E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Williams Nichts als die Nacht
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-423-43407-2
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
ISBN: 978-3-423-43407-2
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
John Edward Williams (1922 -1994) wuchs im Nordosten von Texas auf. Er besuchte das örtliche College und arbeitete dann als Journalist. 1942 meldete er sich widerstrebend, jedoch als Freiwilliger zu den United States Army Air Forces und schrieb in der Zeit seines Einsatzes in Burma seinen ersten Roman. Nach dem Krieg ging er nach Denver, 1950 Masterabschluss des Studiums Englische Literatur. Er erhielt zunächst einen Lehrauftrag an der Universität Missouri. 1954 kehrte er zurück an die Universität Denver, wo er bis zu seiner Emeritierung Creative Writing und Englische Literatur lehrte. Williams war vier Mal verheiratet und Vater von drei Kindern. Er verfasste fünf Romane (der letzte blieb unvollendet) und Poesie. John Williams wurde zu Lebzeiten zwar gelesen, erlangte aber keine Berühmtheit. Dank seiner Wiederentdeckung durch Edwin Frank, der 1999 die legendäre Reihe >New York Book Review Classics< begründete, zählt er heute weltweit zu den Ikonen der klassischen amerikanischen Moderne.
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IN DIESEM TRAUM, IN DEM er schwerelos und leblos war, ein alles umflutender Bewusstseinsnebel, der in der Weite der Dunkelheit brodelte und bebte, gab es anfangs kein Gefühl, nur undeutliches Wahrnehmen, ohne Blick und Verstand und fernab, allein imstande, zwischen sich und der Dunkelheit zu unterscheiden.
Dann wurde er sich seiner langsam bewusst, und es kam so etwas wie Dankbarkeit auf für das fühllose Ding, das er im Traum war. Gedankenlos und ohne Worte schätzte er dies so sehr, dass er, stünde es ihm frei, sich dafür entschiede, auf immer in diesem blinden Bauch des Nichts zu bleiben.
Zu den besonderen Bedingungen eines Traums aber zählt, dass es dem Träumer an Macht und Kontrolle fehlt. Auch wenn es manchmal den Anschein hat, als seien ihm enorme Fähigkeiten verliehen, als besäße er Fertigkeiten, die im Wachzustand undenkbar schienen, als wüsste der Träumer, könnte er seinen träumenden Geist erkunden, seine Traumwelt erforschen, dass die einzige Macht, die er besitzt, bloß jene ist, die dem Traum zukommt, jenem Zustand also, in dem er sich befindet. Er ist das Werkzeug eines düsteren Schelms, eines grimmigen kleinen Scherzboldes, der Welten in Welten erschafft, Leben in Leben, Geist im Geist. All die illusionäre Macht verdankt sich diesem schadenfrohen Szenenschreiber, der nach Lust und Laune gibt und nimmt.
So begann er, sich in seinem Schwebezustand unsicherer zu fühlen, und in dem Maße, in dem er sich seiner bewusst wurde, nahm die Empfindung der Dankbarkeit ab, denn kühn drängte Gefühl heran, und auf einen Schlag, unerwartet und nach unlogischem Übergang, stellte er fest, dass er nicht länger vollkommen in der Weite der Dunkelheit war, sondern ein Etwas, eine Identität, unvollkommen und lebendig, in einer giftig brodelnden, aus der Leere aufsteigenden Welt des Lichts.
Einen Moment lang erkannte er den Ort nicht, an dem er sich wiederfand, unsichtbar in einem Zimmer schwebend, noch immer getragen von einer Welle unirdischer Distanz. Es war ein großer, sanft erhellter Raum voll schwatzender Menschen, gedämpftes Licht, heiß und stickig. Die Wände dehnten sich ins Unermessliche. Sie waren von hellbeiger Farbe, geschmackvoll mit Braun abgesetzt und mit unzähligen schreiend bunten und bedeutungslosen Gemälden behangen. Das Ambiente, die Atmosphäre kamen ihm vertraut vor, auch wenn er sie nicht zu benennen wusste. Hätte er es gekonnt, hätte er sich vielleicht unter die Leute gemischt, mit ihnen geredet, sie befragt. Nur wusste er, dass er aus eigenem Antrieb nicht zu handeln vermochte, er war weiterhin der Gnade der Traumintelligenz ausgeliefert, und nur was diese Intelligenz wollte, geschah.
In seiner von alldem getrennten Dimension war es ihm gestattet, diese versammelte Menge zu beobachten; und er sah die Menschen, als bewegten sie und präsentierten sie sich auf einem Objektträger unter einem Mikroskop. Er sah die Partymaske, das aufgesetzte, bedeutungslose Lächeln, das sich kurz um die Lippen zeigte und den feuchten, rosigen Gaumen freigab, die frisch geputzten Zähne, ihr bläuliches Zahnpasta-Emaille – ein unansehnlicher Muskelkrampf, der das Gesicht zu einer Grimasse verzog, einem Faltennetz, ein anatomisches, auf Charme geeichtes Experiment.
Und er sah die beleibten Herren, unförmige Herren in den reizlosen Schößen ihrer Smokings, sah, wie sie ihre Worte durch Wolken von Zigarrenqualm pafften, roch das zarte Aroma von Gin und Wermut und nahm die endlose Abfolge von Frauen wahr, die einander alle ähnlich waren, Brüste und Schenkel in monotoner Wiederholung von zu engen Kleidern zur Schau gestellt, verschwommene, unkenntliche Gesichter, nichtssagende Flötenstimmen.
Und plötzlich wusste der Träumer wieder, wo er war. Ohne jede Vorwarnung fiel ihn dieses Wissen an, und ohne jede Überraschung nahm er es hin. Er war in der Wohnung von Max Evartz; er kannte sie gut. Einen Moment lang hörte er auf, wie beiläufig die Partygäste zu mustern, um sich stattdessen nach Max umzusehen, ihn zu suchen, obwohl er wusste, dass er ihn nicht finden würde. Max war auf seinen eigenen Partys nie zu sehen. Sein massiger Leib verdrückte sich liebenswerterweise, sobald die Party begann, und danach bekam man Max nicht mehr zu Gesicht. Er war ein kluger und erfolgreicher Gastgeber.
Nachdem er nun endlich seine Umgebung wiedererkannte, schoben sich auch andere Dinge in den Orbit seiner Erinnerung. Er wusste, wer diese Leute waren, kannte sie alle. Sein Geist war jetzt fähig, die vielen Gesichter zu betrachten und einzuordnen, sich an sie zu erinnern und sie zu sortieren. Mit dem vordrängenden Wiedererkennen fiel der Zustand innerer Distanz wie ein übergroßer Mantel von ihm ab, und er spürte, wie unwiderstehlich ihn der Wirbel und das Gewühl der Wirklichkeit anzogen, fühlte, wie er selbst zu einem kleinen Bruchteil der Menge wurde.
Dann sah er den jungen Mann; und während ein Teil seines Verstandes darüber staunte, wie tief vertraut ihm dieses Gesicht war, wurde ein anderer Teil von einer überwältigenden Gewissheit durchtränkt und überschwemmt, die ihn auf eine unausweichliche und unaussprechliche Art und Weise erkennen ließ, warum er an ebendiesem Ort war, warum er das Geschehen betrachtete und nun aufstand, um zu sehen, was als Nächstes geschah.
Der junge Mann saß allein in einer Ecke des Zimmers in einem großen Sessel. Das Haar hing ihm in dünnen, blonden Strängen vom Kopf, und hin und wieder hob er gedankenverloren eine schmale Hand, um mit wirkungsloser Geste eine Strähne zurückzuschieben. Er war von zierlicher Statur; der leicht gebeugte Rücken, der selbst im Sitzen nicht zu übersehen war, machte seine Gestalt noch auffälliger, und er war blass, doch von einer Blässe, für die mehr als bloß fehlender Sonnenschein verantwortlich war. Unter der Haut schien es eine teigige Fettschicht zu geben, und man hatte den Eindruck, würde ihm ein neugieriger Finger ins Gesicht gedrückt, die Druckstelle bliebe sichtbar, als fehlte die gewohnte Elastizität gesunden Haut- und Muskelgewebes. Von dieser auffälligen Blässe hoben sich die überraschend stark durchbluteten Lippen ab, kein sinnliches Rot, auch kein ungesundes Rot, im Gegenteil. Die Lippen schienen das einzig Gesunde in einem ansonsten kränklichen Antlitz zu sein.
Man sah ihn häufig auf den Partys von Max, doch selbst einem Beobachter, der nicht mit der übernatürlichen Wahrnehmungsschärfe des Träumers gesegnet war, wäre aufgefallen, dass er nicht dazugehörte. Ihn schien eine innere Ruhelosigkeit zu plagen, die ihm keinen lockeren Umgang mit sich oder den anderen gestattete. Angespannt beugte er sich im Sessel vor, als sei er kurz davor, aufzuspringen und in heller Panik zu fliehen. Dennoch war er hier oder bei ähnlichen Zusammenkünften oft zu sehen, stets der verwirrte Fremde, ein Sonderling. Ausnahmslos passte ihm jede dieser Veranstaltungen wie ein schlecht sitzender Anzug.
Und der Träumer fragte sich: Wer kennt diesen Mann? Wer kennt seine wahre Identität? Wer weiß, woher er kommt, wer kennt sein Ziel? Hier ist dein wahrer Fremder, dachte der Träumer: Nicht der Mann, den du nie gesehen hast, nicht der Mann, den du nie gekannt hast, nicht das nur flüchtig im Gedränge der Straße wahrgenommene Gesicht, nicht die dunkle, nur einmal gehörte Stimme, nicht das Gesicht eines Fremden, von dem du auf irgendwelchen Seiten gelesen hast, nein, all das nicht. Doch hier – hier in diesem Mann, den du zu gut kennst, um ihn zu kennen, den du zu oft gesehen hast, um ihn je zu sehen, hier ist dein wahrer Fremder in der Menge. Diese gebeugte, blonde, angespannte Gestalt, die in der Zimmerecke in einem Sessel sitzt, unbemerkt und allein.
Denn er war unbemerkt und allein, und niemand kannte ihn. Nur die wenigsten hätten ihn mit Namen anzusprechen gewusst … und das war schon alles. Kein Mensch hier war mit den elementaren, wesentlichen Tatsachen seines Lebens vertraut. Man hielt sie für zu unbedeutend, um sie sich zu merken oder sich gar näher mit ihnen zu befassen.
Für diese Leute war er wie ein Geräusch ohne Bedeutung, eine Explosion, die nicht weiter störte.
Der Träumer erinnerte sich an einen bestimmten Vorfall. Er erinnerte sich, wie er einmal nervös mitten in Max Evartz’ Wohnung gestanden und sich rasch blinzelnd umgeschaut hatte, während seine Finger ruhelos den Stiel eines Cocktailglases streichelten und er alles, was vor sich ging, mit der hochkonzentrierten Aufmerksamkeit einer kurzsichtigen Eule registrierte. Das war seine übliche Pose, seine gewohnte Haltung. So verharrte er manchmal eine halbe Stunde lang, in der er sich kaum rührte, nichts sagte und nur dem unverständlichen Geplapper um ihn herum lauschte. Gelegentlich aber geschah es, dass eine zufällige Bemerkung zu ihm durchdrang, woraufhin er dann plötzlich mit dem Fuß aufstampfte und wütende, unsinnige Flüche und Beleidigungen in verständnislose, überraschte Gesichter schleuderte. Sein Gesicht ballte sich zu einer engherzigen Grimasse des Unmuts zusammen, die schmalen roten Lippen zuckten feucht, und ein Hauch gereizten Rosas färbte die ungesund teigigen Wangen. Er gab nicht einmal auf, wenn ihm die verschreckten Leute den Rücken zukehrten, was sie unweigerlich taten. Er folgte ihnen durchs Zimmer, während seine Beschimpfungen so unmerklich in Verzweiflung übergingen, dass niemand etwas davon mitbekam.
Und dann, ebenso abrupt, wie er begonnen hatte, hörte er auch wieder auf. Stumpfsinnig starrte er die Person oder die Personen an, denen seine Rede gegolten hatte, als ob sie unerwünschte, aufdringliche Fremde wären. Schließlich machte er auf dem Absatz kehrt und ließ sie einfach stehen, um sich verwirrt, verängstigt und ein wenig beschämt in seine Ecke zurückzuziehen und in ein tiefes Schweigen zu verfallen, das mal fünf Minuten, mal eine Stunde, oft sogar...