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E-Book, Deutsch, 209 Seiten
Wijnberg Ruinen der Wahrheit
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-406-83106-5
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine kurze Geschichte unserer Zeit
E-Book, Deutsch, 209 Seiten
ISBN: 978-3-406-83106-5
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Rob Wijnberg ist ein niederländischer Journalist sowie Autor philosophischer und medienkritischer Bücher. Seine "Ruinen der Wahrheit" ("Voor ieder wat waars") landete in den Niederlanden gleich nach Erscheinen auf Platz 1 der Bestsellerliste. Er ist Chefredakteur und Mitbegründer von «de Correspondent», einer erfolgreichen Nachrichtenplattform für investigativen und Newsfabrik-kritischen Journalismus.
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Um zu einer neuen Art von Wahrheit zu gelangen, müssen wir zunächst in die Vergangenheit reisen: zu den Wahrheiten, die damals die Gesellschaften formten. Und dann sehen wir: Zwanzig Jahrhunderte lang, während des größten Teils der dokumentierten Geschichte des Westens, war die Wahrheit auf Erden nicht zu finden.[1] Während dieses langen Zeitraums – der auch als Vormoderne bezeichnet wird, um das 4. Jahrhundert vor Christus herum begann und bis zum 16. Jahrhundert nach Christus andauerte – wurde Wahrheit als etwas angesehen, das anderswo, außerhalb der uns umgebenden irdischen Realität, angesiedelt war.
Der Begründer dieser Wahrheitsvorstellung war der griechische Philosoph Platon (427–347 v. Chr.), einer der einflussreichsten Denker der westlichen Kultur. Platon war zwar nicht der erste, der die Wahrheit als etwas Überirdisches ansah, aber er war der erste, der explizit eine Unterscheidung schriftlich fixierte, die unser Denken über Wahrheit fast zwei Jahrtausende lang beeinflussen sollte: die Unterscheidung zwischen Schein und Wirklichkeit.[2]
Die irdische Wirklichkeit, die uns umgibt, behauptete Platon, sei nur eine Scheinwirklichkeit – ein Abglanz einer reinen Wirklichkeit irgendwo anders. In dieser reinen Wirklichkeit lebe die Wahrheit, jenseits des Irdischen und auch außerhalb der menschlichen Welt. (Platon zufolge haben allein Philosophen Zugang dazu). Man könnte diese Auffassung von Wahrheit sehr wohl auch als «metaphysisch» oder «transzendent» bezeichnen.
Diese Unterscheidung zwischen Schein und Wirklichkeit – zwischen der Welt, wie sie uns erscheint, und der Welt, wie sie wirklich ist – bildet die Grundlage für einige der größten Religionen, die sich in den letzten zweitausend Jahren zu Weltreligionen entwickelt haben.
So bauen etwa das Christentum und der Islam ganz auf der platonischen Unterscheidung zwischen einer irdischen Scheinwirklichkeit und einer reinen, immateriellen Wirklichkeit jenseits davon auf. Was Platon die «Welt der Ideen» nannte, wurde in diesen Religionen in das übersetzt, was wir heute als «Himmel» bezeichnen.
Auch die platonische Idee, dass der Mensch Wahrheit nicht im Hier und Jetzt «finden» kann, sondern sie ihm aus einer Welt außerhalb des Hier und Jetzt «gegeben» wird, spielt in diesen Religionen eine große Rolle. Die Idee wurde in Erzählungen gekleidet und konnte so als religiöse Mythologie verbreitet werden.
Die Welt als Scheinwirklichkeit, hinter der sich eine unsichtbare Wirklichkeit verbirgt – das mag sich für unsere heutigen Ohren seltsam anhören, war aber in der damaligen Welt gar nicht so absonderlich. Denn die Welt «erschien» ständig auf eine Art und Weise, die für den vormodernen Menschen nur schwerlich anders als mystisch und unirdisch wahrzunehmen war.
Stellen Sie sich einmal eine Welt vor, in der die Sonne jeden Morgen am Horizont aufgeht und jeden Abend wieder hinter ihm verschwindet, eine Welt, in der man noch nicht weiß, dass die Welt rund ist und sich um ihre eigene Achse und um die Sonne dreht. Oder stellen Sie sich eine Welt vor, in der es während eines Unwetters donnert und blitzt, aber noch niemand weiß, dass ein Gewitter aus elektrischer Ladung in der Atmosphäre entsteht. Oder stellen Sie sich eine Welt vor, in der Sie sehen, dass einige Tiere dem Menschen sehr ähnlich sind, Sie aber noch nie etwas von Evolution gehört haben.
In einer solchen Welt ist es nicht absonderlich zu denken, dass die Welt von außen mit Geist erfüllt wird. In der Vormoderne war es daher ganz normal, an eine Welt «voller Götter»[3] oder anderer mystischer Kräfte zu glauben. Diese religiöse Wahrheitsauffassung bedeutet nicht, dass in der Vormoderne keine Wissenschaft betrieben wurde – im Gegenteil. Die antike griechische Kultur, die Wiege der westlichen Zivilisation, war zum Beispiel der Ursprungsort der Geometrie[4] – was auf Griechisch «Vermessung der Erde» bedeutet. Ohne diese Erfindung hätte sich die moderne Wissenschaft, die im 17. Jahrhundert entstand, nie entwickeln können. Zudem wurde im vormodernen Griechenland, inspiriert von den Babyloniern, das Fundament für die Mathematik gelegt – auf Griechisch: mathema, was «Wissen» oder «Wissenschaft» bedeutete.
Doch anders als heute gab es noch keine scharfe Trennung zwischen der physischen Welt der Wissenschaft und der metaphysischen Welt der Religion. Für den vormodernen Menschen war die Wissenschaft nämlich im gleichen Maße auch eine Suche nach dem Transzendenten – nach dem, was sich hinter den irdischen Erscheinungen verbirgt.
Die Vermessung der Welt und der Versuch, sie in mathematische Formeln zu fassen, war sowohl ein wissenschaftliches Unterfangen als auch eine Suche nach ewigen und immateriellen Wahrheiten – Wahrheiten, die über die physische Welt hinausgingen und somit als Zugang zu einer «reinen» überirdischen Wirklichkeit dienten. Bahnbrechende Entdeckungen oder Theorien, die wir heute als «wissenschaftlich» bezeichnen würden – etwa wie die Höhe eines Objekts anhand seines Schattens und der Position der Sonne zu berechnen ist –, konnten daher problemlos mit Ansichten koexistieren, die wir heute als «religiös» bezeichnen würden – etwa dass Magnete «eine Seele» haben, mit der sie Eisen anziehen.[5]
Die Besessenheit der alten Griechen von der Zeitlosigkeit mathematischer und geometrischer Wahrheiten war dann auch eng mit ihrer beständigen Suche nach Unsterblichkeit – nach der Hoffnung auf ein ewiges Leben nach dem Leben auf Erden – verbunden. So war einer der berühmtesten griechischen Mathematiker der Antike, Pythagoras, nicht nur der Schöpfer des nach ihm benannten Lehrsatzes (a2 + b2 = c2), sondern auch der Begründer einer Religion, die ganz um das immaterielle Leben nach dem Tod kreiste.[6]
In der damaligen Zeit überhaupt nichts Ungewöhnliches: Die meisten vormodernen Menschen waren von der Unsterblichkeit der Seele überzeugt.
Wahrheit als Erlösung
Diese vorherrschende Vorstellung von Wahrheit als etwas Überirdischem, außerhalb der Reichweite irdischer Sterblicher Liegendem, hat nach Ansicht des amerikanischen Philosophen und Ideenhistorikers Richard Rorty (1931–2007) viel mit den harten, in vielerlei Hinsicht hoffnungslosen Lebensbedingungen in der damaligen Zeit zu tun. In der Vormoderne (vier Jahrhunderte vor bis 16 Jahrhunderte nach Christus) war das Leben auf Erden für die meisten Menschen extrem arm, kurz und ohne gute Aussichten. Der größte Teil der Weltbevölkerung lebte nach unseren heutigen Maßstäben in unvorstellbarer Armut, mit einem chronischen Mangel an Nahrung, sauberem Trinkwasser und Hygiene. Es gab noch keine Gesundheitsfürsorge, und Krankheiten, denen man heute mit einer kleinen Pille beikommen kann, wie Grippe oder bakterielle Infektionen, konnten damals tödlich sein. Gewalt war, ebenso wie schreckliche Virusepidemien, an der Tagesordnung. Die durchschnittliche Lebenserwartung lag irgendwo zwischen dreißig und vierzig Jahren.[7]
An diesen Bedingungen ließ sich wenig ändern, das war die vorherrschende Auffassung. Die Menschen der Vormoderne hatten noch nie etwas von Konzepten wie «Machbarkeit» gehört. Es gab noch keine Idee von Fortschritt. Die große Mehrheit der Menschen glaubte an die Unveränderlichkeit des Daseins. Die Welt war schon immer so gewesen und würde immer so bleiben.
Für den vormodernen Menschen war das Leben auf der Erde, kurz gesagt, derart aussichtslos und eine Verbesserung des Lebens so jenseits aller Vorstellung, dass sie «Zuflucht in einer anderen Welt suchten»,[8] wie Rorty es formulierte. Die Vorstellung, dass die irdische Wirklichkeit nur «Schein» ist, enthielt Hoffnung und Trost. Die Wahrheit als Glaube an das Transzendente bot den Menschen einen Ausweg aus der Aussichtslosigkeit ihrer irdischen Existenz.
Die Funktion der Wahrheit bestand entsprechend darin, so Rorty, «sie aus dem Elend zu erheben und in eine bessere Welt zu befördern».[9] Es war eine Möglichkeit, der Zeit zu entkommen und sich in einer zeitlosen Welt, einer Welt ewiger Glückseligkeit, zu wähnen. ...