? Eine Weile schlagen die schwächer werdenden Gedanken an dich noch ein Echo ihres Gegenteils in mir an und vergegenwärtigen mir in einem freien Moment, dass ich nicht an dich denke. Eine Weile schließt sich noch die Schlinge der Schuld, doch ich bemerke, wie mir das immer wiederholte Denken an dich und dich und dich etwas langweilig wird. Die Eintönigkeit des Erinnerns? Gelangweilt vom Leiden? Ich habe bemerkt, wie die Leerstelle schon deutlich gefüllt ist, zugeschüttet mit Interpretation, nicht allein mit Erinnerung. Die Schneebrücke über der Lücke zwischen mir und dir schneit sich zu mit dieser schrecklichen, langsam das Vergessen ansammelnden Trauerarbeit. Lässt es mich noch hoffen, dass ich irgendwann einmal auf dieser Brücke stehen kann, wenn sie makellos und fertig ist, und dass ich dann unversehens in ein neu aufgerissenes, altes Nichts stürzen könnte? Oder langweilt mich auch dieser Gedanke längst? IN THE SUN/THE GALAXY EXPLODES · MEKONS Allerdings ist die Zeit ohne meine Gedanken an dich ebenfalls langweilig. Die Tage sind monoton, ich trinke wieder mehr, verliere mich oft in der Woche, denke mittwochs, es sei Freitag. Nachts wache ich auf und weiß nicht, wo ich bin. Ob es einen Zusammenhang gibt, weiß ich nicht, ich weiß nur, dass ich hier immer noch viel verliere, jeden Tag gehe ich einen Schritt weg von dem, der ich einmal war. Bald wird schon der ärgste Monat gekommen sein. Ich hatte gedacht (gehofft?), mit Liz und Matt vielleicht einmal etwas trinken zu gehen, doch es fällt mir nicht leicht, sie anzusprechen, zu sehr möchte ich vermeiden, ihre Gesichter zu sehen, wenn sie vielleicht ablehnen. Wenn ich sie auf dem Gang von der Toilette zurück in den Reading Room sehe, wenn meine Hände nach Marzipanseife riechen, grüßen sie mich, ohne stehenzubleiben. Einmal redet ein halbglatziger, mittelalter Mann in einer Bar in West Hollywood länger mit mir. Er hat eine kleine Brille mit dicken Gläsern, isst Prosciutto und Oliven mit den Händen und gibt mir zwei doppelte Scotch aus. Auf der Fußstütze des Barhockers sehe ich im Lichtkeil, der immer fällt, wenn sich die Toilettentür öffnet, dass er Schuhe mit Klettverschluss trägt. Ich gucke ihm danach ins Gesicht, als suchte ich dort eine Erklärung für diese Kinderschuhe an den Füßen eines erwachsenen Mannes. Arnold erzählt mir, er designe Spielzeug, worauf ich lache, aber sein Gesicht – die schmalen, fahlen Lippen, die traurigen Augen – alles bleibt ernst. Auf seinem Telefon...


Wilm, Jan
Jan Wilm, geboren 1983, ist Schriftsteller und Übersetzer. Unter anderem übertrug er Werke von Maggie Nelson, Arundhati Roy und Frank B. Wilderson III. 2016 erschien das Buch The Slow Philosophy of J. M. Coetzee, 2019 sein Roman Winterjahrbuch. 2019 gab er im Rahmen der Ror Wolf Werke den Supplementband Alles andere später. Über Ror Wolf II heraus und 2022 das Freundschaftsbuch Ror.Wolf.Lesen. Mit Joshua Cohen arbeitet er schon lange zusammen, hat seine Bücher besprochen und ihn als Moderator auf Lesereisen begleitet. Jan Wilm lebt in Frankfurt am Main.

"Jan Wilm, geboren 1983, studierte Anglistik und Amerikanistik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, wo er mit einer Arbeit über J. M. Coetzee promovierte. Als Literaturwissenschaftler arbeitete er in Darmstadt, Frankfurt und Essen. Er ist Autor, Übersetzer und Literaturkritiker. 2016 erschien von ihm das Buch "The Slow Philosophy of J. M. Coetzee". Wilm lebt in Frankfurt am Main."


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