West | Der Tag der Heuschrecke | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 272 Seiten

West Der Tag der Heuschrecke

Roman
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-641-11878-5
Verlag: Manesse
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 272 Seiten

ISBN: 978-3-641-11878-5
Verlag: Manesse
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Wiederentdeckung eines US-amerikanischen Kultautors
Hollywood: nirgends gedeihen Illusionen prächtiger, nirgends werden sie rascher entsorgt. Hauptsache, die Show geht weiter. Dieser Roman ist eine herrlich respektlose Nahaufnahme der Traumfabrik, eine filmreife Parodie auf Starkult und kollektiven Selbstbetrug.

Keiner hat das wahre Hollywood mit seinen Widersprüchen, Abgründen und Hell-Dunkel-Kontrasten schärfer erfasst als Nathanael West. In seiner Satire widmet er sich den Schattenseiten einer durch und durch künstlichen Welt, in der die Verlierer in der Überzahl sind: die ewigen Statisten, Sternchen, Schmalspurdiven und Reservehelden. Je zweifelhafter deren Aussicht auf das große Los, desto verbissener hängen sie ihren Illusionen nach - und überbieten sich in einer Parade der Peinlichkeiten und Selbstentblößungen.

Einmal mehr besticht Nathanael West hier mit der hohen Kunst der Zuspitzung. Schonungslos bis zum Zynismus legt er das Urkomische im Tragischen frei und entlarvt seine Figuren als hoffnungslose Träumer, ohne sie dabei zu diffamieren. Wunsch und Wirklichkeit mögen noch so weit auseinanderklaffen, menschliche Sehnsüchte sind einfach nicht totzukriegen. So ist dieses Buch eine Demaskierung des neuzeitlichen Wahns, um jeden Preis ein Star werden zu müssen, und ein tiefer Seufzer angesichts evidenter Aussichtslosigkeit.

  • Neuübersetzung


Nathanael West (1904-1940), Sohn litauischer Juden, wurde als Nathan Weinstein in New York geboren. In den 1930er-Jahren Drehbuchschreiber in Hollywood, war er mit so namhaften Schriftstellerkollegen wie F. Scott Fitzgerald oder Dashiell Hammett befreundet. Sein schmales, aber hochkarätiges Erzählwerk weist ihn als gewitzten Kritiker neuzeitlicher Glücksideologien aus.
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2

Das Haus, in dem er wohnte, war ein undefinierbares Objekt, das sich «San Bernardino Apartments» nannte. Es bestand aus einem dreistöckigen Langbau, dessen Rückseite und Seitenwände aus rauem, ungestrichenem Verputz waren, durchbrochen von gleichmäßigen Reihen schmuckloser Fenster. Der Fassadenanstrich hatte die Farbe von verdünntem Senf, und sämtliche Doppelfenster wurden von rosafarbenen, maurischen Säulen gerahmt, auf denen rübenförmige Stürze ruhten.

Sein Zimmer lag im dritten Stock, aber auf dem Treppenabsatz zum zweiten hielt er einen Moment lang inne. Auf dieser Etage wohnte Faye Greener in 208. Als in einem der Apartments jemand loslachte, zuckte er wie ertappt zusammen und eilte weiter die Treppe hinauf.

Als er seine Tür öffnete, flatterte eine Karte zu Boden.

DER EHRENWERTE

ABE KUSICH

– prangte da in großen Lettern, und darunter standen in kleineren Kursivbuchstaben diverse Ergänzungen, die so gedruckt waren, dass sie wie Pressemeldungen aussahen.

«… die Lloyds von Hollywood» – Stanley Rose

«Abes Wort wiegt schwerer als Morgans Rentenversicherung» – Gail Brenshaw

Auf die Rückseite war mit Kugelschreiber eine Nachricht gekritzelt:

«Kingpin viertes Rennen, Solitair sechstes. Mit diesen Gäulen kann man mächtig Kohle machen.»

Nachdem er das Fenster geöffnet hatte, zog er sein Jackett aus und legte sich aufs Bett. Durchs Fenster konnte er ein glasiertes Rechteck des Himmels und einen Eukalyptusstrauch sehen. Eine leichte Brise bewegte die langen, schmalen Blätter, sodass sie erst ihre grüne und dann ihre silberne Seite zeigten.

Um nicht an Faye Greener denken zu müssen, dachte er an «den ehrenwerten Abe Kusich». Er fühlte sich wohl, und das sollte auch so bleiben.

Abe war eine wichtige Figur in einer Serie von Lithographien mit dem Titel «Die Tänzer», an denen Tod arbeitete. Abe war einer der Tänzer. Eine der Tänzerinnen war Faye Greener, und ihr Vater Harry war ein weiterer Tänzer. Sie veränderten sich mit jeder Druckplatte, doch die Schar unheimlicher Leute, die das Publikum bildete, blieb stets die gleiche. Sie standen da und starrten die Darsteller genauso an, wie sie die Maskenträger auf der Vine Street anstarrten. Es war ihr Starrblick, der Abe und die anderen dazu trieb, sich wie wahnsinnig zu verrenken und mit verdrehtem Rumpf durch die Luft zu torkeln wie Forellen am Angelhaken.

Trotz der ehrlichen Empörung, die Abes groteske Verkommenheit in ihm auslöste, war ihm seine Gesellschaft angenehm. Der kleine Mann inspirierte ihn und löste in ihm das unabweisbare Gefühl aus, ihn malen zu müssen.

Er hatte Abe kennengelernt, als er in der Ivar Street in einem Hotel namens «Chateau Mirabella» wohnte. Ein anderer Name für Ivar Street war «Lysol Alley»3, und das Chateau wurde hauptsächlich von Nutten, ihren Zuhältern, Zureitern und Gläubigern bewohnt.

Morgens stanken die Flure nach Desinfektionsmitteln. Tod mochte den Geruch nicht. Darüber hinaus war die Miete hoch, weil sie Polizeischutz mit einschloss, einen Service, den er nicht nötig hatte. Er wollte ausziehen, aber Trägheit und die Tatsache, dass er nicht wusste, wohin, hielt ihn im Chateau fest, bis er Abe kennenlernte. Die Begegnung war purer Zufall.

Eines späten Abends war Tod unterwegs zu seinem Zimmer, als er etwas sah, was er für einen Haufen schmutziger Wäsche hielt, der im Flur vor der Tür gegenüber seiner eigenen lag. Als er daran vorbeiging, bewegte sich das Bündel und machte ein merkwürdiges Geräusch. Er riss ein Streichholz an und glaubte, dass es sich um einen in eine Decke eingewickelten Hund handelte. Als das Streichholz aufflammte, sah er, dass es ein winziger Mann war.

Das Streichholz ging aus, und er entzündete hastig ein neues. Es war ein Zwerg, der sich in den Flanellbademantel einer Frau eingerollt hatte. Das runde Ding am Ende war sein wasserkopfartig geformter Schädel. Ein leises röchelndes Schnarchen stieg gurgelnd von ihm auf.

Der Flur war kalt und zugig. Tod entschloss sich, den Mann zu wecken, und stieß ihn mit den Zehenspitzen an. Er stöhnte und schlug die Augen auf.

«Sie sollten da nicht schlafen.»

«Fahr zur Hölle», sagte der Zwerg und schloss wieder die Augen.

«Sie werden sich erkälten.»

Diese wohlmeinende Äußerung machte den kleinen Mann noch wütender. «Ich will meine Klamotten!», brüllte er.

Aus dem Türspalt, vor dem er lag, fiel Licht. Tod entschloss sich, das Risiko einzugehen, und klopfte. Nach ein paar Sekunden öffnete eine Frau einen Spaltbreit.

«Was zum Teufel wollen Sie?», fragte sie.

«Hier draußen ist ein Freund von Ihnen, der…»

Keiner von beiden ließ ihn ausreden.

«Ja, und?», bellte sie und knallte die Tür zu.

«Gib mir meine Klamotten, du Miststück!», brüllte der Zwerg.

Sie öffnete die Tür wieder und fing damit an, Sachen auf den Flur zu werfen. Ein Jackett und eine Hose, ein Hemd, Socken, Schuhe und Unterwäsche, ein Schlips und ein Hut flogen in rascher Folge eins nach dem anderen durch die Luft. Jeder Gegenstand wurde mit einem speziellen Fluch belegt.

Tod stieß einen staunenden Pfiff aus. «Was für ’n Weib!»

«Kann man wohl sagen», sagte der Zwerg. «’ne Extraordinäre – Schreckschraube von oben bis unten und ’nen Meter in der Breite.»

Er lachte über seinen eigenen Witz in einem schrillen Gegacker, das zwergenhafter klang als alles, was er bislang von sich gegeben hatte. Dann rappelte er sich auf und raffte den viel zu langen Mantel, um beim Gehen nicht darüber zu stolpern. Tod half ihm, die verstreuten Kleidungsstücke einzusammeln.

«Sagen Sie mal, Mister», fragte er, «kann ich mich in Ihrer Bude anziehen?»

Tod ließ ihn in sein Badezimmer. Während er darauf wartete, dass er wieder herauskam, konnte er nicht umhin, sich auszumalen, was im Apartment der Frau vorgefallen sein mochte. Fast tat es ihm leid, sich eingemischt zu haben. Aber als der Zwerg mit seinem Hut auf dem Kopf herauskam, stieg Tods Stimmung wieder.

Der Hut des kleinen Manns brachte fast alles wieder ins Lot. In diesem Jahr trug man auf dem Hollywood Boulevard bevorzugt Tirolerhüte, und der des Zwergs war ein besonders schönes Exemplar. Er hatte die richtige zaubergrüne Farbe und eine hohe, kegelförmige Spitze. Vorne hätte eigentlich noch eine Messingschnalle angebracht sein müssen, aber ansonsten war er perfekt.

Der Rest seiner Garderobe passte nicht recht zu dem Hut. Statt spitzer Schuhe mit Lederlaschen trug er einen blauen Zweireiher und ein schwarzes Hemd mit gelbem Schlips. Statt eines gebogenen Spazierstocks mit Metallspitze hielt er eine zusammengerollte Ausgabe des «Daily Running Horse»4 in der Hand.

«Das hab ich jetzt davon, mit Dreigroschenweibern rumzumachen», sagte er beiläufig und grüßte.

Tod nickte und versuchte, sich auf den grünen Hut zu konzentrieren. Sein vorbehaltloses Einverständnis schien den kleinen Mann zu irritieren.

«Keine Fotze darf Abe Kusich den Stinkefinger zeigen und kommt ungestraft davon», sagte er bitter. «Nicht wenn ich ihr für zwanzig Kröten das Bein brechen lassen kann, und die zwanzig habe ich.» Er zückte eine pralle Brieftasche und schüttelte sie in Tods Richtung.

«Die denkt also, sie kann mir den Stinkefinger zeigen, hä? Also, ich will Ihnen mal was sagen…»

Tod schnitt ihm prompt das Wort ab. «Sie haben recht, Mr Kusich.»

Der Zwerg ging näher zu Tod hin, und für einen Moment glaubte Tod, dass er ihm auf den Schoß klettern wollte, aber er erkundigte sich nur nach seinem Namen und schüttelte ihm die Hand. Der kleine Mann verfügte über einen enorm festen Händedruck.

«Ich will Ihnen mal was sagen, Hackett, wenn Sie nicht vorbeigekommen wären, hätte ich die Tür aufgebrochen. Dieses Weibsbild denkt, sie kann mir den Stinkefinger zeigen, aber das wird ihr noch mal leidtun. Jedenfalls vielen Dank.»

«Vergessen Sie’s.»

«Ich vergesse gar nichts. Ich erinnere mich. Ich erinnere mich an diejenigen, die mich schäbig behandeln, und an diejenigen, die mir einen Gefallen tun.» Er runzelte die Stirn und schwieg einen Moment.

«Hören Sie», sagte er schließlich, «angesichts Ihrer Hilfe für mich muss ich mich revanchieren. Ich möchte nicht, dass einer rumläuft und erzählt, Abe Kusich sei ihm was schuldig. Also verrate ich Ihnen jetzt mal was. Ich geb Ihnen ’nen heißen Tipp für das fünfte Rennen in Caliente. Sie setzen ’nen Fünfer auf seine Nase und streichen zwanzig Kröten dafür ein. Was ich Ihnen da sage, stimmt haargenau.»

Tod wusste nicht, was er darauf antworten sollte, und sein Zögern beleidigte den kleinen Mann.

«Würde ich Ihnen etwa ’nen faulen Tipp geben?», fragte er finster. «Würde ich das etwa?»

Tod ging zur Tür, um ihn loszuwerden. «Nein», sagte er.

«Und warum wollen Sie dann nicht wetten, hä?»

«Wie heißt das Pferd?», fragte Tod in der Hoffnung, ihn damit zu besänftigen.

Der Zwerg war ihm zur Tür gefolgt und zog den Bademantel an einem Ärmel hinter sich her. Selbst mit Hut reichte er nur bis dreißig Zentimeter unter Tods Gürtel.

«Tragopan. Das ist ein bombensicherer Sieger. Ich kenne den Typen, dem er gehört, und er hat mich instruiert.»

«Ist das ein Grieche?», fragte Tod.

Er verhielt sich höflich, um sein Vorhaben zu verschleiern, den Zwerg durch die Tür hinauszukomplimentieren.

«Ja, das ist ein Grieche. Kennen Sie den?»

«Nein.»

«Nein?»

«Nein», sagte Tod mit Bestimmtheit.

«Nun rasten Sie bloß nicht aus», wies ihn der Zwerg zurecht, «ich will doch...


West, Nathanael
Nathanael West (1904–1940), Sohn litauischer Juden, wurde als Nathan Weinstein in New York geboren. In den 1930er-Jahren Drehbuchschreiber in Hollywood, war er mit so namhaften Schriftstellerkollegen wie F. Scott Fitzgerald oder Dashiell Hammett befreundet. Sein schmales, aber hochkarätiges Erzählwerk weist ihn als gewitzten Kritiker neuzeitlicher Glücksideologien aus.



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