E-Book, Deutsch, 411 Seiten
Weydt Dark Forest Coven. Elsterschatten
22001. Auflage 2022
ISBN: 978-3-646-60944-8
Verlag: Carlsen Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Hexen-Romantasy über einen uralten Fluch und eine Liebe durch alle Zeiten
E-Book, Deutsch, 411 Seiten
ISBN: 978-3-646-60944-8
Verlag: Carlsen Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Anna Weydt, 1989 in Hamburg geboren, studierte Germanistik und lebt in Niedersachsen. Sie ist gerne unterwegs und lässt die Begeisterung für das Reisen und neue Orte in ihre Texte einfließen. In ihren Geschichten sucht sie nach dem kleinen Funken, der ganze Welten aus den Angeln heben kann.
Autoren/Hrsg.
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1
One for sorrow
Mit einiger Anstrengung wuchtete ich meinen Koffer die Rolltreppe hinauf zum Gleis. Sie war kaputt, einen Aufzug gab es nicht. Schweiß stand auf meiner Stirn.
Verdammt, dieser Sommer war wirklich unerträglich heiß.
Oben angekommen blieb ich einen Augenblick stehen, um wieder zu Atem zu kommen. Nun war es also so weit: Ich würde Berlin verlassen, um in einem kleinen Ort im Harz meine Wunden zu lecken. Wunden, von denen ich vor zwei Tagen nicht geglaubt hätte, sie jemals zugefügt zu bekommen. Meine Gedanken reisten zurück zu dem Tag, an dem ich meinen Freund – jetzt Ex-Freund – mit meiner besten Freundin zusammen im Bett erwischt hatte. Zu seinen gestammelten Erklärungsversuchen und dem Glitzern in ihren Augen. Zu den Lügen, die Mila unserer Clique erzählt hatte. Zu den bösartigen Nachrichten, die mein Handy geflutet hatten. Sie hatte das alles wirklich schlau eingefädelt, hatte dafür gesorgt, dass ich nicht nur meinen Freund verlor, sondern auch noch alle Glaubwürdigkeit. Sie hatte mir gezeigt, wie flüchtig Freundschaften waren und wie schnell alles, was man für sicher gehalten hatte, beendet werden konnte.
Ich seufzte und griff nach dem Koffer. Vor zwei Tagen hatte ich auch mit meiner Tante Alma telefoniert. Am Abend des Telefonats war meine Mutter von der Arbeit nach Hause gekommen und ich hatte ihr von meinen Plänen erzählt. Wobei das falsche Wort war: Ich hatte sie vor vollendete Tatsachen gestellt. Erst war sie nicht begeistert gewesen, hatte Bedenken geäußert, aber dann hatte sie mich doch ziehen lassen. Schließlich bat ich sie nicht darum, auf ein Festival mit reichlich Alkohol und fremden Männern fahren zu dürfen, sondern in den Harz. Zu meinen Verwandten. In ein Dorf, in dem sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagten. Wäre es nach mir gegangen, wäre ich sofort gefahren. Die Bahn hatte das aber anders gesehen, weswegen ich nur ein Ticket ein paar Tage später bekommen hatte.
Und jetzt stand ich hier. Abfahrbereit.
Ich justierte meinen Rucksack nach und sah mich um. Auf dem Gleis war einiges los: Familien mit Kindern, eine Horde älterer Damen, die beschwipst schunkelten, Studierende, in Lernkarten vertieft, und Geschäftsleute, die mit gewichtiger Miene telefonierten. Weit und breit kein freier Platz, um meinen Rucksack abzustellen. Hoffentlich kam der Zug bald.
Langsam ging ich über den Bahnsteig, bis ich den gröbsten Andrang hinter mir gelassen hatte.
Mein Handy surrte. Ich schaute schon gar nicht mehr drauf. Es war sicherlich schon wieder Philipp. Nachdem ich ihn und Mila hatte stehen lassen und mit tränenüberströmtem Gesicht mit dem Rad nach Hause gefahren war, wobei mich beinahe eine aufgeregte Elster in den Gegenverkehr gedrängt hätte, war einen Tag lang Ruhe gewesen – danach hatten seine Nachrichten begonnen. Erst waren sie flehentlich gewesen, dann selbstgerecht und schließlich beleidigend. Ich sei an allem schuld, schließlich hätte ich so wenig Zeit für ihn gehabt. Jede dieser Nachrichten hatte gestochen wie eine Wespe, war unter die Haut gegangen. Deshalb hatte ich seine Nummer gesperrt. Aber er schaffte es trotzdem immer wieder, mich zu erreichen – offenbar hatte er sich nicht nur bei Kumpel das Handy geliehen, sondern gleich bei mehreren. Deshalb ignorierte ich jetzt alles, was nicht von meiner Mutter oder meiner Tante kam.
Ich erspähte einen freien Platz. Endlich! Dort konnte ich meinen Rucksack loswerden. Natürlich hatte ich viel zu viele Bücher eingepackt, auch wenn ich wusste, dass der Ort, an den ich fuhr, eine Bibliothek besaß. Aber dort gab es sicher nur alte Schinken. Uninteressante alte Schinken. Mit einiger Mühe wuchtete ich meinen Rucksack auf die Bank und ließ mich danebenplumpsen. Die Ansagetafel kündigte das Eintreffen des Zuges in zehn Minuten an.
Ich griff in eine der Außentaschen des Rucksacks und zog eine Banane hervor. Während ich sie schälte, schaute ich nach rechts. Mein Blick blieb an einem jungen Mann hängen, ein paar Jahre älter als ich. Vielleicht um die zwanzig. Er hatte braunes Haar mit einem Rotstich, sein Gesicht war von Sommersprossen übersät und er hatte seine Nase tief in ein Buch gesteckt. Er war mir direkt sympathisch.
Vorsichtig rutschte ich ein wenig nach vorn, legte die Banane zur Seite und tat so, als würde ich mir meine Sneakers zubinden. Dabei versuchte ich unauffällig den Titel des Buches zu erhaschen. Wenn er es doch nur ein bisschen höher halten würde, dann könnte ich …
Er hob den Kopf und unsere Blicke trafen sich. Seine Augen hatten die gleiche Farbe wie sein Haar und etwas an sich, das mich nicht wegsehen ließ. Es war wie eine elektrische Verbindung, die sich plötzlich zwischen uns aufspannte. Er hatte feine Züge und ein ausgeprägtes Kinn. Fast schien sich mein Hirn jede Linie seines Gesichts, jede Sommersprosse, jedes Haar genau einprägen zu wollen. Ich wusste, dass ich ihn anglotzte, aber ich konnte es einfach nicht abstellen.
Er grinste.
Mit einer nicht sehr eleganten Bewegung rutschte ich auf meinen Platz zurück. Meine Wangen brannten und ich starrte angestrengt auf die Schienen vor mir. Verdammt, warum musste ich so seltsam sein? Warum konnte ich nicht wie ein normaler Mensch zu ihm gehen und fragen, was er las? Nein, lieber machte ich komische Verrenkungen, um ja keinen sozialen Kontakt herstellen zu müssen. Am liebsten hätte ich mir gegen die Stirn geschlagen, aber ich war mir nicht sicher, ob er noch in meine Richtung sah. Das hätte dem Ganzen noch die Krone aufgesetzt. Wenn er mich nicht jetzt schon für merkwürdig hielt, spätestens dann wäre es so weit. Innerlich schüttelte ich den Kopf. Warum war das überhaupt wichtig? Er war ein völlig Fremder. Was kümmerte es mich, was er von mir dachte?
Der einfahrende Zug rettete mich aus meiner Misere. Schnell sprang ich auf, griff nach meinem Rucksack und tauchte in der Menge der wartenden Menschen unter. Mein Herz klopfte rasend schnell.
Ich wartete, bis die Türen sich öffneten. Dann wuchtete ich den Koffer die Stufen nach oben und ließ mich einige Minuten später in einem Abteil auf meinen reservierten Platz fallen. Ob der lesende Fremde wohl in denselben Zug gestiegen war? Ich hatte mich nicht mehr getraut, über die Schulter zu gucken. Sei’s drum. Ich sollte mich nicht auf fremde Typen konzentrieren, sondern darauf, nicht noch einmal so eine Enttäuschung wie mit meinem Ex zu erleben. Mit einer fahrigen Bewegung zog ich mein aktuelles Buch hervor und begann zu lesen.
***
Ein paar Stunden und zweimal Umsteigen später war ich endlich da. Den Jungen hatte ich nicht noch einmal gesehen. Etwas in mir fand das furchtbar schade, aber ändern konnte ich daran nichts. Außerdem wurde ich von der Landschaft abgelenkt, die schon seit geraumer Zeit an mir vorbeizog und dabei wie aus einem Bildband wirkte: zerklüftete Felsen, ewig weite Kornfelder, Flüsse, die sich in vielen Windungen durch die Natur schlängelten – und immer wieder dichter Tannenwald mit bemoostem Boden.
Der Zug hielt an dem kleinen Bahnhof. Ich stieg aus und wurde von Sommerluft und lauem Wind empfangen. Ganz anders als in Berlin und viel kühler.
Einen Augenblick lang verharrte ich, dann zog ich meinen Koffer über die Pflastersteine.
Das Bahnhofsgebäude war alt: Verschnörkelte Türmchen, Messingschilder und ausgesessene Holzbänke erinnerten mich stark an Gleis 9 ¾. Vor der Tür wartete schon das Taxi, das eine meiner Tanten für mich bestellt hatte. Ich stieg ein und wir fuhren los.
Auch wenn ich die Strecke nach Tannenburg schon einige Male mit meiner Mutter gefahren war, konnte ich mich nicht an der Landschaft sattsehen. Schließlich war ich bisher nur im Winter hier gewesen – mit kahlen Bäumen und pudrigem Schnee, wohin das Auge blickte. Jetzt waren die Straßen von strahlend grünem Blattwerk überwachsen, durch das nur ab und zu ein Sonnenstrahl fiel. Der warme Sommerwind, der durch die offenen Fenster hereinkam, spielte mit meinem Haar und ich fühlte mich zum ersten Mal, seit ich Berlin verlassen hatte, nicht so, als würden mir die Tränen kommen. Rechts türmte sich eine meterhohe Felswand, links ging es steil in die Tiefe. Der Taxifahrer jagte wie ein Wahnsinniger durch die Kurven. Meine Hand klammerte sich am Türgriff fest.
»Sind wir bald da?«, fragte ich nach der nächsten Kurve.
»Fünf Minuten noch, Mädchen.« Er sah in den Rückspiegel und nickte mir zu. Dabei schien er den Radfahrer völlig zu übersehen, der direkt vor uns fuhr.
»Vorsicht!« Ich deutete nach vorn.
Der Taxifahrer riss das Steuer nach links und preschte in keinem halben Meter Abstand an ihm vorbei. Dabei hupte er wild und zeigte seinen Mittelfinger im Rückspiegel. »Diese Straßenhechte, eine echte Plage.« Er versuchte abgeklärt zu wirken, aber ich sah ihm an, dass...