Wietschorke | Wien - Berlin. Wo die Moderne erfunden wurde | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 340 Seiten

Wietschorke Wien - Berlin. Wo die Moderne erfunden wurde

»Wissenschaftsbuch des Jahres« 2024
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-15-962116-6
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

»Wissenschaftsbuch des Jahres« 2024

E-Book, Deutsch, 340 Seiten

ISBN: 978-3-15-962116-6
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ausgezeichnet als »Wissenschaftsbuch des Jahres« 2024 Die spannende Rivalität zweier Metropolen Berlin ist arm, aber sexy? Wien dagegen gemächlich, traditionsbewusst und ein wenig morbide? Die beiden Großstädte wurden schon immer miteinander verglichen - und sie wetteiferten oft leidenschaftlich miteinander. Insbesondere in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der Zeit der klassischen Moderne, lockten die zwei Metropolen Künstlerinnen, Schauspieler und Exzentriker aller Art an, die sich bisweilen zwischen den so gegensätzlichen Städten kaum entscheiden konnten. Jens Wietschorke nimmt die faszinierende Beziehungsgeschichte der beiden Metropolen etwas genauer unter die Lupe und entdeckt dabei so Überraschendes wie Vergnügliches. Aus der Laudatio »Wissenschaftsbuch des Jahres« 2024: »Der Ethnologe und Kulturwissenschaftler Jens Wietschorke nimmt diese rivalisierenden Zentren in den Fokus - politisch, kulturell, geistesgeschichtlich - und beschreibt elegant und klug argumentierend dieses Wechsel- und Abgrenzungsverhältnis inklusive seiner Wissens- und Kulturtransfers. Was den Autor jedoch vor allem interessiert, ist ein vergleichender analytischer Blick eines ?Zirkulationsprozess zwischen Klischee und Wirklichkeit?. So entsteht ein Kaleidoskop der deutschsprachigen Moderne, das vieles neu beleuchtet und in beiden Städten bis heute wohl gehütete Ressentiments dekonstruiert. Eine überaus erhellende Untersuchung von Klischees und stereotyp tradierten Vorstellungen!«

Jens Wietschorke, geb. 1978, ist Kulturwissenschaftler und lehrt am Institut für Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der LMU München. Bei Reclam erschien zuletzt sein Band '1920er Jahre. 100 Seiten'.
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A Tale of Two Cities


Städte miteinander zu vergleichen, ist ein Lieblingsthema der alltäglichen Konversation. Was in Frankfurt anders als in München, in Dortmund anders als in Stuttgart, in Marseille anders als in Paris ist, darüber gibt es unüberschaubar viele Geschichten und Anekdoten zu erzählen, dazu gibt es zahllose Meinungen und doch auch wieder festgefahrene Stereotypen, denen diese Meinungen folgen. Pausen-, Küchen- und Partygespräche drehen sich um dieses Thema. Und das nicht erst heute: Julius Faucher, der 1877 eine vergleichende Abhandlung zu den damaligen vier europäischen Millionenstädten London, Paris, Berlin und Wien publiziert hat, bestätigt den Städtevergleich als Alltagsthema seiner Zeit: »Vergleichende Culturbilder, wie ich sie hier dem deutschen Publikum zu liefern versuche, bilden einen Hauptgegenstand seiner alltäglichen Unterhaltungen, ohne daß hierauf in der Literatur ausreichend Rücksicht genommen wäre«.1 In der Tat füllen die Monographien, Stadtbiographien und Reiseführer über Städte ganze Bibliotheken, während es nur wenig Forschungsliteratur über die spezifischen Beziehungen zwischen Städten gibt.

Dabei können gerade Beziehungsgeschichten zwischen Städten sehr aufschlussreich sein, weil sie stets einen Perspektivenwechsel implizieren: London von Paris aus gesehen ist etwas anderes als London von Edinburgh aus gesehen. San Francisco und Los Angeles werden vor allem dann zu unverwechselbaren Orten, wenn man sie im Gegenlicht der jeweils anderen Stadt betrachtet. So verspricht die Interdependenz zwischen zwei Städten einen ganz bestimmten Erkenntnisgewinn, bei dem beide Städte in einem neuen, wenn auch changierenden Licht erscheinen. Für die Emigranten, die im 19. Jahrhundert von Hamburg nach New York gingen, war Hamburg schon nach kurzer Zeit nicht mehr die gleiche Stadt wie zuvor – ebenso wie New York nur selten den Erwartungen entsprach, die sie sich von Hamburg aus gemacht hatten. Die Konkurrenz zwischen New York und der amerikanischen Chicago wiederum prägte die öffentliche Debatte für Jahrzehnte, ebenso wie beispielsweise die Konkurrenz zwischen Jerusalem und Tel Aviv, die für zwei sehr unterschiedliche Identitätsentwürfe der Gesellschaft in Israel stehen.

Die folgenden Kapitel zeichnen einen solchen Blickwechsel zwischen Städten nach: eine kulturelle Verflechtungs- und Beziehungsgeschichte Wiens und Berlins, in der Gemeinsamkeiten und Unterschiede verhandelt sowie Anziehungs- und Abstoßungsprozesse sichtbar werden. Es erzählt eine Geschichte zweier Städte, die in der Vergangenheit immer wieder als Antipoden und Antagonisten aufgetreten sind und die in der Gegenwart vielleicht sogar wieder verstärkt in Konkurrenz zueinandertreten. Im Bild dieser beiden Metropolen verdichten sich kulturelle Bilder des katholischen Österreich und des protestantischen Preußen: das fidele Grab an der Donau und das nüchterne Spree-Athen, die gemütliche Walzerstadt und die betriebsame Elektropolis. Versatzstücke aus dem Klischeebaukasten, aber irgendwie auch gefühlte Wahrheiten. Dabei sahen sich beide Großstädte immer auch mit ähnlichen Problemen konfrontiert – vom Hauptstadtstatus über die Regulierung des Nachtlebens bis hin zum Ausbau der modernen technischen Infrastruktur. Wenn aber der Soziologe René König recht hatte mit seiner Behauptung, dass »jede Großstadt ein ungeheuer komplexes Gebilde bedeutet, das jeweils die einzigartige Lösung einer einzigartigen Aufgabe darstellt«,2 dann entfaltet sich auch in diesen Bereichen so etwas wie eine unterschiedliche Logik des Lokalen – wir stoßen auf Eigenheiten und Eigenarten, für die die kultur- und sozialwissenschaftliche Stadtforschung heute nach Begriffen sucht: Kann man von einem »Habitus der Stadt« sprechen? Oder von einer »Eigenlogik der Städte«? Lässt sich das wissenschaftlich greifbar machen, was der österreichische Autor Robert Musil in seinem monumentalen Stadtroman behauptet hat: »Städte lassen sich an ihrem Gang erkennen wie Menschen«?3

Der Blickwechsel zwischen Wien und Berlin hat seine eigene Geschichte, er kennt seine Konjunkturzyklen. Im Folgenden soll es vor allem um die Zeit der klassischen Moderne von 1870 bis 1930 gehen – eine Zeit, in der die Konstellation »Wien – Berlin« ein absoluter Dauerbrenner des Feuilletons, der Literatur- und Kunstszene beider Hauptstädte war. Bis weit in die 1920er Jahre hinein erschien kaum ein renommiertes deutschsprachiges Kulturblatt, in dem nicht lustvoll die Unterschiede zwischen Wien und Berlin behandelt worden wären. Alfred H. Fried meinte, dass »ein Vergleich dieser beiden Städte mit dem Mars näherläge als ein Vergleich untereinander«.4 Und gerade deshalb wurde ausgiebig verglichen. Während Wien als Stadt »uralter Vornehmheit« und tief eingeprägter Geschichtlichkeit verstanden wurde, erschien Berlin als Parvenü unter den Metropolen, als geschichtslose Kolonialstadt. Die Stadt »ist Gegenwart und setzt überdies ihren Ehrgeiz darein, ganz Gegenwart zu sein. Wer sich längere Zeit in Berlin aufhält, weiß am Ende kaum noch, woher er eigentlich kam«, schrieb Siegfried Kracauer.5 Wienerinnen und Wiener, die nach Berlin kamen, suchten die mondäne Bühne oder das große Geld, wunderten sich aber auch über die Zumutungen eines hart durchgetakteten Alltags. Berlinerinnen und Berliner erholten sich in Wien und zelebrierten die imperiale Gemütlichkeit. Und alle regten sich auf: über die rückständigen Wiener Verhältnisse, den seelenlosen Berliner Amerikanismus oder die blasierten Intellektuellen beider Städte zusammen.

Die Beziehungsgeschichte zwischen Wien und Berlin zielt geradezu ins Herz der klassischen Moderne. Denn in diesen beiden Städten spiegelten sich zeitgenössische Positionen von Modernismus und Antimodernismus, Beschleunigung und Entschleunigung; die Straßen, Plätze und Menschen Wiens bzw. Berlins lieferten aus Sicht der Zeitgenossen das Anschauungsmaterial zu dieser laufenden Debatte. Man könnte sogar sagen, der Diskurs der technischen und ästhetischen Moderne im deutschsprachigen Raum benötigte die Chiffren Wien und Berlin, um seine Programme formulieren und seine Widersprüche bearbeiten zu können. »Wien – Berlin« oder »Berlin – Wien« wurde zu einem reißerischen Thema, und die vielen berühmten Pendler:innen zwischen beiden Städten versorgten diese Debatte mit Stoff: Julius Rodenberg und Franz Servaes, Hermann Bahr und Stefan Zweig, Ödön von Horváth und Robert Musil, Julius Bab und Willi Handl, Hanns Eisler und Ernst Krenek, Lili Grün und Helene Weigel, Elisabeth Bergner und Fritzi Massary, Anton Kuh und Joseph Roth, Alfred Polgar und Karl Kraus, Arnold Schönberg und Max Reinhardt, Stefan Großmann und Erik Jan Hanussen, Leo Fall und Oscar Straus, Vicki Baum und Gina Kaus, Robert Stolz und Ralph Benatzky.

Sie alle kommen in diesem Buch vor, und es sind noch viele mehr, die sich im Spannungs- und Gravitationsfeld Wiens und Berlins bewegt haben. Die meisten von ihnen brachen von Wien aus nach Berlin auf, kehrten aber immer wieder zurück in die alte Kaiserstadt an der Donau und spiegelten beide Stadterfahrungen ineinander. Der Nationalsozialismus beendete schließlich eine große Epoche der Stadtkultur, in der jüdische Künstlerinnen und Künstler eine zentrale Rolle gespielt hatten. Vorbei war es mit dem Kosmopolitismus der beiden deutschsprachigen Metropolen; Hitler hasste Wien, er mochte auch Berlin nicht besonders und ließ seinen Chefarchitekten Albert Speer gigantomanische Pläne für einen Umbau Berlins zur Hauptstadt »Germania« entwerfen. Viele Grenzgängerinnen und Grenzgänger zwischen Berlin und Wien verließen Europa und suchten im Exil nach Existenzmöglichkeiten. Nicht wenige von ihnen trugen eine der beiden Städte – oder beide – im Herzen.

In der Nachkriegszeit wurde es still um das Thema. Berlin wurde zur zerrissenen Frontstadt des Kalten Krieges, Wien dagegen schien in einer abgeschiedenen Nische am Rand des Eisernen Vorhangs zu verschwinden. Die österreichische Hauptstadt wurde allenfalls zum Geheimtipp für Aussteiger. Heute bewegen sich die Einwohner:innenzahlen der Stadt Wien auf die Zwei-Millionen-Grenze zu, Berlin und Wien erleben einen anhaltenden Boom und werden auch immer öfter in einem Atemzug genannt. Als 2013 die Berlinische Galerie ihre Ausstellung brachte, wurde diese zur erfolgreichsten Schau in der Geschichte des Hauses. Und das war nicht nur dem nostalgischen Rückblick in die Zeit vor hundert Jahren zu verdanken, sondern auch der neuen...



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