Vier Bausteine für eine effiziente und menschliche Versorgung
E-Book, Deutsch, 217 Seiten
ISBN: 978-3-98800-149-8
Verlag: medhochzwei Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zielgruppe
Führungskräfte und im Krankenhaus tätige Berufsgruppen wie Krankenhausdirektoren, Klinikmanager, Pflegedirektoren, Ärzte, Krankenhausträger, Entscheider in der Gesundheitsbranche, Politik und Verbänden, Studierende der Medizin, der Pflegewissenschaften und weitere Healthcare-Studiengänge, Lehrkräfte in Hochschulen.
Autoren/Hrsg.
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1 EINLEITUNG
Ein normaler Werktag in Deutschland, morgens um 7 Uhr. Viele hunderttausend Menschen drängen sich in Treppenhäusern und vor Hauseingängen und – warten. Nein, sie warten nicht auf die Öffnung des Discounters, um bloß nicht das aktuelle Angebot zu verpassen. Sie warten auf Einlass. Einlass in eine von über 60.000 Arztpraxen, um dann, gewöhnlich gegen 8 Uhr, endlich ins Wartezimmer gelassen zu werden, wo es weiter warten heißt, bis dann der Haus- oder Facharzt endlich die durchschnittlich gut sieben Minuten Zeit findet (in Schweden sind es übrigens über 20 Minuten), sich um seinen Patienten zu kümmern. 250 Werktage im Jahr das gleiche Bild, und man muss kein Betriebs- oder Volkswirtschaftler sein, um zu erahnen, welche gigantischen Ressourcen hier an Arbeitszeit und damit Geld verschleudert werden. Und man muss auch kein Mediziner sein, um sich vorzustellen, dass es in dieser kurzen Behandlungs- und Gesprächszeit – zumal bei einer Erstdiagnose – schwierig ist, sich ein genaues Bild von den Beschwerden und damit von einer exakten Diagnose mit anschließend maßgeschneiderter Therapie zu machen. Ich will mit diesem szenischen Einstieg in das Thema keineswegs die Haus- und Fachärzte angreifen, die jeden Tag für ihre Patienten Großartiges leisten. Ganz im Gegenteil: Der „Massenbetrieb“ ist ja gerade Ausdruck ihres ärztlichen Ethos, ihres unermüdlichen Strebens, allen Menschen zu helfen, jedem gerecht zu werden, niemanden NICHT zu behandeln. Sie reiben sich jeden Tag in ihren Praxen auf, ohne aber natürlich in ihrem Kosmos und ihrem Verantwortungsbereich das System verbessern zu können. Aber auch die Arbeitszeit und die Kraft der Ärzte in Praxis und Krankenhaus ist beschränkt, zumal ein nicht unwesentlicher Teil davon nicht auf das Gespräch mit und die Behandlung von Patienten entfällt, sondern auf Dokumentation, die Erfüllung von Vorschriften und die Abrechnung der erbrachten Leistungen. Nicht nur die Patienten, auch und gerade die niedergelassenen Ärzte sind Leidtragende eines Gesundheitssystems und einer verfestigten Fortschrittsverweigerung, die Deutschland langsam, aber mit jedem Tag deutlich spürbarer von einer zeitgemäßen medizinischen Versorgung entfernt. Nicht wenige Ärzte haben mir gegenüber in den letzten Jahren erklärt, dass sie angesichts ihrer in den nächsten zehn Jahren bevorstehenden Praxisschließung oder -übergabe nicht mehr bereit oder in der Lage seien, neue und vor allem digitale Technologien einzuführen. Ich kann auf der einen Seite diese nur zu menschliche Haltung verstehen, zumal angesichts der gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen die Refinanzierung der damit verbundenen Investitionen ungewiss ist. Ich frage mich nur: Wer sonst im Wirtschaftsleben – vom Konzern bis zum Handwerksbetrieb – könnte es sich leisten, frank und frei zu erklären, nicht mehr in die Zukunft investieren zu wollen? Wahrscheinlich niemand, weil er sonst vom Markt verschwinden würde. Nur in der Medizin ist diese Einstellung überhaupt denkbar. Bei allem Verständnis für die schwierigen Umstände: Wenn wir uns fragen, warum das Faxgerät nach wie vor im Gesundheitswesen nicht wegzudenken ist, ist eine solche Geisteshaltung ein wesentlicher Grund. An diesem Punkt meiner Ausführungen will ich gleich zu Beginn des Buches mit einem Missverständnis, einem verbreiteten Selbstbetrug aufräumen: Nämlich, dass wir in Deutschland über eines der besten Gesundheitssysteme der Welt verfügen. Das mag vielleicht einmal so gewesen sein, ist aber aktuell definitiv nicht mehr der Fall. Richtig ist vielmehr, dass wir trotz Ausgabe von fast einer halben Billion Euro jährlich (!) für Gesundheitsdienstleistungen eine unterdurchschnittliche Lebenserwartung sowie – mit zunehmender Dynamik – ein ungesteuertes Krankenhaussterben verzeichnen. Schon heute spüren wir schmerzhaft den Mangel an gut ausgebildeten Pflegekräften, übrigens auch den Mangel an gut ausgebildetem Personal in fast allen anderen Berufsfeldern. Dafür gibt es jedoch bundesweit viel zu viele Krankenhausbetten, eine weit überbordende Bürokratie und das Primat des Datenschutzes statt des Patientenwohls. Wir sind in Deutschland leider zunehmend perfekt darin, risikoscheu zu agieren, Chancen und Perspektiven neuer Technologien geradezu reflexartig zunächst einmal abzuwürgen, statt zu fördern. Und noch eines zum so oft propagierten besten Gesundheitssystem der Welt: Bei solchen Aussagen geht es nicht um die reine medizinische Versorgung, beispielsweise eine komplexe Leberchirurgie. Es geht im Wesentlichen auch um die Frage, ob ein System so funktioniert, dass die Prozesse ineinandergreifen, wie man es aktuell erwarten darf und dies im Sinne der Patienten, deren Angehörigen und der Mitarbeitenden. Ein gutes Beispiel für dieses Zögern, das abwartende Beobachten, ist der im Dezember 2023 geschlossene EU AI Act, also die Verordnung zur Regulierung und Steuerung von künstlicher Intelligenz. Man kann zurecht die Frage stellen, ob es nicht prinzipiell naiv sei, seitens der EU die wahrscheinlich wirtschaftlich und technologisch wichtigste Kraft, eben künstliche Intelligenz, überhaupt regulieren zu wollen. Zumal in anderen Teilen der Welt diese staatliche Regulierung, im Übrigen auch noch ein bürokratisches Monster, gar nicht zur Debatte steht: Eine Geisteshaltung, die zunächst nach Hindernissen und nicht nach Chancen sucht, die immer erst reguliert statt fördert, die Kreativität unterdrückt und auf Gleichmacherei setzt. Um es klar zu sagen: Ich rede damit keinesfalls der ungebremsten Verbreitung einer sicherlich auch risikobehafteten Technologie das Wort. Im Gegenteil: Wir müssen, gerade in der Medizin, bei solchen Themen achtsam sein, das ist ja auch gelebter Standard bei der Einführung neuer Verfahren, Operationstechniken oder Medikamente. Aber das Verhältnis zwischen Fortschrittsoffenheit und gerechtfertigter Skepsis, zwischen Optimismus und Pessimismus, zwischen Machen und Verweigern ist für mich grundsätzlich aus der Balance geraten. Das zweite Missverständnis neben der irrigen Annahme, unser Gesundheitssystem sei Weltspitze, ist die Verwendung des Terminus. Das Wort „System“ suggeriert Effizienz, ineinandergreifende Zahnräder, ganzheitliches Denken, ein harmonisches Zusammenwirken im Sinne eines übergeordneten Ziels. Dabei ist eigentlich das genaue Gegenteil richtig: Unser Gesundheits-„System“ besteht aus Silos und Sektoren mit teils wiederstrebenden Partikularinteressen, deren Schnitt- und Übergabestellen demzufolge mehr schlecht als recht funktionieren. Jeder Patient erlebt dies auf seiner Reise – manchmal auch seiner Odyssee – zwischen Hausarzt, Facharzt, Krankenhaus, Rehabilitation und Pflegeheim. Schweren Herzens werde ich dennoch nachfolgend den Terminus Gesundheitssystem weiterverwenden, einfach weil er eingeführt und bekannt ist. Wir sollten aber niemals vergessen, dass das Gesundheitssystem eben kein funktionierender Organismus, keine geschmierte Prozesskette ist, sondern vielmehr von tiefen Gräben, Mauern und knallharten Individualinteressen geprägt ist. In diesem Bewusstsein beschäftigte ich mich als Direktor der Marburger Universität-HNO-Klinik schon Anfang der 2000er Jahre immer mehr mit den Möglichkeiten zur Optimierung eines dysfunktionalen Kliniksystems. Über die Jahre begriff ich, dass ich mit meinem Team die Abläufe in der HNO-Klinik optimieren konnte, dass diese Prozessgewinne nicht selten aber schon an der Schnittstelle zur nächsten Klinik verlorengingen. Dabei wurde klar, dass sich die großen Prozessstrukturen eines Krankenhauses oder gar einer Universitätsklinik nur von einem Teil, von einer Einheit her verbessern lassen. Mit diesem Gedankengang engagierte ich mich aus der nächsten Funktion heraus um eine nachhaltigere Strukturverbesserung als Ärztlicher Direktor und in der Weiterentwicklung als Ärztlicher Geschäftsführer, zunächst über fünf Jahre an der Universitätsklinikum Gießen und Marburg GmbH. Von dort ging es weiter nach Essen. Während meiner Zeit als Vorstandsvorsitzender der Essener Universitätsmedizin habe ich ein Konzept zur Weiterentwicklung von Krankenhäusern entwickelt, das sich an den drei Begriffen SMART, GREEN und HUMAN orientiert und eben nicht zuallererst den Fokus auf ECONOMIC setzt. Meine Gedanken habe ich über viele Veröffentlichungen nach außen getragen und in zahlreichen Veranstaltungen thematisiert. Dies war schon deshalb wichtig, um über die daraus entstandenen Diskussionen immer wieder zu hinterfragen, ob ich auf dem richtigen Weg bin, was die nächsten Schritte sein können oder müssen. Das Projekt begleitete ich mit der Herausgabe der drei Bücher Smart Hospital, Green Hospital und Human Hospital. Die Abfolge dieser Bücher ist kein willkürliches Sammelsurium von Schlagwörtern. Und schon gar nicht sind diese Themen als Trilogie zu verstehen, als abgeschlossener Weg, der nun sein Ende findet. Jedes Buch für sich ist vielmehr Bestandsaufnahme und Ermutigung, die Medizin digitaler, nachhaltiger, menschlicher und insgesamt besser wie auch zukunftsfester zu machen. Das zuletzt erschienene Buch Human Hospital ist die logische Vervollkommnung dieses Anspruches. Human Hospital beschreibt das Ziel unserer Arbeit: Das auf den Menschen fokussierte Krankenhaus, das, digital gestützt und ressourcenschonend, die traditionelle Rolle als nachgelagerte Reparaturwerkstatt hinter sich lässt und sich stattdessen als Partner, Begleiter und Ratgeber der Patienten versteht – von der Geburt bis zum Tod, im Grunde aber von der Pränatalmedizin bis zur Trauerbewältigung der Angehörigen. Und diese Neuausrichtung geht in Einklang mit zufriedenen, gesunden und motivierten Beschäftigten. Smart, Green, Human – alles geht ineinander über, baut aufeinander auf, verstärkt sich,...