E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Wildner Zu schnell für diese Welt
Originalausgabe 2025
ISBN: 978-3-407-75971-9
Verlag: Beltz Verlagsgruppe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-407-75971-9
Verlag: Beltz Verlagsgruppe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Martina Wildner, geb.1968 im Allgäu. Nach einigen Semestern Islamwissenschaften in Erlangen studierte sie an der Fachhochschule Nürnberg Grafikdesign. Heute lebt sie als freie Autorin mit ihrer Familie in Berlin. Bei Beltz & Gelberg veröffentlichte sie unter anderem die Romane »Jede Menge Sternschnuppen« (Peter-Härtling-Preis für Kinderliteratur), »Königin des Sprungturms« (Deutscher Jugendliteraturpreis) sowie die schaurigen Abenteuer mit Hendrik, Eddi und Ida: »Das schaurige Haus« (nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis), »Die Krähe am unheimlichen See«, »Dieser verfluchte Baum«. Ihr neuester Roman »Der Himmel über dem Platz« ercheint im Frühjahr 2021.
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Schnell weg!
»Achtung, Jay! Da ist jemand!«, schrie ich, warf die Sprühdose weg und kletterte vom Waggon. Jemand keuchte.
Jay sprang hinterher und wir rannten davon, Jay natürlich viel schneller als ich, denn Jay war wirklich der schnellste Junge, den ich jemals gesehen hatte. Deswegen war Jay auch als Erster am Zaunloch. Gleich waren wir aus der Gefahrenzone.
Doch jetzt blendete uns jemand mit einer hellen Lampe.
Es war selbstverständlich verboten, das S-Bahn-Gelände zu betreten, es war verboten, auf alten, rostigen Güterwaggons herumzuklettern, und es war verboten, sie zu besprühen.
Jay blinzelte in den Lichtstrahl einer Taschenlampe, die ein älterer Mann mit rotem Anorak und einem Fotoapparat hielt. Absurderweise trug der Mann eine schwarze Sonnenbrille.
»Hab ich euch erwischt«, sagte er.
»Bei was?«, fragte Jay.
»Das ist Sachbeschädigung.«
»Was denn? Und überhaupt sind wir noch nicht mal vierzehn«, sagte Jay.
»Du kommst dir wohl besonders schlau vor. Ich hab alles fotografiert.«
Der Mann tippte auf das Teleobjektiv.
»Ja und?« Jay blickte sich nach einer Fluchtmöglichkeit um. Es gab keine.
»Sie wissen ja nicht mal unsere Namen.«
»Wenn du dich da mal nicht täuschst«, sagte der Mann.
»So, wie heiß ich denn?«
»Du heißt Jay.«
Jay schwieg verblüfft. Diesmal war ich schlagfertiger.
»Das haben Sie halt eben gehört. Wie heiße ich denn zum Beispiel?«
»Du wirfst gut«, sagte der Mann.
Klar warf ich gut. Aber so hieß ich nicht.
»Und Jay läuft schnell«, fuhr der Mann fort.
Klar lief Jay schnell. Musste er ja auch, bei so viel Mist, wie er baute. Da war Wegrennen oft die einzige Lösung. Aber worauf wollte der Alte hinaus?
»Ihr solltet in meine »Trainingsgruppe« kommen!«
»Hä?«, fragte Jay. »Was soll das sein?«
Ich glaube, das Wort ›Trainingsgruppe‹ brachte ihn komplett aus dem Konzept. Jay war nicht der Typ, der sich gern auf Befehl anstrengte.
»Dienstag und Freitag von 17 bis 19 Uhr in der Laufhalle in der Elly-Schubert-Straße, im Sommer dort im Stadion.«
»Hä?«, machte Jay noch einmal.
»Du hast das schon verstanden. Im Übrigen ruf ich jetzt die Polizei.«
»Nee, bitte nicht«, sagte ich. Ich wollte keinen Ärger, auf keinen Fall.
»Gut. Ich kann es auch lassen«, sagte der Mann. »Aber ich möchte euch beide am Dienstag um 17 Uhr in der Sporthalle in der Elly-Schubert-Straße 15 sehen.«
»Was heißt das?«, fragte Jay. »Sie rufen jetzt nicht die Polizei, wenn wir versprechen, dass wir am Dienstag in Ihre komische Trainingsgruppe kommen? Gut, ist easy, ich verspreche es. Wir kommen am Dienstag.« Jay grinste den Mann an.
»Schön, freut mich«, sagte der Mann. Er nahm Jays Versprechen offenbar ganz ernst. »Also dann bis Dienstag.«
Er fasste sich an seine Sonnenbrille, und einen Augenblick dachte ich, er würde sie abnehmen. Doch das tat er nicht, sondern er wandte sich zum Gehen. Wir schauten ihm nach, wie er in der Dunkelheit verschwand.
»Was für ein Trottel«, sagte Jay.
Irgendwie war die Luft raus, auch bei Jay. Eigentlich hatten wir vorgehabt, Milads Schriftzug komplett zu übersprühen, denn Milad hatte in unserem Waggon nichts verloren. Aber wir hatten gerade mal das M und das I übersprüht mit einem J und einem A für Jay. So stand da nun JALAD, was natürlich absolut ärgerlich war.
»Jetzt ist die Dose weg«, sagte Jay und kratzte sich am Kopf. »Und es ist zu dunkel, um sie zu suchen. Warum hast du nur so weit geworfen?«
»Ich hab eben einfach geworfen.«
»Wahrscheinlich hat er uns gar nicht fotografiert. Ich wette, der ist blind.«
»Blind? Wieso blind? Er hatte doch einen Fotoapparat.«
»Ja und? Hast du die schwarze Brille …«
»Das war halt eine stinknormale Sonnenbrille.«
»Nein, das war eine Blindenbrille.«
»Quatschkopf«, sagte ich. »Der Mann hat uns eindeutig gesehen. Er hätte sonst nicht gesagt, du würdest schnell laufen.«
»Hm, stimmt. Aber vielleicht sagt ihm das seine Brille, weißt du, das ist so ein Computerdings, hab ich neulich in einem Film gesehen, so eine AR-Brille, die …«
»Das glaubst du doch selbst nicht.«
Jay zuckte mit den Schultern.
»Komm, wir gehen«, sagte ich.
Es musste längst 19 Uhr sein; es war ein mondloser, düsterer Oktoberabend und eigentlich hätten wir noch Hausaufgaben gehabt, aber die machte Jay eh nie.
Jay und ich, wir kannten uns fast seit unserer Geburt. Wir waren am selben Tag zur Welt gekommen, was aber so nicht geplant war, denn Jay kam zwei Monate zu früh. Auch nicht geplant war der Ort seiner Geburt, Valparaíso. Das ist in Chile. Und am allerwenigsten geplant war, dass der kleine Jay und Simone, seine Mutter, ohne Jays Vater wieder hierher zurückkehrten, in ihre winzige Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung im ersten Stock. Der Vater ihres anderen Sohnes war längst ausgezogen und hatte den siebenjährigen Halbbruder Keno damals mitgenommen.
Damit verglichen lief in meiner Familie alles geordnet ab. Wir, Vater, Mutter, Kind, wohnten im selben Haus ganz oben in einer großen, hellen Wohnung mit zwei Balkons.
Seit Jays Rückkehr aus dem fernen Valparaíso, das ein wirklich märchenhafter Ort sein musste – alles sei dort voller bunter Häuser und man lege alle Wege in Seilbahnen zurück, erzählte Jay immer –, feierten wir jedes Jahr zusammen Geburtstag, und das, obwohl sich unsere Mütter gar nicht leiden konnten. Wir waren in denselben Kindergarten gegangen, in dieselbe Grundschule und nun gingen wir in dieselbe Oberschule. Seit der ersten Klasse holte ich Jay jeden Morgen an der Tür ab. Wir waren einfach Freunde seit immer.
Jetzt aber würden wir uns gleich trennen, denn ich klingelte oben, Jay unten. Der Summer ertönte, wir drückten die Tür auf.
»Was der wohl gemeint hat mit ›Trainingsgruppe‹?«, fragte ich.
»Ach, der ist doch verrückt«, sagte Jay und rannte die 18 Stufen zu seiner Wohnung hoch. Ich fuhr mit dem Lift.
Im achten Stock angekommen, schaute ich gleich im Internet nach, wo die Elly-Schubert-Straße war. Eigentlich nicht weit weg, drei Haltestellen mit der Straßenbahn oder sieben Minuten mit dem Fahrrad. Dort spielte der TuS, das wusste ich von einem aus meiner Klasse. Aber ein Fußballteam hätte der Alte wohl kaum als »meine Trainingsgruppe« bezeichnet. Außerdem war es beim Fußball nicht wichtig, dass man gut warf. Na ja, für den Einwurf schon, aber Fußball bestand ja nicht nur aus Einwürfen, was mich auf einen ganz interessanten Gedanken brachte: Konnte man mit einem Einwurf ein Tor erzielen? Doch das führte jetzt zu weit. Auch nur schnell rennen zu können, half beim Fußball nichts, wenn man wie Jay einfach nicht schießen konnte. Nein, nein, die Fußballmannschaft hatte der Alte nicht gemeint.
»Dennis, Essen!«, rief meine Mutter.
Ich schlurfte in die Küche; es gab belegte Brote. Ich schnappte mir das mit Wurst.
»Papa, was für ein Verein trainiert in der Elly-Schubert-Straße?«
Mein Vater war Heizungsbauer und kannte die ganze Stadt.
»Der TuS«, sagte er.
»Auf dem Fußballplatz, ja. Aber wer ist zum Beispiel in der Halle?«
»Die Volleyball-Abteilung des TuS. Ach ja, und es gibt auch noch Tischtennis, Boxen und Schach. Bei denen hab ich mal die Heizung repariert.«
»Haha, Schach.« Ich musste lachen.
»Das ist Sport. Es gibt sogar Schachboxen. Da spielt man gegeneinander Schach und ab und zu wird dazwischen geboxt.«
»Nicht dein Ernst«, sagte meine Mutter.
»Doch«, sagte mein Vater und wollte sein Handy holen.
»Schon gut, ich glaub’s dir ja.«
Meine Mutter mochte nicht, wenn man bei Tisch das Handy benutzte.
»Gibt es vielleicht auch Handball?«, wollte ich wissen.
»Nein, aber Leichtathletik.«
»Leichtathletik?« Oje, das war das, was man immer bei den Bundesjugendspielen machen musste. Da konnte ich nichts außer Schlagball.
»Warum willst du das wissen?«, fragte meine Mutter.
...