E-Book, Deutsch, 232 Seiten
Wenzel Auf eine Zigarre mit Eugen Wenzel
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-347-72870-7
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 232 Seiten
ISBN: 978-3-347-72870-7
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dieses Buch ist eine Einladung zu einem Dialog auf Augenhöhe, denn was ist ein Text anderes als ein Gespräch zwischen dem Autor und dem Leser?
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Variationen novelle Die kleinste Abweichung verändert den Lauf der gesamten Welt, variiert nach Belieben ihre vielfältigen Themen, gibt Lebensläufen ganz andere Wendungen. Wie lächerlich ist der Mensch, der da noch glaubt, der Herr seines Schicksals zu sein. In memoriam Karl Weber, meinen geliebten und verehrten Großvater und Freund I Mein Tod ereilte mich im traditionsreichen Karlsbad, wohin ich unmittelbar vor diesem einschneidenden Ereignis gereist war, um in Ruhe wieder etwas Nietzsche und Camus zu lesen, dem ganzen Wahnsinn der Welt ein Stück weit zu entfliehen und mich von dem einen oder anderen körperlichen und geistigen Rückschlag der letzten Jahre zu erholen. Untergekommen war ich aufgrund einer Reihe von unglaublichen Zufällen in dem berühmten Grandhotel Pupp, wo vor mir schon solche Notabilitäten wie Goethe und Schiller, Wagner und Chopin, Marx und Freud, Malkovich und De Niro, Peter der Große und Gagarin, Kafka und Gogol, Bach und Brahms, Travolta und Freeman u.v.a. gastiert und Daniel Craig und Gérard Depardieu sogar gedreht hatten. Einem jeden von ihnen ist jeweils eine von den kleinen Metallplaketten gewidmet, die zwischen den Pflastersteinen der kreisförmigen Auffahrt des Hotels in den Boden eigelassen sind. Manches Plättchen trägt noch keinen Namen und ist gänzlich leer, was mich eines Abends im Anschluss an einen ausgedehnten und gedankenreichen Spaziergang dazu veranlasste, mit verneigtem Haupt mehrmals im Kreise zu gehen und wehmütig der Frage nachzuhängen, ob eines Tages vielleicht auch mein Name eine dieser Plaketten zieren würde, über die tagtäglich unzählige Mercedesse, Bugattis und andere Luxuskarossen rollen, mit Menschen darin, von denen viele die Namen derer, die sie überrollen, höchstens als nettes Schmuckwerk zu schätzen wissen. Muss es einen da noch wundern, dass sie ihrerseits niemandem im Gedächtnis bleiben? Verfliegt die Erinnerung an solche Zeitgenossen nicht ebenso schnell wie der Geruch ihrer teuren Parfüms, und wird sich nicht die Welt zu allen Zeiten an einen Bizet, Picasso oder Schostakowitsch erinnern, jedoch kaum an einen selbstgefälligen Millionär? Wie hat es doch Heine einmal zu seinem steinreichen Oheim gesagt: Onkel, das Beste an dir ist mein Name. Viele wohlhabende Menschen vergessen zu schnell, dass selbst eine Putzfrau sich alle zehn Jahre ohne große finanzielle Schwierigkeiten einen anständigen neuen Mercedes muss leisten können. Doch sie kann es nicht, sie kann es sich nicht einmal leisten, regelmäßig in den billigsten Billigurlaub zu fahren und ihren Kindern halbwegs normale Zukunftsperspektiven zu bieten. Der Grund bleibt immer derselbe: Weil ansonsten diejenigen, die sie tagein tagaus bedient, es sich nicht mehr in einem solchen Ausmaße leisten könnten, bedient zu werden, wie es heutzutage geschieht. Und dabei trägt so mancher von ihnen sogar ein Kreuz, natürlich aus Gold, aber kaum einer von ihnen hat jemals ernsthaft über die Worte Christi nachgedacht, dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe als ein Reicher ins Paradies gelange, denn nichts in dieser Welt lässt sich so leicht rechtfertigen wie der Egoismus. Daher redete ich nicht mit ihnen, sondern beobachtete sie nur, ging viel durch die Stadt und die freie Natur spazieren, las meine Bücher und ließ meine Gedanken schweifen. Aus demselben Grunde will ich auch nicht über sie schreiben, über diese Möchtegern-Aristokraten, die entweder auf ihr Geld oder auf ihre Abstammung oder auf beides stolz sind, wenn sie beides haben. Wann werden sie endlich begreifen, dass echte Aristokratie nichts mit Geld und noch weniger mit Blut zu tun hat, sondern allein mit dem Großmut des Herzens, der Bescheidenheit des Charakters und dem Weitblick des Verstandes? Einen einzigen Hotelgast hatte ich »getroffen«, der tatsächlich interessant war, und von diesem will ich jetzt erzählen. II Zum ersten Mal begegneten wir uns, als ich eines Abends im Foyer saß und wie immer las. Vertieft in meine Lektüre, merkte ich nicht, wie er hereinkam, in einigem Abstand in einem geräumigen Sessel Platz nahm und zu rauchen anfing. Es beschäftigte mich der faszinierende Gedanke Nietzsches, dass allein das Leiden und der Zwang den Menschen über sich hinauswachsen lassen und alles Bemerkenswerte, die tiefe Erkenntnis und das wirklich Große in dieser Welt, sich einzig ihnen zu verdanken haben. Haben nicht beispielsweise die Dichter, so Nietzsche, es im Sprachlichen nur deswegen zur Stärke und Freiheit gebracht, weil sie sich immer wieder dem metrischen Zwang und der Tyrannei von Reim und Rhythmus unterworfen haben? Oder gründet nicht z.B. die übermenschliche Größe Christi, so war mein eigener weiterführender Einfall, einzig und allein in seiner Passion? Auf jeden Fall ist es deswegen aus der Perspektive Nietzsches völliger Schwachsinn, das Leiden abschaffen zu wollen. Es zu beseitigen würde bedeuten, sich der Möglichkeit auf echte Entwicklung zu berauben. Als mich dieser Gedankenansatz irgendwann endlich losgelassen und ich mit einem etwas verlorenen Blick aufgeschaut hatte, bemerkte ich sogleich den rauchenden Mann in dem gegenüber stehenden Sessel. Mit etwas Phantasie hätte man sofort sagen können, dass er mir recht ähnlich sah, bloß um einige Jahre älter, müder und verbrauchter. Der Verfall war jedoch noch nicht so weit vorangeschritten, dass man seine frühere Fitness gar nicht mehr hätte erahnen können. Er musste in seiner Blütezeit eine stattliche Gestalt gewesen sein und viel Ausstrahlung und Charme besessen haben. Jetzt hatte er stattdessen schütter werdendes Haar, allmählich einfallende Schultern und einen deutlich sichtbaren Bauchansatz, der ihm und interessanterweise auch mir am meisten an seinem Erscheinungsbild zu missfallen schien. Während ich ihn so betrachtete, begegneten sich unsere Blicke. Seine Augen wirkten auf mich im höchsten Maße beunruhigend, denn sie waren gebrochen. Ich schaute in sie hinein, als blickte ich in das Nichts, und wäre wohl noch länger darin versunken, wenn er nicht kurz genickt und ich automatisch zurückgenickt hätte. Just in diesem Moment kamen seine Frau und seine drei Kinder aus dem Speisesaal und machten sich mit Gesten und Worten bemerkbar, woraufhin sich der Mann müde erhob, im Aufstehen seine Zigarette im Aschenbecher ausdrückte, mir erneut zunickte und langsam seiner Familie zum Aufzug folgte. In den darauffolgenden Tagen begegneten sich unsere Blicke immer wieder und jedes Mal blickte ich in eine endlose Leere, die mich anzog und zugleich auch abstieß. Wir traten nie in Kontakt zueinander und es blieb stets beim höflichen Hin-und-her-Nicken, was alles zusammen mein Interesse an diesem Menschen nur steigerte. Mich faszinierte das Nichts in seinen Augen und obwohl ich nichts von ihm wusste, fühlte ich mich ihm irgendwie geistig verwandt, über Raum und Zeit hinweg mit ihm verbunden und gleichzeitig durch eine endlose Kluft von ihm getrennt. Da ich von Natur aus sehr kontaktscheu bin und weil er es wahrscheinlich ebenfalls war, änderte auch folgendes Ereignis vom Morgen des Gründonnerstags nichts an der Situation. Ich saß gerade am Frühstückstisch und war beim Nachdenken über das Sein und das Nichts auf einige Gedanken gekommen, die ich für wert hielt, festgehalten zu werden. Ich holte mein Notizheftchen hervor, das ich stets bei mir führe, und fing damit an, mir Notizen zu machen. Das Schreiben vereinnahmte mich dermaßen, dass ich die Veränderungen um mich herum nicht wirklich wahrnahm. Meine Umwelt fing erst wieder an zu existieren, als ein paar Kinder, die sich, während ich geschrieben hatte, zwei Tische weiter und von mir gänzlich unbemerkt hingesetzt hatten, unerträglich laut wurden und mich dadurch gewaltsam von meinen Gedanken fortrissen. Wie kann ein Mann Großes leisten, wenn er Kinder zu Gegnern hat, musste ich mich plötzlich selbst fragen. Die Ablenkung brachte mich dazu zu erkennen, dass die zwei Jungen und das Mädchen zu dem Mann gehörten, der mich auf meine Gedanken überhaupt erst gebracht hatte und der, inmitten von seinem Nachwuchs sitzend, von ihm ähnlich gestresst zu sein schien wie ich, obwohl er sie und seine Frau offensichtlich liebte. Letztere versuchte sie nicht zu beruhigen, denn ihre gesamte Aufmerksamkeit galt vollkommen unerwartet meiner Person. In dem Augenblick, als sie erkannte, dass ich nicht mehr in meine Arbeit vertieft war, stand sie über alle Maßen erfreut und ruckartig auf, kam direkt auf mich zu und versuchte mich in gebrochenem Englisch zu fragen, ob ich zufällig an einem Buch über das Hotel arbeiten würde. Da ich inzwischen wusste, woher sie kamen, antwortete ich in ihrer Sprache, dass dem nicht so sei und ich mir lediglich ein paar Gedanken notierte. Offenbar enttäuscht über meine Antwort, gleichzeitig aber auch froh darüber, ihre eigene Sprache zu hören und sich nicht mehr mit einer fremden abmühen zu müssen, bedankte sie sich bei mir, wünschte mir einen angenehmen Tag, wandte...