E-Book, Deutsch, 122 Seiten
Weßling Anhang zum Buch: Was für ein Zufall!
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7568-7627-3
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Über Unvorhersehbarkeit, Komplexität und das Wesen der Zeit
E-Book, Deutsch, 122 Seiten
ISBN: 978-3-7568-7627-3
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dieser Anhang gehört zu dem Buch "Was für ein Zufall! Über Unvorhersehbarkeit, Komplexität und das Wesen der Zeit", Springer Nature 2022 (https://link.springer.com/gp/book/9783658377540)
Dr. Bernhard Weßling, Chemiker, Naturforscher und Unternehmer. Mehr über den Autor auf www.bernhard-wessling.com
Autoren/Hrsg.
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Teil 2: Das erste Forschungsprojekt – die Entdeckung einer Viskositätsformel für mehrphasige Polymersysteme
Im Buch habe ich erklärt, warum ich mit der Vorgehensweise in der Schallplattenmassenproduktion unzufrieden war. Es war ein endloses Gefummele, für praktisch jeden Auftrag musste die Zusammensetzung neu eingestellt werden, was oft viele Tage, manchmal Wochen erforderte. Ich wollte dem Ganzen systematisch auf den Grund gehen. Meine Vorgehensweise war die folgende: Ich untersuchte zuerst die Viskosität der Schmelze der verschiedenen reinen PVC-Komponenten bei der Temperatur, bei der die Schallplatten gepresst werden. Anschließend nahm ich diese Polymere und versetzte sie unter üblichen Verarbeitungsbedingungen jeweils mit den einzelnen verschiedenen Additiven (darunter auch nicht-schmelzende Füllstoffe und bei den Verarbeitungs- und Pressbedingungen nicht schmelzende PVC-Polymere, die ebenfalls hinzugesetzt wurden), und das in unterschiedlichsten Konzentrationen. Für eine für alle Proben vergleichbaren sehr niedrige Schergeschwindigkeit berechnete ich (damals noch manuell) den natürlichen Logarithmus ln dieser verschiedensten Muster: Es waren Dutzende. Aus den vielen Werten zeichnete ich mir Grafiken. Es zeigte sich: Jede dieser Komponenten trug zum (natürlichen) Logarithmus des Endproduktes genau entsprechend ihrem Anteil des (logarithmischen) Wertes ihrer Viskosität bei. Überraschenderweise fand ich heraus, dass ich auch den Füllstoffen und anderen nicht schmelzenden Komponenten solch einen Viskositätsbeitrag zuordnen konnte, wenn ich sie in eine schmelzende Polymerbasis einmischte1. Und das, obwohl sie als solche eine unendlich hohe Viskosität aufweisen, eben weil sie auch in der Schallplattenschmelze als feinteilige Feststoffe mitfließen. Die einfache Gleichung, die ich entdeckte, hatte die Form: ln (resultierende Viskosität) = 0,x*ln(A) + 0,y*ln(B) + 0,z*ln(C), wobei es auch mehr Gleichungsglieder als nur drei geben durfte, mit 0,x + 0,y + 0,z = 1, bzw. so viele Buchstaben, wie es Gleichungsglieder gab, die sich dann zu 1 aufsummierten. Dabei ist A die Viskosität der Grundmatrix, eines PVC-VA-Copoly-meren2 „A“, B die scheinbare Viskosität (oder der Beitrag zum Anstieg der Viskosität) eines hinzugemischten PVC-Homopolymeren „B“ und C der Beitrag eines Füllstoffs „C“ zum Anstieg der Viskosität, usw. Der Clou und überraschende Effekt dieser Entdeckung war, dass das hinzugemischte Homopolymer bei der Temperatur, bei der wir die Mischung herstellten, geschweige denn bei der, bei der eine Schallplatte gepresst wurde, nicht schmolz, also eine fast unendlich hohe Viskosität aufwies. Viel drastischer galt dies für die Füllstoffe und den Ruß (der wegen der notwendigerweise schwarzen Farbe hinzugesetzt wurde): Diese schmolzen gar nicht, es sei denn, bei soundso viel tausend Grad nahe dem Erdkern. Dennoch trugen beide diese Stoffarten B und C in Form des natürlichen Logarithmus einer Viskosität zur Gesamtviskosität bei. Wie in Kapitel 3 beschrieben, schrieb ich ein einfaches Programm (die einzige Software, die ich jemals komplett allein geschrieben habe) in der Programmsprache BASIC, setzte die Daten in geordneter Form in Dateien und ließ anschließend den Rechner die Versuche innerhalb von nur wenigen Minuten machen (berechnen), für die zuvor Tage und Wochen im Labor benötigt wurden. Und es zeigte sich, dass die berechneten Formulierungen ohne jede Korrektur nach nur einem Sicherheits-Testlauf im Labor (zur Sicherheit) in die Produktion gegeben werden konnten. Das war nur einer der Auslöser für den Beginn meiner nach und nach immer tiefer gehenden Forschung. Ich hatte mich entschlossen, diese unbekannte Wissens-Landschaft der Dispersion zu erkunden. Natürlich wusste ich nicht, wie ich es machen sollte. Denn im Unterschied zu einem Geographen oder Biologen, der früher unbekannte Länder oder Erdteile erkundete, indem er mit einer Expedition zu Boot, zu Pferd oder zu Fuß das Land durchstreifte, konnte ich ja nicht einfach hineingehen und nachschauen. Ich musste überhaupt erst einmal herausfinden, mit welchen Mitteln und Werkzeugen ich die Phänomene des Kunststoff-Compoundierens (also der Vermischung oder korrekter der Dispersion von thermoplastischen Polymeren mit anderen Polymeren oder Additiven und Füllstoffen) erforschen konnte. Ich hatte inzwischen aber erkannt, dass in meiner Schallplattenmassen-Viskositätsberechnung ein Viskositätsbeitrag der nicht schmelzenden Bestandteile nur davon abhing, wie klein die Teilchen waren, und überhaupt nicht davon, welcher Art die Teilchen waren – egal ob anorganisch oder organisch, polar oder unpolar: Je kleiner die Partikel, umso größer war ihr Viskositätsbeitrag pro Gewichts-Anteil. Das konnte nur an der Summe der Teilchenoberflächen liegen, denn 1 Gewichts-Prozent eines Stoffes bestehend aus Teilchen mit 1 µm Partikelgröße brachte um Größenordnungen mehr Teilchen mit viel mehr Oberfläche in die Mischung ein als ein Stoff mit 10 µm Teilchengröße, aber ebenfalls 1 Gewichts-Prozent Anteil. Dies zusammen mit der Form der Gleichung (siehe oben) war eine bahnbrechende Erkenntnis, die mir nicht sofort aufging, sondern erst scheibchenweise klar wurde: Die Viskosität einer Polymermatrix wurde durch darin dispergierte (nicht aufgeschmolzene und nicht molekular in der Matrix verteilte) Teilchen deshalb beeinflusst, weil an den Grenzflächen zwischen der kontinuierlichen und der dispergierten Phase etwas Entscheidendes geschah, während dort die kontinuierliche Matrix (das Dispersionsmedium, die Matrix) und die dispergierten Teilchen miteinander wechselwirkten. Was das war, wusste ich noch nicht. Aber mir war klar: je kleiner die Teilchen, umso größer die in der Dispersion aktiven Grenzflächen und somit ihr Beitrag zur Viskosität der Mischung. Nun bekam das Unerforschte ein Bild und einen Namen. Ich konnte Etappenziele beschreiben, die unerforschte „Landschaft“ bekam eine erste, wenn auch sehr grobe, Landkarte. Ich wollte die Herstellung und die resultierenden Eigenschaften mehrphasiger Polymersysteme erforschen. Ich nahm mir damals vor, meine Forschung auf drei Säulen zu stellen: 1. Dispersion von Pigmenten in thermoplastischen Polymeren (wir hatten begonnen, Farbkonzentrate zu entwickeln und zu produzieren) 2. Dispersion von sogenanntem Leitruß in den gleichen Polymeren, um im Elektronikmarkt benötigte leitfähige, oder richtiger: antistatische, Kunststoffe liefern zu können, und 3. als Vision: Dispersion von leitfähigen Polymeren wie Polyacetylen (das leider oxidationsempfindlich war; aber konnte man vielleicht mit der Dispersion in ein gewöhnliches Polymer und dadurch mit einer Art Umhüllung einen gewissen Schutz vor Oxidation erzielen?3). Diese drei Teilprojekte bearbeitete ich, indem ich mir überschaubare, aber von vornherein schon anspruchsvolle Ziele setzte. Ich kombinierte praktische Entwicklungsarbeiten (Kundenprojekte) aus den Säulen 1 und 2 mit langfristigeren Fragestellungen in allen dreien. Ich hatte keinerlei Vorstellung davon, ob und wann ich welche Erkenntnisse würde gewinnen können. Die Aussicht, dass es viele Jahre dauern würde, bis ich etwas Verwertbares herausgefunden haben könnte, erschreckte oder beunruhigte mich überhaupt nicht. Nachtrag: Die Schallplattenmassenabteilung befand sich trotz des beschriebenen Produktivitätsfortschritts aufgrund der Berechenbarkeit der Viskosität einer neuen Zusammensetzung auf dem absteigenden Ast. Nicht wegen der CDs, die gab es damals noch nicht, sondern wegen der kleinen, kompakten Magnettonbänder, die aus Japan kommend den Unterhaltungsmusikmarkt überschwemmten. Mehr und mehr reduzierte sich der Schallplattenmarkt und somit unsere Kundschaft auf hochwertige klassische Musik, auf Langspielplatten. Eine kleine Erholung bescherte ich der todkranken Abteilung, als ich 1983 die weltweit ersten funktionierenden antistatischen Schallplattenpreßmassen erfand und patentierte.4 Im Unterschied zu früheren Versuchen, die lästige statische Aufladung der Schallplatten zu vermeiden, bildeten sich mit unserem Produkt keine Flecken auf den Schallplatten, die Wiedergabequalität war wesentlich klarer als bei herkömmlichen Compounds, und die antistatische Wirkung war langzeitstabil. Dies erreichte ich mit einem speziellen Antistatikum und einem etwas aufwendigen Herstellungsprozeß, der eine extrem gleichmäßige Verteilung des Antistatikums erlaubte. Plötzlich führten wir in diesem alten Markt eine lang ersehnte Innovation ein und lieferten sehr viel ertragreichere Spezialprodukte zur Herstellung besonders hochwertiger Schallplatten. Nur war dies sowohl für Zipperling als auch für den gesamten Markt um Jahrzehnte zu spät. 1 Erst einige Jahre später im Verlauf meiner weiteren Forschung habe ich erkannt, dass dies eine sehr wichtige (und für die Wissenschaft komplett neue) Entdeckung war. Erst später im Zusammenhang mit meiner entstehenden grundlegenden Theorie der Dispersion verstand ich, warum auch nicht...




