E-Book, Deutsch, 436 Seiten
Wenzel Im Schatten der Rose
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7541-9510-9
Verlag: neobooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 436 Seiten
ISBN: 978-3-7541-9510-9
Verlag: neobooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Berlin im Sommer 1961. Der kalte Krieg tobt in der Stadt. Immer mehr Menschen nutzen das letzte Schlupfloch und verlassen die DDR über die noch offene Sektorengrenze. Die Staatssicherheit der DDR und Westberliner Organisationen führen einen erbitterten Kampf gegeneinander, während das DDR-Regime in Zusammenarbeit mit der sowjetischen Besatzungsmacht Maßnahmen einleitet, um den Flüchtlingsstrom zu beenden. Der bei der Westberliner Tageszeitung TELEGRAF und beim Radiosender RIAS arbeitende Journalist und Hobbysegler Curd Barlow kann sich in diesen turbulenten Tagen über Arbeit nicht beklagen. Es ist sein Thema, denn auch er hatte die DDR in einer aufwühlenden Zeit verlassen - am 17. Juni 1953. Bei einem Feierabendbier mit Kollegen in einer Schöneberger Kneipe lernt Barlow die Sekretärin Esther kennen und verliebt sich in die attraktive Frau. Nach ein paar gemeinsamen Wochenenden glaubt er fest an eine neue Beziehung, nachdem seine alte Partnerschaft ein halbes Jahr zuvor in die Brüche gegangen war. Barlows Privatleben scheint sich positiv zu entwickeln. Er kann den Kontakt zu seiner in Ostberlin lebenden Mutter, den er spontan aufgrund ihrer politischen Ansichten sowie ihrer Verbindung zu einem DDR-Parteifunktionär acht Jahre zuvor abgebrochen hatte und zunehmend bereute, wieder herstellen, seine Beziehung zu Esther gestaltet sich immer harmonischer und im Segelclub lernt er einen sympathischen Segelpartner für gemeinsame Törns kennen. Doch von einer Sekunde zur anderen wendet sich alles. Die sich immer mehr zuspitzende Situation in der Stadt wirkt sich auch auf sein persönliches Schicksal aus.
Geboren 1952 in Kiel Aufgewachsen in Bremen und 1972 nach Berlin gezogen, wo er als Musiker begann, studierte und später als Ingenieur und Dozent arbeitete
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Prolog
Moskau, Sowjetunion, Juni 1938
Richard Bertram schloss die Wohnungstür hinter sich und stellte seine braune Aktentasche auf die kleine Kommode im Flur. So wie er es immer tat, seit sie vor wenigen Wochen die neue Wohnung in der Sokolnitschenskaja-Straße bezogen hatten. Erschöpft von der zu dieser Jahreszeit ungewöhnlich drückenden Hitze des Tages, die selbst am Abend kaum zu ertragen war, ging er in die Küche und schenkte sich ein Glas Wasser ein. Es war spät geworden, wieder einmal. Die wöchentliche Versammlung nach dem Unterricht hatte sich wie schon in den Wochen zuvor quälend dahingezogen. Nicht enden wollende Diskussionsbeiträge im aufgeheizten Lehrerzimmer …und keine Lösungen. Erschöpft und missgestimmt hatten alle den Heimweg angetreten. Warum auch hätte es diesmal anders verlaufen sollen, als in den Versammlungen zuvor? Bertram trank ein weiteres Glas und stellte es ab. Dann befreite er sich von seinem Krawattenknoten, knöpfte den oberen Hemdknopf auf und ging ins Wohnzimmer. »Hallo Papa«, rief Walter und kam seinem Vater sofort entgegen. »Wir haben dich gar nicht kommen gehört.« Bertram nahm seinen elfjährigen Sohn in den Arm. »Guten Abend, mein Großer. Wie war dein Tag in der Schule?« »Gut. Wir haben heute wieder über die Oktoberrevolution und die großartigen Taten des Genossen Lenin gesprochen. Darüber werden wir auch bald eine Klassenarbeit schreiben.« Worüber auch sonst, dachte Bertram. »Na dann müssen wir vorher noch einmal darüber sprechen, hörst du. Du willst ja eine gute Note nach Hause bringen, oder?« Mit einem gütigen Lächeln legte er Walter die Hand auf die Schulter, dann wandte er sich seiner Frau zu. »Guten Abend, Liebling. Ist heute wieder etwas spät geworden. Tut mir leid.« Er nahm sie in den Arm und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Ja, Richard, ist ja in letzter Zeit sehr oft der Fall. Kannst ja nichts dafür. Du siehst müde aus. Ich mache dir dein Essen fertig.« »Lass mal Hilde, ich habe keinen Hunger.« Seine Frau sah ihn fragend an. Auch sie hatte registriert, dass ihr Mann immer später nach Hause kam, selbst wenn er keine Versammlungen hatte. Wortlos setzte sich Bertram in den Sessel und schloss die Augen. Ihm hatte der Unterricht für deutsche Emigranten an der Internationalen Lenin-Schule immer Spaß gemacht. Er war engagiert und bei den Schülern und seinen deutschsprachigen Kollegen beliebt. Man half sich gegenseitig, die Probleme im Exil zu meistern, trank auch gerne Mal ein Bier zusammen, und es gab auch Freundschaften untereinander. In den letzten Wochen jedoch hatte sich die Atmosphäre an der Schule kontinuierlich verschlechtert und allen war Grund bewusst. Seit Stalin vor über einem Jahr damit begonnen hatte, die Partei von ihren tatsächlichen oder vermeintlichen Feinden zu säubern, verschwanden erst wöchentlich, dann täglich Kollegen und wurden nie wieder gesehen. Schon bald bemerkten Bertram und seine Kollegen, dass es auch und besonders deutsche Emigranten betraf. KPDler der ersten Stunde, aufrechte Kommunisten, die vor dem Hitler-Regime nach Moskau geflüchtet waren und seit einiger Zeit von Stalin als Spione betrachtet wurden. Niemand konnte sich erklären, warum der NKWD, die sowjetische Geheimpolizei, plötzlich Jagd auf die deutschen Kommunisten machte. Dabei waren sie so gut aufgenommen worden, als sie kurz nach Weihnachten des vorletzten Jahres mit dem Zug in Moskau einge-troffen waren. Im Hotel Lux hatte man sie zusammen mit anderen Emigranten einquartiert. Das Hotel war eine Begegnungsstätte für viele Komintern-Kader wie Pieck, Ulbricht oder Dimitroff. Und als es dann in dem geräumigen Zimmer mit eigenem Bad doch etwas eng wurde, hatte man für sie eine geräumige Zweieinhalbzimmer-Wohnung mit Wannenbad und eigener Küche besorgt. Ihre Freude kannte keine Grenzen, alles schien gut zu laufen, zumal auch Walter sich immer besser eingewöhnt und ein paar Freunde gefunden hatte. »Du machst einen bedrückten Eindruck, Richard. Ist etwas?«, Mathilde Bertram war neben ihren Mann getreten und hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt. Bertram nickte. »Kommst du mal kurz in die Küche, Hilde«, sagte Bertram emotionslos und zu seinem Sohn gewandt: »Wir kommen gleich wieder, Walter. Lies‘ derweil noch ein wenig in deinem Buch.« »Mir ist da etwas passiert, Hilde«, begann Bertram, nachdem er die Küchentür zugezogen hatte. Seine Frau sah ihn erschrocken an. Diesen Gesichtsausdruck kannte sie von ihm nicht. »Ich habe mich heute im Unterricht bei einem Stalin-Zitat versprochen.« »Na und, das kann doch jedem passieren.« »Nein, nicht in der heutigen Zeit«, erwiderte Bertram, ging zum Wasserhahn und schenkte sich ein weiteres Glas Wasser ein. »Es hat sich einiges geändert.« Er trank das Wasser in einem Zug aus. »Aber was hast du denn gesagt? Ich meine…« »Ich habe ein Zitat falsch wiedergegeben. Als sich einige Schüler daraufhin ein Schmunzeln nicht verkneifen konnten und andere wie gelähmt dasaßen, wusste ich, dass etwas nicht stimmte.« Bertram machte eine Pause und sah zum Fenster hinaus. Nach fünf langen Sekunden des Schweigens wandte er sich wieder seiner Frau zu. »Das wird mit Sicherheit Konsequenzen haben.« »Was meinst du damit, Richard?« Mathilde setzte sich auf den Küchenstuhl, vor dem sie regungslos stand und ihn anstarrte. Bertram überging die Frage. »Ich habe das Zitat in der Klasse natürlich umgehend richtiggestellt. Trotzdem musste ich den Vorfall melden. Wahrscheinlich wissen sie schon davon.« »Aber was meinst du mit Konsequenzen? Kann das denn irgendwelche Folgen für dich nach sich ziehen? « Mathilde sah ihren Mann mit angsterfüllten Augen an. »Ich hatte dir doch von Hans Sterzel erzählt, dem netten Österreicher aus Graz. Erinnerst du dich?« »Ja, wir wollten uns mal treffen…« »Der wurde verhaftet.« Mathilde fuhr zusammen. »Wie bitte?« Ihr Gesicht wurde aschfahl. »Aber warum denn?« »Er hatte ein Buch von Georg Born besprechen wollen und bedauerlicherweise nicht bedacht, dass Born vor Kurzem bei Stalin in Ungnade gefallen war.« Bertram atmete tief durch. »Sterzel wird sich jetzt wohl in einem sibirischen Arbeitslager befinden.« »Das kann ich nicht glauben, Richard.« Mathilde schüttelte den Kopf. Sie erhob sich, trat an ihren Mann heran. Er spürte, wie ihre Hände zitterten, als sie seine Oberarme umfasste. »Es ist aber so. Der Wind hat sich gedreht. Stalin betrachtet die Emigranten aus Deutschland und Österreich immer mehr als Spione.« Er schaute mit trüben Augen an seiner Frau vorbei. »Aber wir stehen doch für den neuen Weg. Viele von uns haben doch schon beim Rotfrontkämpfer-Bund gegen die SA-Schergen gekämpft und bei den Nazis im Gefängnis gesessen.« »Ja Hilde, das scheint alles nicht mehr zu zählen. Ich hatte mir das auch etwas anders vorgestellt.« »Und was sollen wir tun? Nach Deutschland zurück? Zu den Nazis?« »Nein, da kämen wir vom Regen in die Traufe. Ich habe mir schon den ganz Tag lang Gedanken darüber gemacht, was wir machen können…ich weiß es ehrlicherweise nicht.« Mathilde zog ihren Mann zu sich heran und legte den Kopf an seine Schulter. Fast eine Minute lang verharrten sie in der Position, dann löste sich Bertram von ihr und verließ wortlos die Küche.
Walter wurde von dem Klopfen an der Wohnungstür aus dem Tiefschlaf geholt. Benommen knipste er das Licht seiner Nachttischlampe an und blinzelte auf die Uhr. Eine halbe Stunde nach Mitternacht. War das im Traum? Dann klopfte es ein weiteres Mal. Umständlich quälte er sich aus dem Bett und öffnete die Tür seines kleinen Zimmers einen Spalt weit. Auf dem schwach beleuchteten Flur sah er seinen Vater im Bademantel zur Wohnungstür gehen. Als er sie öffnete, starrte Richard Bertram drei Männern in Ledermänteln und Hüten ins Gesicht. Einer von Ihnen hielt ihm einen Ausweis entgegen. »NKWD! Richard Bertram?« »Ja?« »Sie sind verhaftet. Ziehen Sie sich an und packen Sie ein paar Sachen ein.« Walter erschrak. Er konnte die russische Sprache mittlerweile gut verstehen. Sie sind gekommen, um seinen Vater zu verhaften! Vorsichtig drückte er die Tür seines Zimmers wieder zu und verharrte hinter ihr. »Was ist denn los?«, hörte er die besorgte Stimme seiner Mutter, die ebenfalls auf den Flur getreten war. »Mach' dir keine Sorgen, Hilde, es wird alles gut werden.« Es klang, als wenn er nicht wirklich davon überzeugt war, was er gerade gesagt hatte. Walter schluckte. Was hatte das zu bedeuten? Warum holten sie seinen Vater ab? Er trat in den Flur. Die beiden im Flur stehenden der NKWD-Beamte beachteten ihn nicht. Der dritte war seinen Eltern ins Schlafzimmer gefolgt, wo sie Wäsche seines Vaters in eine Tasche packten. Als sein Vater angezogen wieder in den Flur zurückkehrte, trat Walter auf ihn zu. »Was ist denn los, Papa?« »Ich bin bald wieder da, mein Sohn. Mach dir keine Sorgen.« Bertram drückte Walter fest an sich und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. »Und schreib eine gute Note in der Klassenarbeit.« Er wandte sich seiner Frau zu, die in Tränen ausgebrochen war und umarmte sie intensiv. Dann nahm er wortlos seine Tasche und verließ, gefolgt von den NKWD-Beamten, die Wohnung. Benommen blieb Walter stehen. Die Stiefelschritte im Treppenhaus dröhnten in seinem Kopf. Kurz darauf sprang hörte er auf der Straße einen Motor anspringen und ein Auto, das sich entfernte. Erst jetzt registriert er, dass seine Mutter zu ihm gekommen war, und ihn fest an sich gedrückt hatte. »Was...