E-Book, Deutsch, 248 Seiten
West Tochter des Schweigens
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-95530-238-2
Verlag: Edel Elements - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 248 Seiten
ISBN: 978-3-95530-238-2
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Morris Langlo West wurde 1916 in St. Kilda, Australien geboren. Mit 14 Jahren trat er in den Orden der Christian Brothers ein, der Katholizismus beeinflusste West nachhaltig. 1937 schloss er sein Studium an der University of Melbourne ab und unterrichtete anschließend moderne Sprachen und Mathematik an den Klosterschulen des Ordens in New South Wales. 1942 verließ er den Orden und kämpfte etwa zu dieser Zeit auch im Zweiten Weltkrieg, bis er 1943 Sekretät des früheren australischen Premierministers, Billy Hughes, wurde. Während seiner Zeit bei der Armee schrieb er ein Buch über sein Leben im Kloster, das er 1945 unter dem Pseudonym Julian Morris veröffentlichte. Etwa zur Zeit des Kriegsendes arbeitete er für den australischen Rundfunk, nachdem er jedoch wegen eines Zusammenbruchs ein Jahr im Krankenhaus gelegen hatte, verkaufte er sein Unternehmen und arbeitete fortan ausschließlich als Schriftsteller. Sein erster Gedichtband erschien 1955, gefolgt von den erfolgreichen Romanen 'Gallows on the Sand' im selben Jahr und 'Kundu' ein Jahr später. Mit dem Geld, das er mit den Romanen verdiente, reiste er ins Ausland und lebte einige Zeit in Österreich, Italien, England und den USA. Viele seiner Bücher sind von seiner Zeit in Italien inspiriert. Erst 1980 kehrte er nach Australien zurück. Wests Bekanntheit wurde durch einige Verfilmungen seiner Bücher noch gesteigert. Viele seiner Werke behandeln ethisch-religiöse Konflikte oder haben politische Brisanz. Am 9. Oktober 1999 starb Morris West in Sydney.
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1
Es war heller Sommermittag in den Hochtälern der Toskana. Eine träge Zeit, die Jahreszeit von Staub und Schlaffheit, von abgeerntetem Flachs und Lerchen in Stoppelfeldern, von neuem Wein, der heranreifte im Land der alten Götter.
Es war eine Stunde des Glockenschlags – träge schwingend über die Gräber toter Heiliger und vergessener Landsknechte. Eine Stunde der Dunkelheit hinter geschlossenen Läden, denn wer anders als Hunde und törichte Amerikaner würde sich der heißen Augustmittagssonne aussetzen?
Im Dorf San Stefano klangen die ersten Schläge des Angelus über die Piazza. Still lag das Dorf, schläfrig und satt von einer guten Ernte, in der Hitze.
Ein alter Mann blieb stehen und bekreuzigte sich mit gesenktem Kopf. Vor der Tür des Restaurants stand ein dicker Bursche mit weißer Schürze und einem karierten Tuch über dem Arm und stocherte mit einem Streichholz in den Zähnen. Ein Polizist mit einem Eselsgesicht trat vor seine Tür, spähte träge über den Platz, spie aus, kratzte sich und kehrte zu seinem Wein und Käse zurück.
Aus den Mäulern müder Delphine rann ein dürftiger Wasserstrahl in das flache Becken des Brunnens, in dem ein dünner kleiner Bursche ein Boot aus Papier schwimmen ließ. Ein Mann zog einen Karren klappernd über das Kopfsteinpflaster, hochbeladen mit Reisigbündeln und braunen Beuteln Holzkohle, auf denen hoch oben ein winziges kraushaariges Mädchen thronte. Eine barfüßige Frau, ein Baby im Arm, trat aus der Weinhandlung und ging über die Piazza zur Allee am anderen Ende. Ein paar Kilometer entfernt ragten die Türme und Dächer Sienas in den kupfernen Dunst.
Es war eine friedvolle Szenerie, mit wenig Menschen, seltsam antik anmutend und bewegt nur vom langsamen Pulsschlag des Landlebens. Hier floß die Zeit träge dahin, wie das Wasser des Brunnens, und der einzige Wechsel war der von Alter und Jahreszeit. Es war ein Platz, wo Tradition viel wichtiger schien als Fortschritt, wo Überliefertes gepflegt und verehrt wurde wie alte Liebe und alter Haß.
Eine Straße führte hinein und eine hinaus, von Arezzo nach Siena. Doch nur im Sommer gab es auf ihr spärlichen Verkehr. Handel und Tourismus hatten San Stefano nie berührt. Die Güter in den Tälern waren klein und wurden von ihren Bauern eifersüchtig vor Fremden bewahrt. Wer fortging, galt als ruhe- oder wurzellos oder von Ehrgeiz geplagt. Das Dorf war froh, solche loszuwerden.
Noch ehe das letzte Echo der Glocke verhallte, war die Piazza menschenleer. Die Läden waren geschlossen, die Vorhänge zugezogen, und der Staub setzte sich in die Pflasterritzen, während das Zirpen der Zikaden sich grell und monoton aus den Feldern der Umgebung erhob.
Knapp zehn Minuten später trat der Glöckner aus der Kirche, ein älterer Mönch in der staubigen Kutte der Franziskaner, mit weißem Haar, in das eine Tonsur geschnitten war, und einem roten Gesicht, so rund wie ein Winterapfel. Einen Augenblick stand er im Schatten des Portals und trocknete sich das Gesicht mit einem roten Taschentuch. Dann zog er die Kapuze über den Kopf und ging mit klappernden Sandalen über die glühendheißen Steine der Piazza.
Er hatte noch keine zehn Schritte getan, als ein höchst ungewöhnlicher Anblick ihn stehenbleiben ließ. Ein Taxi aus Siena kam langsam auf die Piazza gerollt und blieb vor dem Restaurant stehen. Eine Frau stieg aus, bezahlte den Fahrer und sah dem Wagen nach, bis er verschwunden war.
Sie war jung, bestimmt nicht älter als fünfundzwanzig, und ihre Kleidung war die einer Städterin: ein Schneiderkostüm, weiße Bluse, modische Schuhe und eine Tasche an einem Lederriemen über der Schulter. Sie trug keinen Hut, und ihr dunkles Haar fiel in Wellen über ihre Schultern. Ihr Gesicht war blaß, still und von einzigartiger Schönheit, wie das einer wächsernen Madonna. In der menschenleeren, im Sonnenglast liegenden Piazza wirkte sie unsicher und vereinsamt.
Eine Weile stand sie da und sah sich um, als suche sie sich in einer einst vertrauten Gegend zurechtzufinden. Dann ging sie mit entschlossenen Schritten zu einem Haus zwischen Weinhandlung und Bäckerei und zog die Glocke. Eine dicke Matrone in Schwarz mit weißer Schürze öffnete die Tür. Sie wechselten ein paar Worte, und die Matrone bat sie mit einer Geste einzutreten. Sie lehnte ab, und die Matrone ging, die Tür offenlassend. Das Mädchen wartete und suchte etwas in ihrer Tasche, während der Mönch, neugierig wie jeder Landbewohner, beobachtete, was geschah.
Eine halbe Minute verging. Dann tauchte ein Mann in der Tür auf, ein großer, kräftiger Bursche in Hemdsärmeln, mit grauem Haar und blassem faltigem Gesicht. Eine Serviette steckte in seinem offenen Hemd. Er kaute noch, und in dem klaren Mittagslicht konnte der Bruder einen Tropfen Soße an seinem Mundwinkel herunterlaufen sehen. Ohne ein Zeichen des Erkennens sah er das Mädchen an und stellte ihr eine Frage.
Sie schoß ihn in die Brust.
Die Wucht der Kugel schleuderte ihn gegen den Türstock, und schreckgelähmt sah der Mönch, wie sie ihn noch viermal traf, sich dann abwandte und ohne Eile auf die Polizeistation zuging. Noch dröhnte das Echo der Schüsse über die Piazza, als der Mönch zitternd und stolpernd losstürzte, um einem Mann Absolution zu erteilen, dessen Seele schon nicht mehr auf dieser Erde weilte.
Im fünf Meilen entfernten Siena saß Doktor Alberto Ascolini für sein Porträt – eine Belanglosigkeit, der er sich mit Ironie unterzog.
Er war ein großer Mann von fünfundsechzig Jahren, mit einem lebhaften rosigen Gesicht und einer schneeweißen Mähne, die betont wirr über seinen Kragen floß. Er trug einen seidenen Anzug, makellos geschnitten, doch wohlberechnet unmodern, die seidene Krawatte schmückte eine Brillantnadel. Er sah wie ein Schauspieler aus – ein äußerst erfolgreicher Schauspieler. Doch er war Rechtsanwalt. Einer der erfolgreichsten Anwälte Roms.
Die Malerin war schlank und dunkel, Ende Zwanzig, mit braunen Augen, offenem Lächeln und ausdrucksvollen, schönen Händen. Sie hieß Ninette Lachaise. Ihr Atelier überblickte die Dächer Sienas, bis hin zum Campanile der Assunta. Es war geteilt in Studio und Wohnraum und eingerichtet mit ausgesuchten Stücken einheimischer Handwerkskunst. Ihre Bilder waren Spiegel ihres Wesens – lichtüberflutet, wenig detailliert und voller Bewegung. Eine Fortentwicklung der primitiven toskanischen Tradition zur Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts.
Sie fertigte mit Kohle eine Anzahl lebendiger Skizzen von ihrem Modell, das, halb im Schatten, halb in der Sonne sitzend, Skandalgeschichten aus römischen Prozessen erzählte.
Es war eine Glanzleistung – von ihr wie von ihm. Die Geschichten des alten Mannes waren voll Witz, Bosheit und raffinierter Schlüpfrigkeit.
Die Skizzen waren lebendig und echt – es schien, als steckten ein Dutzend Männer in der rosa Haut dieses ungemein intelligenten Lebemannes.
Ascolini beobachtete sie mit seinen klugen Augen und sagte schließlich unvermittelt und voller Scheinpathos: »Wenn ich bei Ihnen bin, Ninette, trauere ich stets meiner Jugend nach.«
»Wenn Sie nichts anderem nachtrauern müssen, dottore«, sagte sie mit leiser Ironie, »dann sind Sie ein sehr glücklicher Mensch.«
»Was gibt es sonst noch, das des Nachtrauerns wert wäre – ausgenommen die Torheiten, die man nicht begangen hat?«
»Vielleicht die Folgen der Torheiten, die man begangen hat.«
»Aber, aber, Ninette.« Ascolini gestikulierte mit seinen ausdrucksvollen Händen und lachte trocken. »Keine Vorlesungen, bitte. Heute ist mein erster Urlaubstag. Ich bin hergekommen, um abgelenkt zu werden.«
»Nein, dottore«, sie lächelte und zeichnete mit raschen kräftigen Strichen weiter, »ich kenne Sie zu gut und zu lange. Wenn Sie mit mir Kaffee trinken oder mich zum Essen einladen, dann sind Sie mit der Welt zufrieden. Wenn Sie mir einen Auftrag geben oder mir zuviel für meine Landschaften bezahlen, dann haben Sie irgendein Problem. Sie bieten mir ein Honorar, um es zu lösen. Eine schlechte Gewohnheit ist das, nicht? Macht Ihnen gar keine Ehre.«
Sein glattes, noch immer jugendliches Gesicht umwölkte sich flüchtig, dann lächelte er verlegen. »Aber Sie nehmen das Honorar trotzdem, Ninette. Warum?«
»Ich verkaufe Ihnen meine Bilder, dottore, nicht meine Sympathie. Die haben Sie umsonst.«
»Sie beschämen mich, Ninette«, sagte der alte Mann.
»Nichts beschämt Sie, dottore. Und das ist auch die Wurzel all Ihrer Kümmernisse. Mit Valeria, mit Carlo und mit sich selbst. Fertig!« Sie machte einen letzten Strich und wandte sich ihm mit ausgestreckter Hand zu. »Genug der Worte. Die Sitzung ist zu Ende. Kommen Sie und sehen Sie sich’s an.
« Sie führte ihn zur Staffelei und hielt ihn bei der Hand, während er die Skizzen ansah. Er schwieg lange und sagte schließlich ohne jeden Spott:
»Sind das alles meine Gesichter?«
»Nur die, die Sie mir zeigen.«
»Sie glauben, ich habe noch mehr?«
»Ich weiß es. Sie sind ein zu vielschichtiger Mann, dottore, zu verwirrend in jeder Gestalt.«
»Und wo ist der wahre Ascolini?«
»In allen – und in keinem.«
»Erklären Sie sie mir, Kind.«
»Das hier: der große Jurist. Der Mann, der Roms Gerichte beherrscht. Er ist recht wandlungsfähig, wie Sie sehen. Hier ist er der Liebling der Salons, der Spaßmacher, der die Männer erröten läßt und die Damen zum Kichern bringt, wenn er in ihre bereitwilligen Ohren flüstert. Und hier? Ein Schnappschuß im Sordello: Ascolini beim Wein mit seinen Studenten, traurig, keinen eigenen Sohn zu haben. Hier...




