E-Book, Deutsch, 480 Seiten
Werner Crazy Dogs
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-7725-4001-1
Verlag: Freies Geistesleben
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 480 Seiten
ISBN: 978-3-7725-4001-1
Verlag: Freies Geistesleben
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Brigitte Werner, Jahrgang 1948, lebt und arbeitet im Ruhrgebiet, hat zehn Jahre Grundschulkinder unterrichtet und ist von ihnen belehrt worden, hat diese Chance genutzt und ist ausgestiegen in das prächtige Leben der Kreativität. Sie hat Geschichten erzählt, hat wunderbare Menschen gefunden und erfunden, hat in ihrem Kindermitspieltheater gespielt, gewerkelt und Stücke geschrieben, für die sie ein paar Preise gewonnen hat, und schreibt nun Bücher für Kinder und Erwachsene, am besten über eine mögliche andere, bessere Welt, an die sie fest glaubt. Sie gibt Literaturseminare und Workshops und hält viele Lesungen.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1
Eines steht fest: Blöde Lehrer sollte man verbieten. Per Gesetz! Aber eigentlich war sie sonst nicht so blöd, eher das Gegenteil, ich meine Frau Schütte, unsere Deutschlehrerin. Sie tummelte sich auf meinem persönlichen Lehrerwertometer von Null bis Zehn immerhin bei Sieben oder Acht. Sie hatte sogar schon mal eine Neun plus, als sie es tatsächlich schaffte, die Klasse für eine Erzählung von Truman Capote zu begeistern. Da hieß die Hauptperson sogar . Erste Sahne.
Ja, und jetzt lässt sie die oberbescheuerte Referendarin alles vermasseln. Die ist so völlig neben der Spur, dass sie niemalsnicht mitkriegen würde, dass ihre Vorbereitungen bloßer Murks sind. Steht wahrscheinlich viel zu lange vor dem Spiegel, damit ihr perfektes Make-up stimmt, statt über Motivation und Stundenaufbau nachzudenken. Hat aber angeknabberte Fingernägel, was mich tatsächlich mal gerührt hat. Aber seit dieser völlig verkorksten Stunde nicht mehr. Und Frau Schütte lässt sie voll ins Messer laufen – ist das eine didaktische Maßnahme, wie es so schön heißt? Die Referendarin von Frau Schütte will wohl unbedingt ihre Prüfung vermasseln. Ich kenne nur einen in unserer Klasse, der sich wirklich für ihr Thema: (so oder so ähnliches Zeugs) interessiert, und das bin ich. Sie würde hinten rüberfallen, wenn sie wüsste, dass ich Sylvia Plath kenne und liebe, besonders die Zeilen mit den Sonnenwolken, die Schürzen haben, und mit dem Herz, das durch den Mantel blüht. Ja, und diese Sylvia Plath, die hat sich mit dreißig Jahren umgebracht, das hat Tante Greta mir erzählt. Na bitte, das sagt doch schon alles über Lyrik aus, das ist einfach ein schwerer Brocken.
Aber sie merkt’s einfach nicht. Irgendetwas will sie in unserer Klasse erzwingen. Alle nagen gerade an einem Gedicht von Paul Celan rum, das einsame Spitze ist, das ich voll kapiere, aber niemals erklären könnte. Alle nagen daran herum wie an einem blitzblanken Knochen, der auch nicht mal ein Fitzelchen von einer schmackhaften Fleischfaser bietet. Und sie kaut uns irgendwas vor, was sie wohl in einer Zahnlücke versteckt hat.
Aber dann! Dann kommt die Hausaufgabe: Wir sollen einen durchschneiden, ihn ansehen und anschließend beschreiben. Es soll Poesie werden. Das Wort «Poesie» kann in unserer Klasse schon keiner mehr hören, weil Poesie als Unterrichtsfach einfach grässlich ist und jede Poesie schon im Keim erstickt. Und wehe, wir haben eine andere Idee, was der sagen wollte, als unsere Lehrer! Oder die Reclam-Heftchen. Oder was in anderen schlauen Büchern so steht. Ob die Dichter sich manchmal in ihrem Grab umdrehen? Aber holla! Manche werden dort unten bestimmt dauerkreiseln. Und jetzt dieser
Die Klasse schweigt, ist total perplex. Alle fallen ins Koma.
Frau Schütte wagt ein hilfloses, aufmunterndes Lächeln. «Traut euch einfach!», sagt sie.
Und da trauen wir uns und prusten los, keiner wagt, den anderen anzusehen. , prusten wir, bis wir keine Luft mehr kriegen, so schüttelt es uns.
Später sitze ich in der Küche, Lady liegt neben den Rotkohlhälften auf dem Tisch und schweigt. Und ich begreife auf einmal, dass es tatsächlich Poesie ist, was ich da sehe, und ich meine nicht Lady, die ist sowieso das reinste Gedicht, nein, der aufgeschnittene Rotkohl mit seinen Wellenlinien aus reinem Weiß und tiefem Rot mit diesen Verdickungen und Zartheiten und diesen verschlungenen Aufundabs haut mich fast um. Ich werde zappelig, es ist fast nicht zu fassen, was ich dort sehe, ein geheimnisvolles Muster, eine Ich-weißnicht-was-für-Worte-ich-nehmen-soll-Schönheit, so überraschend, so fremd, und ich möchte schmerzhaft dringlich dafür die Worte haben, um diesen Zauber zu bannen, zu halten. Und mir kommen fast die Tränen vor Anstrengung und Wut und Verzweiflung, da es mir nicht gelingt. Wie auch! Ich müsste die Wörter ja ganz neu erfinden.
Alles, was ich habe, ist:
Rotkohl
Ich schneide
eine Wunde
mit meinem Messer
So schmerzhaft
So rot
Ich schneide
eine Wunde
in dein Geheimnis
So schmerzhaft
So weiß
Doch nicht das Messer
es sind meine Worte
die deiner Schönheit
den Todesstoß geben
Das ist nach tausend Versuchen alles, was mir bleibt, und es ist armselig und gibt noch nicht einmal eine Ahnung von dem wieder, was dort als Schönheit und Poesie vor mir auf dem Tisch liegt, höchstens ein bisschen, wie ich mich fühle. Was glaubt die blöde Kuh denn, was wir schaffen! Mit unseren Worten, die so cool sein wollen und so lässig. Und so traurig leer sind.
Mein Bleistift ist völlig zerkaut, unterm Tisch liegen die zerknüllten Zettel, Millionen. Und trotzdem hat sie recht. Der Rotkohl ist Poesie. Punkt. Und ich werde ihr diesen Rotkohl auf den Tisch knallen, darauf zeigen und schreien: «Da! Poesie! Das Sehen muss reichen. Das schaffen keine Worte. Unsere sowieso nicht.» Klar, dass das ’ne Fünf gibt.
Ich gebe auf und bin ganz leer vom vielen Suchen in mir und vom Schauen. Ich bin erschöpft und erledigt. Unbefriedigt, nennt man das wohl. So fühlt sich Versagen an, und es ist scheußlich.
Lady reckt sich und stößt mit ihren Pfoten die Rotkohlhälften um. Zwei dunkelrote bucklige Hügel liegen vor mir auf dem Tisch. Und die Poesie ist nichts weiter als das Innenleben eines blöden, blöden Kohlkopfs.
In der nächsten Deutschstunde fand eine ungeheuerliche Revolution in der Geschichte unserer Klasse statt: Niemand hatte ein Gedicht geschrieben. Alle weigerten sich, auch nur irgendeinen Versuch vorzulesen, und ich hielt meine misslungenen Wörter streng geheim.
Die Referendarin war fix und fertig, das würde wieder ein paar Millimeter Fingernägel kosten, und ich hatte einen Anflug von Mitleid mit ihr. Frau Schütte blinzelte völlig überrumpelt und nervös hinter ihrer Eulenbrille. Doch es gab keine Folgen. Für uns. Für die Referendarin wahrscheinlich schon.
In der Pause gratulierten wir uns aufgekratzt und großzügig. Wir priesen lauthals unser Recht, uns gegen Unterdrückung zu wehren. Und wir taten cool, obercool und sehr, sehr mächtig. Aber irgendetwas in uns allen war nicht so richtig froh. Selbst Nils, der immer die größte Klappe hat, meinte eine Spur zerknirscht, aber breit grinsend: «He, Leute, sind wir jetzt Revolutionäre oder böse, böse Terroristen? Muss man jetzt Angst vor uns haben …?»
Wir grinsten beklommen zurück.
Als ich mittags nach Hause wollte, schnappte mich Frau Schütte auf dem Flur. Ich hatte mal wieder getrödelt und war die Letzte. Na klasse, dachte ich, jetzt wollen sie uns einzeln weich klopfen.
Ich saß ihr im leeren Lehrerzimmer gegenüber, es roch nach verschmurgeltem Kaffee, verstaubter Luft, und unendlich viel Papier lag auf dem riesigen Tisch. Überhaupt, das Allerheiligste sah ziemlich chaotisch aus.
«Mirjam, hör zu», sagte Frau Schütte. Sie beugte sich dicht zu mir, ich konnte einen Hauch von Parfüm riechen. Und da gab es ein paar braune Flecken unter ihren Augen.
«Ich weiß», sagte sie, «das war eine schwere Aufgabe und zudem didaktisch in keiner Weise sinnvoll aufgebaut.»
, dachte ich. Und:
«Aber ich möchte dich was fragen, und glaube mir bitte, das hat jetzt nichts, rein gar nichts mit dem Unterricht zu tun, mit Zensuren oder mit der Verweigerung. Es ist einfach mein ganz persönliches Interesse, und du hast das Recht, dich nicht darauf einzulassen!»
Ich stutzte. Saßen wir jetzt etwa hier, in diesem heiligen Lehrerzimmer, wie in einem Café und plauderten wie Tante und Nichte? Sollte ich das wirklich so sehen? Ging das denn? Vorsichtshalber nickte ich erst mal und schwieg.
Frau Schütte wusste irgendwie nicht weiter. Sie drehte ein völlig verkrumpeltes Tempotuch zwischen ihren Fingern hin und her. «Also, hm, hm, ich will gerne von dir wissen, also jetzt nicht als Lehrerin , einfach so, als, als, ja, jedenfalls würde es mich sehr interessieren, ob du nicht doch was geschrieben hast. Und ich würde es gerne lesen …»
Ich sackte zusammen. Alles in allem mochte ich Frau Schütte. Sie war, wie gesagt, auf meiner Lehrerbewertungsliste immerhin ziemlich oben, und ich habe sofort gemerkt, wie sehr sie gute Sprache liebt. Aber ich konnte ihr unmöglich meinen misslungenen Versuch zeigen.
«Es war zu schwer», murmelte ich.
«Ja, ich weiß», sagte Frau Schütte. «Ich hätte es nicht geschafft. Niemals. Hast du es versucht?»
Ich nickte. «Ja», flüsterte ich. «Viele Male.»
Warum flüsterte ich auf einmal? Ein...




