Warum unser System in der Krise steckt - und was sich ändern muss, damit wir morgen besser leben -
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-641-05936-1
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
KAPITEL 6 Wirklichkeitsverluste: Wie wir unsere Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit und Authentizität stillen (S. 113-114)
Vielleicht sind Facebook & Co. auch nur die Verhinderung des Schlimmsten. Als es einige Leute in Großbritannien satthatten, zu Weihnachten immer die fragwürdigen Hits der frisch gekürten »Superstars« der Casting-Show X-Factor auf Platz eins der britischen Charts zu sehen, riefen sie zum Boykott auf: Sie schlossen sich zu einer Facebook-Gruppe zusammen.
Unter dem Motto »Fuck you, I won’t do what you tell me« riefen sie via Facebook dazu auf, den 17 Jahre alten Song »Killing the name« der amerikanischen Metal-Band Rage Against The Machine zu kaufen. Es wurde Weihnachten und auf Platz eins der britischen Charts landete mit mehr als 500 000 verkauften Singles Rage Against The Machine.
Platz zwei entfiel auf den frisch gekrönten »Superstar«-Prinzen, Joe McElderry, der mit seinem Song »The Climb« 50 000 Singles weniger verkaufte. Social Media können rasend schnell Menschen hinter einer Aktion versammeln, auch wenn die meisten von ihnen nicht einmal wissen, wogegen oder wofür sie sich gerade einsetzen. Auf eine Rage Against The Machine haben wir bislang in Deutschland vergeblich gewartet.
Das hängt damit zusammen, dass wir uns mit der Niveaulosigkeit des »Superstar«-Fernsehens abgefunden haben. Ein Land wird von seinen Medien verachtet. Das ist der Status quo des deutschen Fernsehens. Es gibt eine starke Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit im Umgang mit der Realität. Menschen, die Medien nutzen, suchen nach wie vor Orientierung und Aufklärung über das, was in unserer Welt der Fall ist. Sicherlich war es ein bisschen verkrampft, die Bild-Zeitung zu einem Klassenfeind und zur Gefahr für die Menschheit zu stilisieren.
Aber sie hat die Boulevardisierung der Medien ausgelöst, indem sie die Berichterstattung auf Skandalisierung und Alarmismus, Rufmordkampagnen und Populismus festgelegt hat. Aber wir schätzen auch Treue zur Realität in einer seriösen Reportage und in einem zu Ende recherchierten Seite-3-Artikel in der Tageszeitung. Die Sehnsucht der Menschen in unserer Medienkultur geht in diese Richtung: Mehr Realität statt Reality-TV. Das deutsche Fernsehen mit seinem System aus Privaten und Öffentlich-Rechtlichen ist konzeptionell tot.
Der jahrzehntelange Kampf zwischen den beiden Systemen hat die Öffentlich-Rechtlichen in die Selbstkommerzialisierung und Selbstvergreisung getrieben, während die Privaten mit inszenierten Tabubrüchen und Affektfernsehen weiterhin versuchen, Werbereichweite für die Werbekunden zu garantieren. Die Netzeuphoriker und Social-Media-Gemeinde werden leider nicht recht behalten. Wir würden uns um unsere Zukunft betrügen, wenn wir glaubten, dass das Internet demnächst das ideenlose Fernsehen ablöste und wir hernach alle als selbstbewusste Inhalte-Erzeuger in den Zustand der medialen Selbstverwirklichung einträten. Nach wie vor organisiert das Fernsehen das Leben der meisten Menschen.