Weston Wie man bei Regen einen Berg in Flip-Flops erklimmt
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-446-26326-0
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-446-26326-0
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Carol Weston betreut seit mehr als zwei Jahrzehnten die Ratgeberkolumne 'Dear Carol' in der Zeitschrift 'Girl´s Life'. Sie hat zahlreiche Bücher für Jugendliche verfasst, die in viele Sprachen übersetzt wurden. Carol Weston liebt Katzen und lebt in Manhattan. Wie man bei Regen einen Berg in Flip-Flops erklimmt ist ihr erstes Jugendbuch bei Hanser (2019).
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Januar
»Rate mal, wer zur Schulversammlung kommt«, sagte Kiki.
Wir hatten uns bei mir im Wohnkomplex unten in der Lobby getroffen, weil wir zusammen durch den Central Park schlendern und dann ein bisschen shoppen wollten. Ich hatte ihr erzählt, dass ich nicht zu der Neujahrsfeier in unserem Apartmentgebäude wollte, und sie hatte mich nicht dazu gedrängt, was ich ihr hoch anrechnete.
Kiki trug ihren neuen blauen Mantel und sah super aus. Todschick, dachte ich, obwohl ich diesen Ausdruck eigentlich nicht mehr ausstehen konnte.
Wir waren schon seit dem Kindergarten beste Freundinnen. Kiki wohnte acht Blocks weiter nördlich, und früher hatten wir immer zusammen »Schule« und »Restaurant« gespielt oder — weil wir eben echte Stadtkinder waren — »Aufzug«. Dafür stellten wir uns in den Wandschrank bei mir im Flur, drückten imaginäre Etagenknöpfe und taten so, als würden wir auf und ab und auf und ab fahren.
Inzwischen war Kiki vierzehn, wie ich, aber sie wirkte älter. Sie war halb Vietnamesin und halb Brasilianerin, mit dunklen Augen und kakaobrauner Haut, und war ein echter Jungsmagnet geworden, während ich ungefähr zur selben Zeit zu einem Mädchen mutierte, das einige mieden. Typen von der Buckley, St. Bernard’s und Hunter begannen Kiki zu umschwärmen. Die wenigen Jungs dagegen, die ich als meine Freunde bezeichnet hätte, zogen sich nach und nach vor mir zurück.
»Sofia, jetzt rate doch mal!«, wiederholte sie ungeduldig.
»Keine Ahnung. Wer denn?« Ich warf einen raschen Blick in den Spiegel, um meinen Wollschal zurechtzuziehen und zu überprüfen, ob auch nichts Fieses in meiner Zahnspange hing.
»Kate! Die Kate! Ist das zu fassen? Hat Dr. Goldbrook mir gerade erzählt. Oh Mann, es ist so komisch, außerhalb der Schule einem Lehrer zu begegnen. Und dann auch noch in den Ferien!«
»Man gewöhnt sich dran«, erwiderte ich. Der Halsey Tower, in dem ich seit meiner Geburt wohnte, lag direkt gegenüber unserer Schule. Er wurde auch scherzhaft die »Lehrerburg« genannt und war praktisch ein vertikales Dorf voller Schulangestellter. »Welche Kate noch mal?« Ganz vage klingelte es bei dem Namen.
Kiki starrte mich an. »Weißt du etwa nicht mehr?« Sie wartete ab.
»Ach, klar.« Endlich fiel der Groschen. Im Fifteen Magazine gab es eine Ratgeber-Kolumne: Frag Kate. Als ich letzten Sommer einmal bei Kiki übernachtet hatte und sie gerade duschen war, fiel mir zufällig ein E-Mail-Wechsel in die Hände, den sie sich ausgedruckt hatte. Ich hatte wirklich nicht herumschnüffeln wollen — ich wäre damals gar nicht auf die Idee gekommen, wir könnten Geheimnisse voreinander haben.
Liebe Kate,
die Mom meiner besten Freundin ist vor ein paar Monaten gestorben. Und jetzt ist meine Freundin immer nur traurig, und ich weiß nicht, was ich für sie tun kann.
Viele Grüße von einer, die nur helfen will
Hallo, Eine, die nur helfen will,
du hilfst ihr doch schon — deine beste Freundin hat Glück, dass sie dich hat. Sag ihr einfach, du bist immer für sie da, falls sie mal über ihre Mom reden will. Und wenn dir eine schöne Anekdote zu ihrer Mom in den Sinn kommt, immer raus damit. Keine Angst, dass du sie dadurch nur an ihre Mutter erinnerst — sie denkt sowieso ständig an sie. Ihre Traurigkeit ist ganz normal, und deine Sorge um sie wird ihr sicher eine Menge bedeuten.
Deine Kate
Damals war ich erst mal ziemlich verletzt und beleidigt. Hielt Kiki mich etwa für einen emotionalen Sozialfall?
»Ach Quatsch!«, hatte Kiki gesagt, als ich sie damit konfrontierte. »Ich dachte halt, sie könnte vielleicht helfen.«
»Mir kann keiner helfen!«, hatte ich erwidert und kurz mit dem Gedanken gespielt, wütend abzudampfen. Aber das tat ich nicht. Kiki zu verlieren konnte ich nicht riskieren.
Mittlerweile waren wir im Park angelangt und hielten auf Bloomingdale’s zu. Die Bäume standen da wie nackte Pfähle. Der Ententeich war zugefroren, der Himmel geradezu unwirklich blau.
»Und Kate hält da einen Vortrag? Worüber?«, wollte ich wissen.
»Vermutlich über das Pubertäts-Alphabet.«
»Das was?«
»Du weißt schon, angefangen bei A wie Anorexie, über B wie Bulimie, bis hin zu Z wie Zickenkrieg!«. Kiki lachte. »Nicht zu vergessen P.«
»P wie …?«
»Pickel, Periode und Popularität!« Kiki lachte sich über sich selbst kaputt. »Und noch viel wichtiger: S!«
Ich verdrehte die Augen, aber es war eindeutig, dass Kiki keine Ruhe geben würde, bis ich reagierte. »Schule?«, riet ich also.
»Zum Beispiel, und was noch?«
»Stress?«
»Treffer Nummer zwei. Aber jetzt mal ernsthaft, Sofia. Was ist das wichtigste S von allen?«
Verstohlen sah ich mich um, ob auch niemand in der Nähe war, den wir kannten — keine Jungs, keine Eltern, keine Lehrer. »Sex?«
»Sex!«, wiederholte Kiki lautstark. »Und sämtliche dadurch übertragbare Krankheiten.«
»Uff, ich hoffe, damit verschont sie uns. So was muss ich mir zu Hause schon oft genug anhören.« Kiki wusste, dass mein Dad, der Frauenarzt war, gern spontane Vorträge über Genitalherpes oder ungewollte Schwangerschaften hielt.
Wir kamen an der Eisbahn vorbei, wo ein Mädchen, das sich unsicher an die Hand seiner Mutter klammerte, auf seinen Schlittschuhen dahinwackelte.
»Kate hat eine Tochter«, wusste Kiki zu berichten. »Kannst du dir vorstellen, wie das wäre, wenn deine Mutter eine Kummerkastentante ist?«
»Nein.«
»Sie hält auch einen Vortrag für die Eltern.«
»Die Tochter?«
»Nein, die Mutter!« Kiki starrte mich irritiert an. »Wir sollten meine Mom und deinen Dad überreden, zusammen hinzugehen.« Kikis Vater war vor drei Jahren ausgezogen, und in letzter Zeit machte sie immer wieder Anspielungen, dass wir unsere Eltern miteinander verkuppeln sollten. »Oder erzähl mir wenigstens, ob er kommt, dann kann ich meiner Mom sagen, sie soll sich schön aufbrezeln und ihm einen Platz freihalten!« Sie lachte.
»Hör auf! Deine Mom würde dich umbringen.«
»Oder mir danken. Immerhin ist er ein begehrter Junggeselle. Gynäkologische Betreuung rund um die Uhr!«
»Hör auf«, flehte ich, und sie gab endlich nach. Ich wollte mir meinen Dad nicht als »begehrten Junggesellen« vorstellen. Ich hatte mich schließlich noch nicht mal ganz an »Witwer« gewöhnt. Zwar war mir schon aufgefallen, wie die eine oder andere Frau mit Dad flirtete (darunter auch Kikis Mutter Lan, wann immer wir zu ihr ins Saigon Sun essen gingen), aber ich hatte noch nie erlebt, dass er darauf einging.
Mom hatte Dad immer »Guapo« genannt — Hübscher. Aber er war jetzt fünfzig, und da sollte man doch denken, dass er mit diesem Thema für sich abgeschlossen hatte. Was mir nur recht war. Ich hätte es nicht ertragen, wenn er plötzlich auf Dates gegangen wäre.
»Was willst du eigentlich kaufen?«, wechselte ich das Thema, während wir die Fifth Avenue Richtung Osten überquerten.
»Ich brauche unbedingt neue Jeans«, stöhnte Kiki. »Und du?«
»Vielleicht einen Rock für die Schulparty. Oder einen Pulli?« Doch was ich wirklich brauchte — dringender als jeden neuen Rock oder Pulli —, war Luft zum Atmen. Und das Gefühl, endlich wieder ich selbst zu sein.
Am Sonntag wollte Dad, dass wir den Weihnachtsbaum abschmückten. Es grenzte an ein Wunder, dass wir überhaupt einen aufgestellt hatten, und ich begriff nicht, wieso der Baum so schnell wieder aus der Wohnung verschwinden sollte.
Aber Dad hatte es nun mal gern ordentlich, und Weihnachten bedeutete Chaos.
Ich hatte Weihnachten schon immer gemocht — die Deko, die Schulkonzerte, die Geschenke und Feiern. Es war toll, wenn direkt nach Thanksgiving die kanadischen Holzfäller mit ihren Lkws voller Tannen in die Stadt rollten und die Bürgersteige New Yorks in Miniaturwälder verwandelten.
Mom, Dad und ich hatten immer unser ganz eigenes Ritual gehabt. Jedes Jahr Anfang Dezember suchten wir uns auf dem Broadway einen Baum aus und schleppten ihn nach Hause in die 93. Straße. Dad stellte ihn in den Ständer, Mom goss ihn mit Gingerale, was ihn angeblich länger frisch hält, und ich hängte die erste Kugel hinein. Dann schmückten wir ihn gemeinsam und hörten dabei Weihnachtslieder, von Jingle Bells bis Feliz Navidad, während Pepper, unser schwarzer Kater, um uns herumflitzte und mit der Tatze nach den niedrig hängenden, mausgroßen Kugeln schlug. ...