E-Book, Deutsch, 232 Seiten
Reihe: zur Einführung
E-Book, Deutsch, 232 Seiten
Reihe: zur Einführung
ISBN: 978-3-96060-088-6
Verlag: Junius Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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II. Vier Stationen der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte
Die im vorangehenden Kapitel diskutierte Spannung zwischen Assimilationismus und Differentialismus ist keine Folge der Theorien nach Darwin, wie bisweilen behauptet wird. Diese Spannung spielte bereits in der antiken Philosophie eine wichtige Rolle, wie wir im folgenden Abschnitt kurz sehen werden. Ausführlich wollen wir uns dann dem Streit um die anthropologische Differenz in der Neuzeit zuwenden. Die Grundzüge der für die Tierphilosophie grundlegenden Theorie des Darwinismus und die ebenso wichtige Forschungsrichtung der kognitiven Ethologie (Verhaltenslehre) werden anschließend dargestellt. 1. Antike: Aristoteles und die Krise der Rationalität
Aristoteles hat den Tieren das vernünftige Vermögen abgesprochen. Er behauptet, die Bildung von Meinungen und Urteilen sowie die Fähigkeit zu sprechen und komplexe soziale Gemeinschaften zu gründen, unterscheide uns als Menschen vom Tier. Denn da Tiere über kein vernünftiges Vermögen, sondern nur über sinnliche Vermögen verfügen, können sie weder das Wahre vom Falschen noch das Gerechte vom Ungerechten unterscheiden. Deshalb bilden sie weder Meinungen noch Urteile und benötigen auch keine Sprache, um etwas mitzuteilen. Den Tieren genügen Laute, die ausdrücken, ob etwas Lust oder Unlust bereitet. Zwar gesteht Aristoteles dem Tier die Bildung einfacher sinnlicher Repräsentationen in der Vorstellungskraft zu, aber es »hat nicht das Vermögen, ein allgemeines Urteil zu bilden, sondern nur Eindrücke und Erinnerungsbilder von Einzeldingen«. Vereinfachend gesagt: Menschen können sich auf das Allgemeine, Tiere nur auf Einzelnes beziehen. Zweifellos scheinen Tiere aber ganz gut in der Welt zurechtzukommen, und zwar nur aufgrund ihrer sinnlichen Vermögen. Sie können sich orientieren, empfinden und erinnern, sie können Dinge unterscheiden und vergleichen, sie können lernen, Beute fangen, Feinden entfliehen und Gemeinschaften gründen. Infolgedessen muss Aristoteles den Bereich der sinnlichen Wahrnehmung stark ausweiten, damit alle diese tierlichen Fähigkeiten darin untergebracht werden können. Der britische Philosoph Richard Sorabji behauptet nun in seinem bewundernswerten Buch Animal Minds and Human Morals (1993), dass Aristoteles’ Absage an eine Tiervernunft zu einer Krise der Rationalität geführt habe, die die Philosophie des Hellenismus nachhaltig prägte: »Wird den Tieren die Vernunft (logos) und damit auch die Meinung (doxa) abgesprochen, muss zum Ausgleich der Wahrnehmungsgehalt erweitert werden, damit es ihnen möglich ist, sich in der Welt zurechtzufinden. Jedoch darf er nicht derart ausgeweitet werden, dass die Wahrnehmung sich der Meinung annähert. Die Unterscheidung zwischen ihnen war zu jener Zeit ebenso umstritten wie heute. Nicht allein die Wahrnehmung muss von der Meinung unterschieden werden, sondern auch der Besitz von Begriffen, Erinnerungen, Absichten, Gefühlen und von Sprache, falls sie ebenfalls in Tieren vorgefunden werden, die der Meinung ermangeln. Das Projekt erfordert somit eine durchgehende Neubestimmung all dieser geistigen Fähigkeiten. Sogar der Vernunftbegriff selbst kann einer Verschiebung unterworfen werden. Bekanntlich war die antike Skepsis ein Motiv dafür, Unterscheidungen zwischen verschiedenen Fähigkeiten des Geistes zu ziehen. Dem möchte ich hinzufügen, dass die Beschäftigung mit dem Menschen und seiner den Tieren übergeordneten Stellung in der Natur ein weiteres Motiv darstellt.« Hier zeigt sich die Problematik der anthropologischen Differenz. Setzt man differentialistisch an, braucht man eine Erklärung der kognitiven Leistungen der Tiere. Freilich darf diese Erklärung die anthropologische Differenz nicht wiederum einebnen, und dies bedeutet, dass das sinnliche Vermögen nicht so vernünftig aussehen darf, dass man sich fragen muss, wozu man noch eigens ein vernünftiges Vermögen benötigt. Dies provoziert eine Reihe von Folgeproblemen. Darüber hinaus muss man sehr sorgfältig zwischen verschiedenen Vermögen unterscheiden lernen. Sorabji weist darauf hin, dass die antiken Skeptiker den anderen philosophischen Schulen Anlass gaben, verschiedene geistige Vermögen und Fähigkeiten zu unterscheiden. Sextus Empiricus, durch dessen Werk wir am besten über die antike Skepsis Bescheid wissen, benutzte das in der Philosophiegeschichte berühmt gewordene Beispiel eines denkenden Hundes, das wohl vom antiken Stoiker Chrysippos stammt. Chrysippos’ Hund verfolgt eine Spur und kommt an einen Kreuzweg. Drei Möglichkeiten bieten sich an. Er beschnuppert den ersten Weg, dann beschnuppert er den zweiten und schließlich nimmt er den dritten, ohne geschnuppert zu haben. Was hat der Hund gemacht? Er hat einen logischen Schluss gezogen: »Es bestehen drei Möglichkeiten, die erste und die zweite ist es nicht, also muss es die dritte sein.« Der Hund denkt, er hat einen Gedanken folgerichtig erschlossen, und das Resultat seines Schlusses ist der Grund für sein weiteres Tun. Ein vollkommen rationales Lebewesen. Die Skeptiker benutzten dieses Beispiel, um die Behauptung zu kritisieren, Tiere hätten kein vernünftiges Vermögen. Wer dem Hund aber kein vernünftiges Vermögen zugestehen wollte, dem hielten sie entgegen, dass es sich offenbar auch mit dem sinnlichen Vermögen ganz gut denkt. Wozu eigens ein Vernunftvermögen postulieren? Mit solchen Überlegungen zwangen die Skeptiker andere Philosophenschulen wie etwa die Stoiker, ihre Auffassungen vom vernünftigen Vermögen zu differenzieren und zu präzisieren. Die Debatte zwischen Skeptikern und Stoikern zeigt, dass die Diskussion um das Denken der Tiere die begriffliche Arbeit der Philosophie vorantreibt. Diese Ausführungen verdeutlichen, dass die Frage nach der anthropologischen Differenz auch in der Philosophie der Antike zur Debatte stand. Einige Philosophen, wie etwa die Stoiker, vertraten einen differentialistischen Ansatz. Ebenso die Aristoteliker. Demgegenüber betonten die Skeptiker in assimilationistischer Manier die Verwandtschaft zwischen dem Menschen und den Tieren. Eine Philosophenschule hat die enge Beziehung zwischen Mensch und Tier sogar zum kulturkritischen Programm erhoben, nämlich die Kyniker, deren Namen vom griechischen Wort für »Hund« stammt, von kyon.4 2. Neuzeit: Descartes versus Montaigne
Die Fragen nach dem Geist der Tiere und der anthropologischen Differenz machten auch in der Frühen Neuzeit eine Neuuntersuchung der Vermögen fällig und stellten das Verhältnis zwischen rationalen und sinnlichen Vermögen zur Diskussion. Diese Diskussion entfacht sich jedoch an einer sehr scharf gezogenen differentialistischen These, nämlich an der Behauptung von René Descartes, Tiere seien Maschinen. Mit dieser These reagierte Descartes seinerseits auf den von Michel de Montaigne unternommenen Versuch, die Tiere zu verteidigen. Wir wollen diese Debatte exemplarisch in größerer Ausführlichkeit verfolgen, wobei zuerst Montaignes assimilationistische Position und im Anschluss die sich davon absetzende differentialistische Position Descartes’ dargestellt werden soll. Montaigne ist der Verfasser eines einzigen Buches, der Essais (1580). Im bedeutenden Essay »Verteidigung des Raimond Sebond« (Essais II, 12) findet sich eine ausführliche und berühmt gewordene Verteidigung des Geistes der Tiere. Ein Paradestück der Tierphilosophie! Montaignes Ziel ist es, die menschliche Überheblichkeit zu kurieren. Deshalb möchte er zeigen, dass es für den Menschen keinen Grund gibt sich von den anderen Geschöpfen abzusondern bzw. den Tieren einen beliebigen Platz zuzuweisen und ihnen nur jene Fähigkeiten und Vermögen zuzuschreiben, die ihm gerade passen. Zu diesem Zweck akzentuiert er die Ähnlichkeit des Menschen mit den Tieren. Montaignes Überlegungen setzen sich von einer traditionellen, christlichen Anthropologie ab, die eine klare hierarchische Ordnung postuliert. Der Mensch ist darin als Abbild Gottes den Tieren überlegen und darf über sie verfügen. Aufgrund der besonderen Stellung in der Schöpfung kann man den Menschen Geist zuschreiben, Tieren hingegen nicht. Mit seiner Absetzung von dieser Anthropologie und seinem Assimilationismus erreicht Montaigne zweierlei: Einerseits »humanisiert« er die Tiere, indem er ihre Verhaltensweisen ebenso wie menschliches Verhalten auf geistige Vermögen zurückführt, andererseits »animalisiert« er den Menschen, indem er aufzeigt, dass nicht nur tierliche, sondern auch viele menschliche Verhaltensweisen von Instinkten, Trieben und Reizen regiert werden. Der erste Eindruck von Montaignes Verteidigung der Tiere ist freilich verwirrend. Da scheint sich ein Haufen mehr oder weniger fantastischer Anekdoten angesammelt zu haben, mit deren Hilfe den Tieren allerlei menschliche Fähigkeiten angedichtet werden. Bisweilen kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, Tiere seien die besseren Menschen. Der amerikanische Historiker George Boas prägte dafür den Ausdruck »Theriophilie«. Theriophile behaupten erstens, dass Tiere vernünftiger seien als...