Wicke | Rammstein | E-Book | www2.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Wicke Rammstein

Provokation als Gesamtkunstwerk
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-85445-784-8
Verlag: Hannibal Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Provokation als Gesamtkunstwerk

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

ISBN: 978-3-85445-784-8
Verlag: Hannibal Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Rammstein - Provokation als Gesamtkunstwerk Kaum ein kulturelles Phänomen ist nun schon seit drei Jahrzehnten ähnlich umstritten wie die ostdeutschen Brachialrocker Rammstein. Ihre bildgewaltigen Bühnen-Exzesse, die skandalträchtigen Tabubrüche und die alle Grenzen niederreißenden, hochgradig sexualisierten Gewaltfantasien spielen virtuos mit den Empörungsreflexen der Öffentlichkeit. Auch im dreißigsten Jahr des Bestehens polarisieren Rammstein noch immer wie niemand sonst. Die Band selbst spricht von sich als einem 'Gesamtkunstwerk'. Dem geht das Buch nach und lässt dabei auch die Künstler ausgiebig zu Wort kommen. Im Zentrum stehen also vor allem die Musik, der energiegeladene Sound, die Songs und deren Inszenierung in ausgefallenen Videos und bombastischen Bühnenshows voller pyrotechnischer Spezialeffekte. Aber auch andere Aspekte werden beleuchtet: Was steht hinter den Erregungswellen, die die Band regelmäßig auslöst? Was treibt sie an, mit ständig neuen Provokationen gegen den moralinsauren Zeitgeist zu Felde zu ziehen, den eifernden Verfechtern und woken Sachwaltern der political correctness ihre brachialen Riffs an den Kopf zu werfen? Inwieweit sind die Reaktionen auf die Provokationen selbst schon Teil ihrer Inszenierung als Gesamtkunstwerk? Was eigentlich macht diese Band so einzigartig? Wer Antworten auf diese Fragen sucht, wird sie hier finden.

Peter Wicke war bis zu seiner Emeritierung Inhaber des Lehrstuhls Theorie und Geschichte der populären Musik an der Berliner Humboldt-Universität und Direktor des dort von ihm gegründeten Forschungszentrums Populäre Musik. Er ist Autor zahlreicher Bücher und Aufsätze zu verschiedenen Aspekten der populären Musik, die in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt wurden.
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Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Zum Buch (7)

Auftakt: Höhen und Tiefen (9)

"Wir gegen den Rest der Welt"
Das Debüt (26)

"Wir sind ja alle aus der DDR"
Die Band (38)

"Sonst will ja keiner mehr böse sein"
Provokation und Klanggewalt (58)

"Wir hassen Nazis"
Im Stechschritt gegen Rechts (84)

"Amerika war immer der Traum"
Auf dem Gipfel des Ruhms (95)

"... verzerrte Gitarren und die Kraft eines geraden Drumbeats"
Der RAMMSTEIN-Sound (109)

"Wir lassen Flammen für uns sprechen"
Zwischen großer Oper und Muppet Show (133)

"Für uns sind das Liebeslieder"
Romantik auf die harte Tour (155)

"Humor ist für uns wichtig"
Klamauk mit doppeltem Boden (173)

"Wir wollen eine deutsche Band sein"
Auf der Suche nach der verlorenen Identität (184)

RAMMSTEIN und kein Ende (201)

Anhang (209)
Diskografie (209)
Videografie (222)
Zitatnachweise (226)


„Wir gegen den Rest der Welt“
Das Debüt

Mitte April 1994 marschierten in einem Klub auf Leipzigs Südmeile sechs Gestalten mit nacktem Oberkörper auf die Bühne. Sie traten als Vorgruppe der Golden Acker Rhythm Kings auf, einer Spaßband aus Berlin. Der Klub, der den ebenso seltsamen wie provokanten Namen Die naTo trug, hatte es in Leipzig schon zu DDR-Zeiten als Clubhaus der National Front zu Kultstatus gebracht. Hier fanden damals einmal im Monat Veranstaltungen mit experimenteller Kunst jenseits der Grenzen des staatsoffiziellen Kulturbetriebs statt. Das Publikum an diesem Abend im April 1994 bestand aus einer Handvoll mäßig interessierter Szenegänger, nicht einmal zwanzig an der Zahl, die wohl vor allem die Langeweile hierhergetrieben hatte. Der Haupt-Act versprach einen amüsanten Abend, auch wenn die Golden Acker Rhythm Kings in Leipzig kaum jemand wirklich kannte. Die Vorband, die sich Rammstein nannte, war keinem ein Begriff. Allenfalls Eingeweihte erkannten im Gitarristen der schrägen Truppe, Paul Landers, und in ihrem Keyboarder, Christian „Flake“ Lorenz, den Kern von Feeling B, einer 1983 in Ostberlin entstandenen Fun-Punk-Band, die es bis zum Ende der DDR zur Szene-Berühmtheit gebracht hatte, sich inzwischen nun aber, wie die meisten Bands aus diesem Umfeld, in Auflösung befand.

Vom Sänger abgesehen absolvierte die Band mit einem Minimum an Bewegungsaufwand und stoischen Mienen ihr Set. Tastenmann Flake Lorenz erinnerte sich später: „Wir standen ganz stumpf auf der Bühne, haben unser Zeug gespielt, keiner hat gelacht oder sich bewegt. Das muss ziemlich bedrohlich gewirkt haben. Den Zuschauern fiel die Kinnlade runter.“1 Aus den Boxen quoll ein brutaler Gitarrensound in ohrenbetäubender Lautstärke, irgendwas zwischen Punk und Heavy Metal, durch den quäkende Synthie-Girlanden eines Akai S900 irrlichterten. Das erbarmungslos dazu gedroschene Schlagzeug erinnerte mit seinen martialischen Rhythmen eher an Kasernenhof als an Rockmusik. Dazu passte der Sänger mit seinem im Kommandoton gebrüllten Sprechgesang und einem drohend gerollten „R“, die Augen hinter einer schwarz getönten UV-Brille verborgen. Schlagzeuger Christoph Schneider über diesen ersten Gig: „Till präsentierte sich dort das erste Mal der Öffentlichkeit als Sänger. Er war total nervös, hat sich eine schwarze Sonnenbrille aufgesetzt und gesagt: ‚Ich mache auf Sisters of Mercy.‘ Er stand starr da, hat am ganzen Leib gezittert und war nur froh, dass er seine Texte singen konnte.“2 Von den offenbar deutsch gesungenen Texten war wenig zu verstehen, aber das wenige übertraf selbst das, was man damals von dem US-Schock-Rocker Marylin Manson zu hören bekam. Aus dem Gebrüll ragten Textfetzen wie „Du riechst so gut“, „Weißes Fleisch“ oder „Wollt ihr das Bett in Flammen sehen“ heraus, weil sie derart oft wiederholt wurden, dass sie sich ins Gedächtnis einbrannten.

Nach einer knappen Dreiviertelstunde war der Spuk ohne ein Wort der Band vorbei. Das Publikum reagierte sichtlich irritiert. Sänger Till Lindemann: „Ich habe selten so entgeisterte Menschen gesehen.“3 Die Band wirkte mit ihrem autistischen Gehabe, als sei sie geradewegs aus dem 1979 entstandenen Film Stalker des sowjetischen Regisseurs Andrej Tarkowski entstiegen, der mit seinen schaurigen Bildern einer untergegangenen europäischen Zivilisation auch schon die ostdeutschen Underground-Bands Sandow und Freygang inspiriert hatte. Der Sound war wie mit dem Dampfhammer dem Publikum regelrecht vor den Kopf geknallt. Dazu die götzenartig hinter ihre Instrumente geklebten Gitarristen, die den Eindruck machten, als leisteten sie eine Art Dienstpflicht ab, obwohl sie ihre ultrafetten Riffs in den Raum donnerten, dass es nur so krachte. Der Sänger kotzte sein gerolltes „R“ förmlich ins Publikum und wackelte dazu mit dem Kopf. Die Songs durchzog ein düsteres Pathos, das Weltuntergangsstimmung aufkommen ließ, und das auch noch auf Deutsch, ungefähr das Uncoolste, was man damals machen konnte. Während nach dem Fall der Mauer nahezu alle Bands im Osten die Befreiung vom staatlich verordneten Sprachzwang feierten, indem sie Englisch sangen und dabei vom internationalen Musikmarkt träumten, hatten sich diese Jungs offenbar darauf eingeschworen, trotzig gegen den Zeitgeist zu schwimmen. Von dieser Haltung, „Wir gegen den Rest der Welt“, und von der Kompromisslosigkeit, mit der sie das auf der Bühne zelebrierten, ging eine eigentümliche Faszination aus, zumal in einer Zeit, in der den Ostdeutschen die Anpassung an die Gesetze des Marktes, die den gerade abgeschüttelten ideologischen Anpassungszwang ersetzte, als die große Freiheit verkauft wurde.

Wer damals dabei war, dem ist der Name dieser schrägen Band unauslöschlich in Erinnerung geblieben – Rammstein. Ähnlich unauslöschlich wie die Bilder, die am 28. August 1988 von der US Airbase Ramstein bei Kaiserslautern über die Fernsehschirme flimmerten und bei der Namensgebung der Band Pate standen. Bei der Kollision von drei Militärflugzeugen der italienischen Kunstflugstaffel Frecce Tricolori während einer Flugschau auf der US Luftwaffenbasis raste eine der Unglücksmaschinen nach dem Absturz mit einem riesigen Feuerball in die Zuschauermenge und riss 70 Menschen in den Tod, über 1000 wurden teils schwer verletzt.

Als die sechs Musiker aus diversen ostdeutschen Punk-Projekten im Januar 1994 zu einer Band zusammenfanden, war das eigentlich nur als Nebenbeschäftigung gedacht. Gitarrist Paul Landers: „RAMMSTEIN war ja ursprünglich nur ein Nebenprojekt und ein Ventil für Ideen, die nicht zu unseren eigentlichen Bands gepasst hätten. Doch plötzlich merkten wir, dass RAMMSTEIN nach und nach immer mehr interessierte als die anderen Combos.“4 Was sie bewogen haben mag, sich zunächst Rammstein Flugschau zu nennen, woraus dann Rammstein wurde, und ob die falsche Schreibweise des Ortes mit Bezug auf ihre Musik beabsichtigt war, bei der ja die Assoziation mit einer Dampframme so weit hergeholt nicht ist, muss offenbleiben. Die Version, die die Band mit dem für sie typischen Understatement erzählt, hat Rhythmusgitarrist Paul Landers zu Protokoll gegeben: „Bei einer unserer Fahrten mit Feeling B hatten Schneider, Flake und ich schon den neuen Bandnamen. Wir hatten den an die Wand von unserem LO [ostdeutscher LKW-Typ; Anm. PW] geschrieben: Rammstein Flugschau. Doof, wie wir waren, schrieben wir Rammstein gleich mit zwei M, weil wir nicht wussten, dass der Ort Ramstein nur ein M hat. Wir haben uns erst mal aus Quatsch so genannt, aber der Name blieb kleben wie ein Spitzname, den man nicht gut findet. Wir schafften es nicht mehr, den loszuwerden. Rammstein wollten wir eigentlich nicht heißen, das war uns zu festgelegt.“5 Leadgitarrist Richard Kruspe brachte Jahre später noch einen anderen Gesichtspunkt ins Spiel, der sie schließlich bei ihrem Bandnamen bleiben ließ: „Der Begriff ‚Rammstein‘ hat eine doppelte Bedeutung. Er bezeichnet auch den Eckstein zum Schutz von Gebäudeecken, wie er ganz früher bei alten Häusern häufig zu finden war.“6 Der gleichnamige Song, der in den ersten Jahren ihre Liveshows eröffnete und das Desaster in eindringlichen Worten noch einmal heraufbeschwört, ist der einzige, dessen Text nicht aus Lindemanns Dichterwerkstatt stammt. Nach Auskunft von Schlagzeuger Christoph Schneider saßen sie an einem Tisch in der Dorfkneipe von Hohen Viecheln, einem Ort in der Uckermark im nördlichen Ostdeutschland, in dem Till Lindemann damals lebte, und jeder hat beigetragen, was ihm gerade einfiel: „Der Text ist der einzige, den wir als Band zusammen geschrieben haben. Den haben wir in Tills Dorf, wo Till herkommt, in der Dorfkneipe zusammen auf so ’nen Kneipenzettel geschrieben. Wir haben uns dieses Unglück praktisch in Bildern vorgestellt, und dabei kam von jedem irgendwie so ein Einwurf, und plötzlich war der Text fertig.“7 Ansonsten liefert Sänger Till Lindemann die Texte für die mehr oder weniger fertige Musik, die die Gitarristen, der Keyboarder und der Schlagzeuger zusammenbauen, bevor der Text darübergelegt wird. Lindemann: „Es ist immer zuerst die Musik da, und ich überlege, was dazu passt.“8 Für Text und Musik zeichnen sie aber grundsätzlich gemeinsam, weil letztlich jeder von ihnen einen Anteil an allem hat. „Eigentlich kann man nicht sagen, dass die Texte von mir sind. Ich habe den Entwurf geliefert, aber das fertige Produkt stammt von der gesamten Band.“9 Die Band redet immer mit: „Für mich ist das der absolute Albtraum! Man kriegt ein Instrumental und soll da irgendwas draufschmieren. Es ist ja alles vorgegeben: Strophe, Bridge, Refrain – alles. Das muss man füllen und anschließend von den anderen beurteilen lassen. Die immense und übertriebene Kritik hat allerdings den Vorteil, dass es dann bis zur Perfektion ausgeschliffen ist.“10

„Rammstein“ gehörte zu den ersten Songs der Band, die neben „Das alte Leid, „Seemann“ und „Weißes Fleisch“ in einer Demoaufnahme aus dieser Zeit dokumentiert sind, wenn auch noch nicht in der im...


Wicke, Peter
Peter Wicke war bis zu seiner Emeritierung Inhaber des Lehrstuhls Theorie und Geschichte der populären Musik an der Berliner Humboldt-Universität und Direktor des dort von ihm gegründeten Forschungszentrums Populäre Musik. Er ist Autor zahlreicher Bücher und Aufsätze zu verschiedenen Aspekten der populären Musik, die in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt wurden.



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