Lyrik und Prosa
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-7460-4547-4
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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Sophia Benedict
geboren in der UdSSR. Universitätsabschluss mit dem Diplom für Publizistik. Weiterbildung in Wien, wo sie seit 1984 lebt und als Wissenschaftsjournalistin und Pressefotografin arbeitet. Zahlreiche Publikationen in Zeitungen und Fachzeitschriften. 20 Bücher in Deutsch und Russisch. Sie erzählt die wirklich wahren Geschichten. Und sie schreibt Romane, Kurzgeschichten und Lyrik. DAS NACHTHEMD
Linda frühstückte mit Freude. Sie aß stets mit Vergnügen, denn für gewöhnlich aß sie wenig, ohne sich dabei jemals satt zu essen. Heute bereitete ihr das Mahl besondere Freude, sie genoss die endlich wieder bei ihr eingekehrte einsame Stille. Sie schnitt die Semmel in drei Scheiben und bestrich die durchscheinenden Schnitten ganz dünn mit Butter und hausgemachter Marillenmarmelade. In der Tasse dampfte der vom Vortag aufgewärmte Kaffee mit Milch. Das war ihr übliches Frühstück. Während der vergangenen zwei Wochen war sie gezwungen gewesen, auf ihre Gewohnheit, allein zu frühstücken, die sie im Laufe von nunmehr bereits zwanzig Jahren nie geändert hatte, zu verzichten. Die Anwesenheit des Sohnes daheim hatte sie gehörig gestört. Überdies hatte er aus dem fernen, kaltem Russland seine neue Frau und seine fünfjährige Tochter mitgebracht. In ihrer neuen Wohnung klappte etwas mit der Stromversorgung nicht, und so waren sie gezwungen, eine Weile bei ihr zu wohnen. Gott sei Dank, endlich sind sie übersiedelt! Linda hatte bereits zwei erwachsene Enkelsöhne, doch sie sah sie nur zu den Feiertagen, und an Kleinkinder war sie überhaupt nicht mehr gewöhnt. Noch dazu sprach die Kleine schlecht Deutsch, was Linda ordentlich auf die Nerven ging, sie hing ständig an ihrem Rockzipfel, schmeichelte oder lag ihr mit irgendwelchen Bitten in den Ohren, und wenn sie das Gewünschte nicht bekam, begann sie wie ein Hündchen, dem man auf die Pfote getreten ist, zu winseln – kläglich und widerlich. Linda mochte keine verzogenen Kinder. Kinder haben den Erwachsenen, die für sie sorgten, zu gehorchen und ihnen dankbar zu sein – schließlich hatten sie freie Kost und Logis. Sie konnte die lärmenden, ungezogenen Ausländerkinder nicht leiden, wie übrigens auch die Ausländer selbst, von denen die Russen ihr am unsympathischsten waren. Ihr Mann war an der Ostfront gewesen und später bei Stalingrad in Gefangenschaft geraten. Diese Russen hatten sich mit einer Art primitiver Stumpfsinnigkeit zur Wehr gesetzt – zu einem Zeitpunkt, als bereits das gesamte zivilisierte Europa dem Großdeutschen Reich zu Füßen lag. Die wollten nichts begreifen, und ihre Jugend verging in Einsamkeit und sie musste ihren Sohn allein großziehen. Nachts betete sie an seinem Bettchen, dass der liebe Gott ihm den Vater erhalte und die Frevler bestrafen möge. Doch ihre Gebete wurden nicht erhört, und eines Tages kreuzten die Frevler selbst in ihrem schönen, herrlichen Wien auf und verbreiteten dabei den Geruch von Soldatenstiefeln und Angst vor der Vergeltung. Sie waren hier, ihr Mann aber war immer noch nicht zurück. Er war noch dort, irgendwo in den staubigen Steppen an der Wolga, in einem Kriegsgefangenenlager. Er kehrte heim, als der Sohn fünf Jahre alt war, mit dunkler, vom Wind gegerbter Haut, ein Fremder. Und sie war ein wenig gekränkt, dass er ihren Hass auf die Feinde, die nun durch die Kärntnerstraße und die Hofburg flanierten, nicht teilte. Es hatte vielmehr den Anschein, als fühlte er sich von den Seinen verkauft und verraten. Er hatte auch keine Angst – er hatte ja schon für alles bezahlt – für sein Teil und das der anderen. Eigentlich war er gar nicht zu ihr zurückgekehrt. Frau Berger, die Nachbarin aus ihrem Stockwerk, war ihm zufällig in der Stiftgasse begegnet und hatte ihr erzählt, er sei wieder zurück und wohne bereits seit drei Tagen bei seiner Mutter. Sie zog dem Kind die besten Sachen an, setzte sich ein Hütchen auf und machte sich auf den Weg zur Schwiegermutter, um ihren Mann nach Hause zu holen. Er ist schließlich ihr angetrauter Ehemann und der Vater ihres Sohnes, sein Platz ist hier, an ihrer Seite. Hat sie denn all die Jahre vergeblich auf ihn gewartet?! Ach was, es wird schon wieder, es kommt alles wieder ins Lot. Sie werden noch Kinder kriegen, eines oder zwei – vor ihnen liegt ein langes und glückliches Leben. Hat doch der Priester bei der Trauung gesagt: „Bis dass der Tod euch scheidet...“ Nein, der Tod hat sie nicht getrennt, und das Leben wird sie erst recht nicht trennen. Einem Priester muss man einfach glauben. Sie hatte ihm damals genauso geglaubt, wie sie als Kind dem Vater, dem Lehrer geglaubt hatte, und wie sie nach wie vor auch jenem glaubte, den sie so sehr geliebt hatte und dessen Namen laut auszusprechen heutzutage riskant war. Und wenn sie einmal an etwas glaubte, dann war es ein für allemal. Was immer man ihr vorwerfen mochte, mangelnde Glaubenstreue konnte es nicht sein. Um kein Geld für die Straßenbahn auszugeben, ging sie mit dem Sohn zu Fuß zur Schwiegermutter, und es war ja auch nicht sehr weit. Unterwegs erinnerte sie sich an ihre Trauung in der Kirche des Heiligen Geistes, in jenem kleinen, innig geliebten deutschen Städtchen, in dem sie aufgewachsen war. Dieses Städtchen war der schönste Platz auf Erden. Seine weißen Apfelbäume und duftenden Akazien blühten üppiger als alle Apfelbäume und Akazien dieser Welt. Die Erinnerungen an die Kindheit und an die heimatlichen Plätze rührten sie zu Tränen, sie war sehr sentimental. Später, nach ihrer Heirat, fand sie auch an Wien Gefallen, jener Stadt, in der ihr Mann geboren war. Überhaupt liebte sie alles, was auch nur irgendwie mit ihr oder ihrem Leben zu tun hatte, ob es nun Erinnerungen waren oder Gegenstände, die sie vor langer Zeit gekauft oder von Verwandten geerbt hatte. Von dem, was sie einmal erworben hatte, trennte sie sich nie mehr. An jenem Maitag kam sie in einem Kleid aus weißer Spitze zu ihrem Bräutigam, und sie wußte, daß es in der ganzen Stadt keine schönere Braut gab. Sie verließen die Kirche und begaben sich eben zu der blumengeschmückten Kutsche, als mit einemmal ein garstiger, kalter Wind – nein, kein gewöhnlicher Wind, ein richtiger Sturm – die Wärme des Mai zerriss. Weiß der Kuckuck woher, plötzlich war eine graue, schwere Wolke da, sie bedeckte den Himmel bis weit zum Horizont, Schnee fiel in großen, weißen Flocken herab, und sie waren kaum von den Apfelblüten zu unterscheiden, die der Wind fortriss. Sie fröstelte in ihrem Brautkleid, doch das war das Einzige, was sie bekümmerte. Sie war nicht abergläubisch und, ihren eigenen Worten zufolge, glaubte sie nur an Gott und an das, was man sehen oder berühren konnte. Das schlechte Wetter bereitete ihr Verdruss: die Bewohner der Stadt hatten sich in ihren Häusern verkrochen und fast keiner sah, wie schön und stolz sie heute war. Die geplante und im voraus bezahlte Spazierfahrt in der offenen, blumengeschmückten Kutsche fand trotz des Schlechtwetters statt. Ach, wie romantisch es doch war! Nun, warum, warum bloß war kein Mensch auf der Straße? Sie und ihr Bräutigam, sie beide hatten doch allen Grund, stolz zu sein – zu jener Zeit benötigte man üblicherweise vor einer Hochzeit zahlreiche Bestätigungen und Überprüfungen, nicht nur als Nachweis für den guten Gesundheitszustand der Brautleute, sondern auch für die Reinheit ihres arischen Blutes. Und sie hatten alle erforderlichen Prüfungen glanzvoll bestanden! Viele Jahre waren seitdem verflossen, vieles hatte sich in dieser Welt verändert, die Welt selbst war eine andere geworden, doch sie war keine von denen, die leichtfertig ihre Ansichten änderte. Auch jetzt noch erinnerte sich Linda mit Befriedigung und im Bewusstsein, ihre Pflicht erfüllt zu haben, an jenen Tag: niemals hat sie ihre Ideale verraten. Was sie damals wie auch jetzt nicht wusste, war, dass ihr Mann nicht nur die Beamten getäuscht hatte, er hatte auch sie, seine Braut und spätere Frau hinters Licht geführt, indem er ihr jene paar Tropfen verbrecherischen semitischen Bluts verheimlicht hatte, die immerhin in seinen minderwertigen Adern flossen. Als er an die Front ging, glaubte sie, dass es nicht für lange sein würde. Der Blitzkrieg, versprochen von einem, an den sie glaubte wie an den Herrgott, würde, natürlich, schnell zu Ende sein, ihr Mann würde als Held zurückkehren und sie würden ein Leben in Glück und Wohlstand führen. Sie würden viele Kinder haben und am Sonntag alle zusammen in die Kirche gehen. Als ihr Mann sie, die Schwangere, bei seiner Abfahrt zärtlich küsste, zweifelte sie nicht daran, dass er bald zurückkehren und sie am festgesetzten Tag in das Entbindungsheim begleiten würde. Doch die Monate und Jahre zogen in endloser Folge dahin. Und dann begann die Welt vor ihren Augen einzustürzen und sie konnte in ihrer ohnmächtigen Wut nichts daran ändern. Natürlich waren an allem die schrecklichen Russen schuld, diese groben, ungehobelten Kerle, deren scheußliche Sprache sie nun in den Straßen ihrer Wienerstadt zu hören gezwungen war. Welches...